Kita Thomaszentrum: „Inklusion beginnt bei uns an der Tür.“

Bochumer Kita lebt Gleichberechtigung und Teilhabe

Wenn Deutschland über Inklusion redet, geht es häufig nur um körperlich und geistig behinderte Menschen oder um Menschen mit Migrationshintergrund. Aber Inklusion ist ein Menschenrecht und bedeutet Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen. Wie umfassend Inklusion gelebt werden kann, zeigt ein Besuch der Evangelischen Kindertageseinrichtung Thomaszentrum in Bochum.

Das gelbe Gebäude der Kita Thomaszentrum leuchtet fröhlich durch die kahlen Winterbäume und hebt sich einladend von der grauen Umgebungsarchitektur ab. Kaum fällt die Eingangstür ins Schloss, befinden sich Ankömmlinge mitten im Geschehen: Kinder verschiedenen Alters toben durch den Eingangsbereich, Gäste werden freundlich begrüßt und interessiert ausgefragt. Man fühlt sich trotz des morgendlichen Bring-Trubels von 7.15 bis 9.00 Uhr sofort willkommen. Früher diente der größte Raum des Hauses ausschließlich dazu, um zu den einzelnen Basisgruppen zu gelangen und wurde am wenigsten genutzt. Heute ist er ein Ort des Ankommens, dient als Bühne für Rollenspiele und als Garderobe. In letzter Zeit verwandelte er sich oft in eine Pizzeria oder ein Kino. Aber auch Entspannung und Rückzug sind auf einer Art Hochbett möglich.

Der Tag beginnt mit Wertschätzung

Von Inklusion durch Teilhabe erzählt auch der Obstkorb am Eingang. Nicht alle Kinder und Familien können sich täglich frisches Obst oder Gemüse leisten. Hier sind die gesunden Süßigkeiten für alle da. Gleichzeitig werden soziale Kompetenzen und Selbstbildung gefördert, indem die Kinder teilen lernen und ihr mathematisches Verständnis trainieren.
Schon die erste Begegnung der Kinder mit einer der Erzieherinnen, die hier Bildungsbegleiterinnen heißen, ist von Wertschätzung geprägt: An den Garderobenhaken der Kinder finden sich kleine Anhänger in Form eines Sterns, des Mondes oder der Sonne. Diesen bringen sie zum Tisch der Bildungsbegleiterin und werden persönlich begrüßt. „Inklusion beginnt bei uns schon an der Tür“, macht Friederike Stahl-Kolb, studierte Kindheitspädagogin und ausgebildete Erzieherin, deutlich. Sie arbeitet seit fünf Jahren in der Bochumer Einrichtung und betreut ebenfalls das Bundesprojekt „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“.
Nichts atmet Stress und Hektik, obwohl der Geräuschpegel stetig steigt: „Kinder müssen sich immer bewegen und artikulieren dürfen, sagte schon Axel Jan Wieland, in Anlehnung an dessen Konzept wir hier unter anderem arbeiten“, erklärt Einrichtungsleiterin Brigitte Franz. Und das dürfen die insgesamt 59 Kinder der Einrichtung auch. Zwölf Kinder besuchen den U3-Bereich, die übrigen 47 Kinder sind drei bis sechs Jahre alt.

Im Zentrum steht das Kind

Die Kita Thomaszentrum ist genau wie die übrigen 43 evangelischen Kitas im Kirchenkreis Bochum qualitätsgesichert und zertifiziert vom Evangelischen Fachverband der Tageseinrichtungen für Kinder in Westfalen-Lippe (evta). Sie hat somit das Evangelische Gütesiegel BETA, verliehen durch die Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder e. V.. Seit 1998 arbeitet die Einrichtung nach dem Konzept der „Offenen Kindergartenarbeit“ in Anlehnung an Axel Jan Wieland, ergänzt durch den  situationsorientierten Ansatz, bei dem die Kinder im Mittelpunkt stehen. Brigitte Franz, die seit 33 Jahren im Thomaszentrum arbeitet und die Einrichtung heute leitet, erinnert sich an die Anfangsjahre der offenen Arbeit: „Ich studierte damals Sozialpädagogik und versuchte, innovative Konzepte ins Team zu bringen. Gemeinsam überlegten wir, wie man die offene Arbeit und den Situationsansatz am konsequentesten umsetzen kann. Wir glaubten zunächst nicht, dass das offene Konzept in unseren geschlossenen Räumen funktioniert, doch da sich das anthropologische Bild des Kindes zu dieser Zeit ebenfalls wandelte, wagten wir den Schritt. Mit Erfolg, denn die offene Arbeit unserer Kita ist die beste Voraussetzung für gelebte Inklusion.“
Das Team versteht sich als Bildungsbeglei-terinnen und nicht als Erzieherinnen. Auch von festen Gruppenräumen hat sich die Einrichtung verabschiedet, stattdessen wird in Bildungsbereichen spielerisch gelernt. Eine bunte Bildungslandkarte, die nahezu jeden Raum ziert, visualisiert die Grundsätze zur Bildungsförderung für Kitas des Landes Nordrhein-Westfalen, die im Kinderbildungsgesetz (KiBiz) verankert sind. Das Kind steht immer im Mittelpunkt – umgeben von Kita und Peers. Es hält die Fäden seiner Entwicklung in den eigenen Händen. Um das Kind herum sind farblich abgesetzt die zehn Bildungsbereiche zu sehen, die alle ineinandergreifen. „Die Bildungslandkarte ist ein fundiertes Werkzeug, um unsere Arbeit zum Beispiel bei Elterngesprächen transparent zu machen“, sagt Brigitte Franz.

Sitzen macht dumm

Im Atelier ist mächtig was los: Die Kinder freuen sich über einen riesigen Fernsehkarton, den ein Elternteil gespendet hat. Sofort ist klar: Daraus wird ein Polizeiauto entstehen. Die Kleberoller sind schon im Anschlag, nur über die Form der Sirenen wird noch leidenschaftlich diskutiert. Ein Stunde später wandert das Polizeiauto über die Eingangshalle in den Bewegungsbereich und zieht immer mehr Kinder verschiedenen Alters in seinen Bann. Auch hier werden Inklusion und Teilhabe deutlich: Alle Spielmaterialien sind für jedes Kind frei zugänglich, denn jenseits von Alter und Entwicklungsstand kann jede*r mit allen Materialien kreativ arbeiten. Außerdem finden sich selbst gebildete Spielgruppen zusammen.
An den anderen Tischen des Ateliers wird gemalt, gebastelt und geknetet. Die Bildungsbegleiterin vor Ort bietet lediglich Materialien an, feste Gestaltungsvorgaben gibt es nicht. „Dahinter steht ein Aspekt der Reggio-Pädagogik: Ein Kind hat von Geburt an 100 Sprachen, von denen ihm der Erwachsene 99 nimmt“, erklärt Brigitte Franz. Die Kinder dürfen auf dem Fußboden, an Staffeleien oder auf Stühlen, stehend oder liegend arbeiten. „Sie brauchen Bewegung, um zu lernen und die Welt zu begreifen. Wenn sehr bewegungsfreudige Kinder sitzen müssen, sind sie nur damit beschäftigt und nehmen nichts anderes mehr auf“, macht Friederike Stahl-Kolb deutlich.

Alle Kitakinder sind Vorschulkinder

Die Kita Thomaszentrum ist seit drei Jahren Teil des Bundesprogramms „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“. Damit stärkt das Bundesministerium für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend die alltagsintegrierte sprachliche Bildung, inklusive Pädagogik sowie die Zusammenarbeit mit Familien in den Kitas. Durch das Programm ist unter anderem das Kinderbüro der Einrichtung entstanden. Hier können die Kinder Schule oder Büro spielen, allerdings ausschließlich aufgrund intrinsischer Motivation und nicht als klassische Vorschulveranstaltung. Der Raum ist gleichzeitig Bibliothek, Literacy Center und Musikzimmer.
„Durch das Bundesprogramm vertieften wir unser Fachwissen über Inklusion – gelebt haben wir den inklusiven Ansatz allerdings schon viel früher, mit dem Programm haben wir ihn ver-stärkt “, sagt Friederike Stahl-Kolb. Der Inhalt des Programms hat sich in der Einrichtung etab-liert und wird vom Team fürsorglich begleitet: Die Kinder lernen beim gemeinsamen Einkaufen, bei der Frühstücksvorbereitung oder im Spiel und werden so fit für Schule und Leben gemacht. Aus diesem Grund sind hier auch alle 59 Kinder Vorschulkinder und nicht nur die 13, die in diesem Jahr tatsächlich eingeschult werden.
Die Bochumer Einrichtung besuchen viele Kinder aus sozial schwachen und geflüchteten, aber auch aus gut situierten Familien. Zurzeit ist kein Kind mit anerkanntem Förderbedarf  dabei, wäre aber jederzeit willkommen. „Unser Verständnis von Inklusion umfasst die Teilhabe von allen. Wir sind der Meinung, dass jedes Kind einen besonderen Bedarf und Bedürfnisse hat, die mal mehr, mal weniger intensiv begleitet werden müssen“, sagt Friederike Stahl-Kolb. Fallen die Bedarfe nicht mehr in den Kompetenzbereich des Teams, vernetzen sich die Bildungsbegleiterinnen mit anderen Fachkräften. Stellt sich dabei ein Förderbedarf heraus, würde die Einrichtung diesen in Anspruch nehmen, um die dafür zur Verfügung gestellten Stunden zu erhalten. „Für unser Bild vom Kind spielt das aber keine Rolle, da wir im Sinne der Inklusion keine Etikettierungen vornehmen.“

Vielfalt sichtbar machen, Unterschiede thematisieren

Seine Bibliothek versucht das Kitateam möglichst vielfältig zu gestalten: Es gibt Literatur zu interkulturellen Themen, mehrsprachige Kinderbücher, Bücher zu Genderfragen, Familie und Freundschaft, gleichgeschlechtlicher Liebe und Behinderungen. Obwohl ältere Bücher oft ein veraltetes Rollenbild transportieren, werden sie in der Kita Thomaszentrum hin und wieder noch genutzt, denn sie bieten dem Team die Chance, einen wertschätzenden Umgang mit Vielfalt zu thematisieren und in Gesprächen oder Rollenspielen aufzulösen. Der Gewinn eines solchen Konzepts liegt auf der Hand: Die Kinder zeigen ein gutes Problemlöseverhalten, erlernen früh Selbständigkeit sowie Wertschätzung gegenüber anderen Lebensentwürfen. „Das sind für uns wichtige Basiskompetenzen“, bestätigt Friederike Stahl-Kolb.
Die Kita arbeitet familienergänzend, deshalb spielt auch die Arbeit mit den Eltern eine wichtige Rolle. Sie werden schon beim ersten Kontakt mit der Einrichtung an deren Konzept herangeführt. Einmal im Jahr bietet die Kita einen interaktiven Elternabend an, bei dem Mütter und Väter die Stationen durchlaufen, an denen sonst ihre Kinder spielend lernen. Die Mitarbeiterinnen aus den jeweiligen Bildungsbereichen erklären dabei die Arbeitsweise des Kitateams und welche Lernerfahrungen die Kinder dabei machen. „Menschen möchten wertgeschätzt werden und die Eltern merken, dass wir ihre Kinder wertschätzen“, sagt Friederike Stahl-Kolb. „Deshalb sind die meisten sehr offen gegenüber unserem Konzept.“

Bildungsprozesse in Gang setzen

Im Bewegungsbereich hangeln sich Kinder an der Decke entlang, springen quiekend auf dicke Matratzen oder erklimmen die Sprossenwand. Hier können sie sich jederzeit auspowern. In festen Gruppen ist das oft nicht möglich, weil die bewegungs- und artikulierfreudigen Kinder die anderen stören würden. Nebenan im Sternenraum experimentieren Mädchen und Jungen mit unzähligen Materialien. Es gibt Baumaterialien um Schwerkraft, Hebelwirkung und Magnetismus auszuprobieren, Wiege- und Messinstrumente, Bierdeckel, Murmeln, Wäsche-klammern, Plexiglasgefäße und eine Kiste voller Würfel. Spielerisch lernen die Kinder so Abläufe von Naturwissenschaft, Mathematik und Technik kennen.
Das Kitateam legt Wert auf Materialien, die alle Kinder ansprechen. „Uns ist wichtig, dass sowohl hochbegabte als auch entwicklungsverzögerte Kinder damit spielen können“, erklärt Friederike Stahl-Kolb. Kinder arbeiten und spielen immer prozess- und nicht produktorientiert. Mit festem Konstruktionsmaterial ist meist eine Produktorientierung gegeben, daher hat sich das Team gegen Legobausteine, Gesellschaftsspiele oder Puzzle entschieden. Den Kindern soll so ermöglicht werden, Bildungs- und Lernprozesse selbst zu aktivieren.

Wertschätzende Teamarbeit

Das multiprofessionelle Team der Kita rotiert zwischen den einzelnen Bildungsbereichen und besteht aus Erzieherinnen, zwei Kindheitspädagoginnen und einer Zusatzkraft; Brigitte Franz ist zudem studierte Sozialpädagogin. Um den inklusiven Bereich komplett abzudecken, wären Heilpädagog*innen im Team ebenso wichtig wie männliche Kollegen. Es fehlen außerdem Dolmetscher*innen mit pädagogischem Hintergrund und eine feste Hauswirtschaftskraft. Brigitte Franz wünscht sich warmes und kostenloses Essen für alle. Eine Fachkraft, die mit den Kindern auf dem Außengelände „arbeitet“ und es „pflegt“, wäre ebenfalls wünschenswert, um diesem wichtigen Bildungbereich einen höheren Stellenwert zu geben.
Große Unterstützung erfährt das Team in seiner Arbeit durch Geschäftsführer Michael Both, selbst Heilpädagoge, Erzieher und Fachberater, sowie durch Fachberaterin Dagmar Reuter. Sie sorgen für hochwertige Weiterbildungen und stehen in allen Belangen stets hinter dem Kitateam. Auch innerhalb des Teams ist gegenseitige Wertschätzung ein wichtiger Schlüssel für die tägliche gemeinsame Arbeit: „Bei uns gibt es kein Konkurrenzdenken“, sagt Brigitte Franz. „Deshalb arbeiten wir effektiv und effizient und jeder sieht es als Bereicherung, wenn Kolleg*innen neue Informationen von Fortbildungen mitbringen.“


Roma Hering
freie Journalistin

Fotos: A. Schneider

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