Sieben Jahre Schulkonsens – eine Zwischenbilanz
Schulstruktur in NRW
Die Verbundschule lässt grüßen: CDU und FDP wollen Hauptschulbildungsgänge an Realschulen. Ein Vorstoß, der einmal mehr zeigt, dass der Schulkonsens keineswegs bis zu seinem Auslaufen 2023 für Ruhe an der Schulfront sorgt. Höchste Zeit, jetzt über die Weiterentwicklung der Schulstruktur in NRW zu reden! Höchste Zeit, zu fragen: Was hat der Konsens gebracht und was kommt danach?
Die Entwicklung in den ersten Jahren nach Abschluss des Schulkonsenses schien seinen Befürworter*innen zunächst Recht zu geben: Die neu eingeführte Sekundarschule boomte. Durch die Errichtung von insgesamt 116 Sekundarschulen vor allem in kleinen und mittelgroßen Kommunen und 109 neuen Gesamtschulen konnte das Angebot weiterführender Schulen in der Fläche nachhaltig gesichert werden. Mehr noch: Auch viele größere Städte nutzten die neuen Möglichkeiten, um ihre Schullandschaft teilweise neu auszurichten und das Angebot an Schulen des längeren gemeinsamen Lernens entsprechend dem Elternwillen deutlich aufzustocken, auch durch die Errichtung neuer Gesamtschulen.
Kehrseite der Medaille war allerdings, dass der Schulkonsens auch das gegliederte Schulwesen politisch absicherte. Zwar wurde die Hauptschulgarantie ersatzlos aus der Landesverfassung gestrichen, gleichzeitig aber der Satz eingefügt: „Das Land gewährleistet in allen Landesteilen ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Bildungs- und Schulwesen, das ein gegliedertes Schulsystem, integrierte Schulformen sowie weitere andere Schulformen umfasst.“
Damit wurde die Parallelität von gegliederter und integrierter Schulstruktur in NRW zumindest bis zum Ende der Laufzeit des Schulkonsenses 2023 in der Landesverfassung festgeschrieben. Eben diese Parallelität zweier unterschiedlicher Schulsysteme ist bis heute eine der Hauptursachen für viele ungelöste Probleme nicht nur bei der Wahl der weiterführenden Schule, sondern auch bei der Bestandssicherung von Schulen und vor allem bei der nach wie vor praktizierten Abschulung aus den Schulformen des gegliederten Systems in die integrierten Schulformen.
Entscheidungen über Schulstruktur werden auf die Kommunen abgewälzt
Unzweifelhaft ermöglichte der Schulkonsens durch die Errichtung von Sekundar- und / oder Gesamtschulen bei gleichzeitiger Aufgabe von Haupt- und Realschulen vielen kleineren und mittelgroßen Kommunen, akut gefährdete Standorte weiterführender Schulen abzusichern. Damit wurde ein erklärtes Ziel des Schulkonsenses weitgehend erreicht, nämlich „die Sicherung eines wohnortnahen und qualitativ hochwertigen Schulangebots in Nordrhein-Westfalen als großem Flächenland mit einem deutlichen Stadt-Land-Gefälle“.
Ebenso klar ist aber: Durch das im Schulkonsens vereinbarte Grundprinzip, demzufolge von Landesseite keine Schulform abgeschafft wird, wird die Entscheidung über die örtliche Schulstruktur auf die einzelnen Kommunen verlagert. In ländlich geprägten Flächenkommunen konnten sich Sekundarschulen häufig nur dann erfolgreich etablieren, wenn neben Hauptschulen auch Realschulen einbezogen wurden. Dies gelang häufig jedoch nicht – entweder, weil der Ratsmehrheit der Mut zu klaren Entscheidungen fehlte oder weil es interessierten Elterngruppen gelang, Schulschließungen zu verhindern. Dabei kam ihnen entgegen, dass Realschulen auch zweizügig weitergeführt werden können, während Sekundarschulen im Regelfall mindestens dreizügig sein müssen. In Großstädten wie Köln zeigte sich dagegen, dass es für die neue Schulform Sekundarschule so gut wie keinen Bedarf gibt. Wenn nämlich Eltern die Wahl haben, sehen sie in der Gesamtschule mit eigener Oberstufe die geeignetere Alternative zum gegliederten Schulwesen.
Schulkampf vor Ort und zersplitterte Schullandschaft
Auch zeigte sich, dass mittelgroße Kommunen, die neben Gymnasien und Gesamtschulen auch noch über eine oder mehrere Realschulen verfügen, nach Schließung der letzten Hauptschule am Ort oft unter starken Druck geraten. Die Errichtung einer Sekundarschule stößt vielfach auf den erbitterten Widerstand von Eltern, die unbedingt an der aus ihrer Sicht bewährten Schulform Realschule festhalten wollen. Und die Gründung einer Gesamtschule mit eigener Oberstufe wird von den Gymnasien aus Konkurrenzgründen vielfach massiv bekämpft. In einer solchen Konstellation ist der Schulkampf vor Ort vorprogrammiert. Und wenn es dann doch noch zu einer Einigung kommt, kann es passieren, dass die Schulaufsicht interveniert.
So geschehen in Emsdetten im Münsterland: Dort scheiterte die von der Kommune angestrebte Neuerrichtung einer Gesamtschule vor dem Verwaltungsgericht, weil die Bezirksregierung Münster die mögliche Bestandsgefährdung bereits bestehender Gesamtschulen in zwei Nachbarkommunen geltend machen konnte. Sinnvolle Schulentwicklungsplanung sieht anders aus, aber so ist die derzeitige Rechtslage.
Zieht man nach sieben Jahren Schulkonsens eine erste Bilanz, kann man feststellen: Ganz sicher hat er zur Stabilisierung des Angebots weiterführender Schulen in der Fläche einen wesentlichen Beitrag geleistet – wenn auch um den Preis einer zunehmenden Zersplitterung der Schullandschaft. Mit dem erweiterten Angebot von nunmehr fünf weiterführenden Schulformen wird zumindest auf dem Papier ein vielfältiges öffentliches Schulwesen garantiert. Faktisch können Eltern jedoch nur in Großstädten und Ballungsräumen zwischen (fast) allen Schulformen wählen. Im ländlichen Raum reduziert sich das Schulangebot je nach politischer Ratsmehrheit oder Erreichbarkeit meist auf Gymnasien und Realschulen sowie entweder Gesamt- oder Sekundarschulen. Nicht selten stehen diese in einem harten Konkurrenzkampf. Ob wirklich alle neu gegründeten Schulen überleben, bleibt also offen.
Längeres gemeinsames Lernen braucht mehr als eine Schulform
Die Schulstruktur ist aber nur eine Seite der Medaille. Strukturen können durch politische Beschlüsse relativ schnell verändert werden, längeres gemeinsames Lernen ist aber wesentlich mehr als nur eine Änderung von Schulformen. Anders ausgedrückt: Die integrierte Schulform ist sicher eine notwendige Voraussetzung für das längere gemeinsame Lernen, aber keine hinreichende.
Was das konkret bedeutet, zeigt die Entwicklung der Schulen des längeren gemeinsamen Lernens in den Jahren seit der Vereinbarung des Schulkonsenses: Die Zahl der Sekundar- und Gesamtschulen vergrößerte sich in einem rasan-ten Tempo. Innerhalb von nur fünf Jahren wurden landesweit 100 Sekundarschulen mehr und fast genauso viele neue Gesamtschulen errichtet. Es kam praktisch zu einer Verdopplung der Schulen des längeren gemeinsamen Lernens. Gleichzeitig wurden ein Großteil der Hauptschulen und viele Realschulen auslaufend gestellt. Eine derartig umfassende schulstrukturelle Umwälzung in so kurzer Zeit gab es in der Geschichte Nordrhein-Westfalens bisher noch nie.
Aber hat sich damit auch der Unterricht in diesen Schulen verändert? Schulpraktiker*innen wissen, dass dies ein langer Prozess ist, der sich über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, hinzieht. Lehrkräfte, die bisher an Haupt- oder Realschulen unterrichtet haben, ändern ihre Unterrichtspraxis in einer Sekundar- oder Gesamtschule eben nicht einfach von heute auf morgen. Sie benötigen dafür Zeit – viel Zeit. Und sie benötigen Unterstützung, zum Beispiel in Form von Fortbildung, Beratung, Begleitung, aber auch eine gute Sachausstattung mit Unterrichtsräumen und geeignetem Unterrichtsmaterial. Wer Schule von innen kennt, weiß: Das alles reicht noch lange nicht aus.
Unterricht in einer Ganztagsschule des integrierten Systems ist etwas anderes als Unterricht in einer Halbtagsschule des gegliederten Systems. Nicht nur die Arbeitsbedingungen und die Formen der Zusammenarbeit im Kollegium ändern sich, auch an die Leitung einer Ganztagsschule werden andere Anforderungen gestellt. So ist beispielsweise eine deutlich intensivere Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen erforderlich.
Wenn längeres gemeinsames Lernen als Wesensmerkmal der integriert arbeitenden Schulformen Gesamt- und Sekundarschule ernst genommen wird, muss sich letztlich auch die Einstellung der Lehrkräfte zum Kind und zum Jugendlichen grundlegend ändern. Basis des längeren gemeinsamen Lernens ist die Erkenntnis, dass eine frühe Selektion in unterschiedliche Leistungsgruppen, wie sie im gegliederten Schulsystem bereits nach der vierten Klasse erfolgt, weder gerecht noch der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen förderlich ist. In der Konsequenz bedeutet das für die integrierten Schulformen: Alle Schüler*innen, die eine Schule aufgenommen hat, werden dort mindestens bis zum Ende der Schulpflicht unterrichtet. Die Schule übernimmt damit die Verantwortung für den erfolgreichen ersten Bildungsabschluss aller Schüler*innen – unabhängig davon, aus welchem sozialen Umfeld sie kommen und welche schulischen Leistungen sie erbringen. Leistungsdifferenzierung findet natürlich auch in Sekundar- und Gesamtschulen statt, aber immer innerhalb der Schule; sie macht also keinen Schulformwechsel erforderlich.
Integriert und gegliedert zugleich – das Dilemma des Schulkonsenses
Das durch den Schulkonsens festgeschriebene und aus rechtlicher Sicht „gleichberechtigte“ Nebeneinander von Schulen des gegliederten Schulwesens und integriert arbeitenden Schulen führt zwangsläufig in ein Dilemma. Denn Gymnasien und Realschulen sollen ihre Schüler*innen zu einem ganz bestimmten Schulabschluss führen – zum Abitur oder zur Mittleren Reife. Also schulen sie im Zweifel per Konferenzbeschluss diejenigen Schüler*innen ab, die nicht die für den angestrebten Abschluss geforderte Lernleistung erbringen. Gibt es im Umfeld keine Real- oder Hauptschule mehr, die diese abgeschulten Kinder und Jugendlichen aufnehmen kann, sind die integrierten Schulformen letztlich zur Aufnahme verpflichtet – sie werden damit also faktisch Teil des gegliederten Schulwesens.
Interessanterweise hat sich diese Problematik durch die Zunahme von Sekundar- und Gesamtschulen und den Rückgang der Haupt- und Realschulen sogar noch verschärft, was schlicht daran liegt, dass es in immer mehr Regionen keine oder fast keine Haupt- und Realschulen in erreichbarer Nähe mehr gibt. Insbesondere für die Sekundarschule ist diese Entwicklung sehr gefährlich: Sie bekommt allein schon aus diesem Grund bei den Eltern sehr schnell den Ruf einer „Restschule“, die im Zweifel auch die an den Gymnasien und Realschulen gescheiterten Schüler*innen aufnehmen muss. Die Sekundarschule erleidet so das gleiche Schicksal wie die Hauptschule – niemand will sie wirklich haben.
Nicht länger warten! Wege zu einem zukunftsfähigen Schulkonsens
Eine Lösung dieser Problematik, die sich aus dem Nebeneinander zweier unterschiedlicher Schulsysteme ergibt, ist derzeit nicht in Sicht. Mögliche Ansätze könnten sein:
- ein genereller Verzicht auf Abschulung an allen Schulformen, sodass Schüler*innen auch an Gymnasien und Realschulen zu allen Schulabschlüssen nach Klasse 10 geführt werden
- eine Abschulung nur innerhalb des gegliederten Systems; wenn keine alternative Schulform erreichbar ist, verbleiben betroffene Schüler*innen bis zum Ende der Pflichtschulzeit an der jeweiligen Schule
- die schrittweise Überführung aller Haupt- und Realschulen in Sekundarschulen bei gleichzeitiger Anbindung an eine weiterführende Schule mit eigener Oberstufe oder ein schulformunabhängiges Oberstufenzentrum
Wie realistisch solche Lösungsansätze mit Blick auf die aktuelle Landesregierung sind, mag jede*r für sich beurteilen. Es ist aber jetzt höchste Zeit, eine Weiterentwicklung des Schulkonsenses in Angriff zu nehmen. Damit bis zum Verfallsdatum 2023 zu warten, wäre fahrlässig.
Rainer Michaelis
Ministerialrat a. D. – bis 2017 als Referatsleiter im Schulministerium zuständig für Gesamt- und Sekundarschulen
Foto: iStock.com / teddybearpicnic, shironosov
Rückblick: Schulkonsens von 2011
Kernpunkt des Schulpolitischen Konsens für NRW, den die Parteien CDU, SPD und GRÜNE am 19. Juli 2011 beschlossen, war die Einführung der Sekundarschule.
Wichtig für die damalige rot-grüne Minderheitsregierung war vor allem die Garantie, dass der ein Jahr zuvor gestartete Schulversuch „Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ trotz des Verbots der Weiterführung durch ein Verwaltungsgericht nunmehr als Regelschule fortgesetzt werden konnte. Die CDU konnte ihrerseits durchsetzen, dass die neue Schulform Sekundarschule – anders als die Gemeinschaftsschule – keine eigene Oberstufe bekam und somit keine Konkurrenz für Gymnasien darstellte.
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Vereinbarung gab es in fachpolitischen Kreisen eine kontroverse Diskussion. Kritiker*innen bemängelten, CDU, SPD und GRÜNE hätten sich im Schulkonsens lediglich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen können. Letztlich werde die Sekundarschule immer eine Schule zweiter Wahl bleiben, da sie nicht über eine eigene Oberstufe verfüge. Befürworter*innen – insbesondere die Teilnehmer*innen der von der damaligen Landesregierung kurz zuvor ins Leben gerufenen Bildungskonferenz – hielten dagegen: Beim Schulkonsens handele es sich zwar um einen politischen Kompromiss, aber um einen guten. Den Kritiker*innen entgegneten sie, dass alle Sekundarschulen eine verbindliche Kooperation mit der gymnasialen Oberstufe einer Gesamtschule, eines Gymnasiums oder eines Berufskollegs eingehen müssen, sodass Eltern schon bei der Anmeldung wissen, dass ihren Kindern der Weg zum Abitur auch über die Sekundarschule offen steht. Der Schulkonsens sei vor allem für die Schulträger eine solide Grundlage, um gute Schulentwicklung und gute Schulen vor Ort zu gestalten.
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