Lehrkräftemangel in NRW: Schulen am Limit
Lehrkräftemangel in NRW
In ganz NRW fehlen Lehrer*innen und Sonderpädagog*innen, Stellen können nicht besetzt werden und laufen leer. Den teils massiven Lehrkräftemangel, vor allem an Grund- und Förderschulen und den Schulen der Sekundarstufe I, hat die GEW NRW schon oftmals angeprangert. Wir haben mit zwei Personalrätinnen aus Bottrop und dem Kreis Coesfeld über die aktuelle Situation und Ursachen gesprochen.
„Nach den Sommerferien hat die Situation sich weiter verschlechtert“, sagt Grundschullehrerin Heike Murglat, die seit zehn Jahren an der Grundschule Welheim in Bottrop unterrichtet. Seit einem Jahr ist sie Vorsitzende des örtlichen Personalrats und im Bezirkspersonalrat aktiv. An der Grundschule Welheim fehlen zum neuen Schuljahr eine volle Lehrkraft und etwas mehr als eine volle Sonderpädagog*innen-Stelle. „Letztendlich wird das mit der Einstellung zweier Seiteneinsteiger*innen verschleiert. Aber ohne sie wäre die Unterrichtssituation gar nicht mehr aufrechtzuerhalten“, so Heike Murglat. „Im letzten Jahr hat sich auf zwei Ausschreibungen keine grundständig ausgebildete Lehrkraft beworben. Die Schulen sind genötigt, die originären Stellen für Grundschullehramt schon bei der Ausschreibung für Seiteneinsteiger*innen zu öffnen.“
Simone Flissikowski unterrichtet an der Paul-Gerhardt-Grundschule in Dülmen und engagiert sich seit neun Jahren im örtlichen Personalrat und seit einem Jahr im Bezirkspersonalrat. „An unserer Schule ist die Situation noch vergleichsweise gut, obwohl wir auch den Minimalplan fahren: Förderunterricht, Kleingruppenarbeit und Doppelbesetzung gibt es ab diesem Schuljahr nicht mehr.“ Trotzdem werden aus dem Kreis Coesfeld elf Kolleg*innen nach Gelsenkirchen abgeordnet, zehn davon unfreiwillig. Alle Sonderpädagog*innen der Schule helfen mittlerweile in anderen Einrichtungen aus. Die Stelle der Konrektorin ist zwar besetzt, aber sie leitet kommissarisch eine Nachbarschule mit, wo sowohl Rektor*in als auch Konrektor*in fehlen. Die Schulleiterin und das Kollegium haben dadurch eine Menge mehr Arbeit. „Wir haben zu spät die Reißleine gezogen“, räumt Simone Flissikowski ein. „Über Jahre haben wir uns immer mehr draufpacken lassen und uns nicht gewehrt.“
Die Suche nach den Ursachen
Die Landesregierung hat große Fehler bei der Berechnung der Schüler*innen- und Lehrer*innenzahlen gemacht. Geburtenquoten und Pensionsberechtigungen wurden gar nicht oder fehlerhaft erhoben, schlimmstenfalls ignoriert. Die große Zahl der zugewanderten Schüler*innen verschlimmerte die Lage zusätzlich. Ein weit größeres Problem sind die fehlenden Studienplätze und die noch immer existierenden Zulassungsbeschränkungen an einigen Universitäten. „Natürlich wollen wir qualifiziertes Personal. Aber bevor wir fachfremd einstellen, sollten wir die Studierenden während des Studiums fit machen“, so Heike Murglat.
Seit der Einführung des Bachelor- und Mastersystems beträgt die Studienzeit aller Lehramtsstudierenden zehn Semester, doch das Grundschullehramt wird nach wie vor am niedrigsten besoldet. „Studierende orientieren sich nach dem Bachelorabschluss kurzfristig um, weil sie merken, dass die Arbeitsbedingungen in der Grundschule katastrophal sind“, sagt Heike Murglat. Die geforderte Besoldung nach A 13 Z wurde bis jetzt nicht umgesetzt, die GEW NRW beschreitet nun den Rechtsweg. „Die Landesregierung hat es meiner Ansicht nach versäumt, bessere Rahmenbedingungen für junge Lehrkräfte zu schaffen, um sie an die Schulen zu binden“, macht Heike Murglat deutlich. Die Startbedingungen für Kolleg*innen in NRW sind viel ungünstiger als in anderen Bundesländern: Dort werden sie besser bezahlt und schneller verbeamtet.
Die Grundschulen in NRW stemmen rund 50 Prozent der Inklusion, ohne vorab die dafür nötigen Ressourcen erhalten zu haben – sowohl räumlich, als auch rechtlich und personell. Das hat zu einer extremen Arbeitsverdichtung geführt und die kommt mit dem Lehrkräftemangel verstärkt zum Tragen. „Auch die geringe gesellschaftliche Anerkennung des Berufs schmälert seine Attraktivität“, so Simone Flissikowski. „Täglich erleben Kolleg*innen fehlenden Respekt von Kindern und Eltern, die uns zu verstehen geben, dass alle, die selbst Kinder haben oder in der Grundschule waren, Expert*innen für Grundschulpädagogik sind.“
Hanebüchen ist ebenfalls die Situation im Kreis Coesfeld: Die Bezirksregierung hat an alle Stellenausschreibungen eine Klausel gebunden, die Bewerber*innen verpflichtet, zunächst zwei Jahre in Gelsenkirchen zu unterrichten. „Das heißt, wenn wir Kolleg*innen schulscharf eingestellt haben, sehen wir die erst mal zwei Jahre nicht“, sagt Simone Flissikowski. Die Bewerber*innen wollen das nicht und nehmen eher eine zweijährige Vertretungsstelle in Kauf, bis im Kreis Coesfeld eine feste Stelle frei ist. „Gegen ihren erklärten Willen werden Kolleg*innen zwangsabgeordnet und an die gleiche Schule werden neue Kolleg*innen über das Listenverfahren zugewiesen. Das ist für Eltern, Kinder und Kolleg*innen nicht nachvollziehbar“, so Simone Flissikowski. „Als Personalrätin verstehe ich das, weil uns die Bewerber*innen sonst verloren gehen. Aber es ist nicht einsichtig, warum über sechzigjährige Kolleg*innen mit Familie, gesundheitlichen Problemen und einem festen beruflichen Setting, mit teilweise vier Stunden Fahrzeit pro Tag abgeordnet werden, wenn es junge Kolleg*innen gibt, die das besser stemmen könnten.“
„Nun sollen Seiteneinsteiger*innen Löcher stopfen, die eine falsche Schul- und Sparpolitik geschaffen hat“, betont Heike Murglat. Die Seiteneinsteiger*innen bekommen zwar eine festgeschriebene pädagogische Einführung, diese deckt sich aber nicht immer mit dem tatsächlichen Arbeitsbeginn. „Die Belastung durch nicht grundständig ausgebildetes Personal ist im Regelfall enorm“, sagt Heike Murglat. Sie müssen in Abläufe eingewiesen werden, die Kinder müssen ihnen übergeben und Leistungsstände übermittelt werden. Ganz zu schweigen vom Umgang mit schwierigen Schüler*innen und deren Eltern. Das bedeutet für die Kolleg*innen, sich nach dem Unterricht zusammenzusetzen, abends zu telefonieren und am Wochenende Unterrichtsvorbereitung zu leisten.
Zeit ist ein knappes Gut
Zeit ist zentraler Faktor an Grundschulen: Die Wochenstundenverpflichtung muss dringend abgesenkt werden, um Besprechungszeiten zu generieren. Um Elterngespräche und Gespräche mit Therapeut*innen führen zu können und Zeit für Konzeptentwicklung im Team zu haben. Die Arbeit in festen, multiprofessionellen Teams ist unumgänglich, vor allem an Inklusions- und Schwerpunktschulen. „Die zuständige Regionale Schulpsychologische Beratungsstelle ist mit vier Mitarbeiter*innen für 80 Schulen zuständig. Wir warten teilweise monatelang auf einen Termin“, so Simone Flissikowski.
Gleiches gilt für die Arbeit der Sonderpädagog*innen: Sonderpädagogische Arbeit ist Beziehungsarbeit, besonders mit Kindern, die im emotionalen und sozialen Bereich Probleme haben. Bei zwei Wochenstunden Präsenz ist das schlichtweg nicht möglich. Heike Murglat hat vor ihrer Lehrtätigkeit als Krankenschwester auf der Intensivstation gearbeitet und da galt: Hoher Pflegeaufwand gleich anderer Betreuungsschlüssel gleich höhere Bezahlung des Pflegepersonals. „Ich fände es nur fair und gerecht, wenn das im Schuldienst auch gelten würde.“
„So sind wir nicht, wir Grundschullehrer*innen“
„Bei Grundschullehrkräften läuft sehr viel über Altruismus“, sagt Heike Murglat. Die meisten Kolleg*innen sind bereit, sich über die Maßen zu verausgaben, um die Kinder nicht hängen zu lassen. „Die können sich oft nicht mehr gegen die Belastung wehren und resignieren“, bestärkt Simone Flissikowski. Die Lösungsvorschläge der Bezirksregierung werden immer kontraproduktiver: Teilzeitanträge oder Sabbatjahre werden nicht mehr genehmigt. Einige Kolleg*innen in Köln mussten sich amtsärztlich untersuchen lassen und wurden daraufhin teildienst- oder dienstunfähig geschrieben. Damit gehen sie dem System völlig verloren.
Im Kreis Coesfeld rekrutiert man jetzt hoch motivierte Pensionär*innen, von deren Erfahrung zwar alle profitieren, die aber auf Dauer ihren verdienten Ruhestand genießen sollten. „Unser oberstes Ziel muss sein, dass alle Lehrämter gleich bezahlt und mit A 13 Z besoldet werden“, macht Simone Flissikowski deutlich. Nur so kann eine gerechte Verteilung der Anwärter*innen gewährleistet werden. „Und es wäre ein erster Schritt, um die Wertschätzung dieses Berufes wieder zu steigern“, sagt Heike Murglat. „Wir hoffen, dass sich bei unseren Dienstherren herumspricht, dass wir deutlich mehr leisten als das Lehrkräfte noch vor 30 oder 40 Jahren getan haben.“
Roma Hering
freie Journalistin
Fotos: Fotolia / sommersby, Nordreisender / photocase.de
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