Wo bitte geht’s zur Inklusion?
Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention
Die Politik in NRW hat die Aufgabe des Gemeinsamen Lernens völlig unterschätzt. Der Weg aus der Krise gelingt nur, wenn die Probleme benannt und gemeinsam gelöst werden.
Die protokollierten Bundestagsreden werten das Ereignis als „Meilenstein“ und „Grund zum Feiern“. Das ist ziemlich untertrieben. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die im März 2009 in Deutschland geltendes Recht wurde, ist nichts Geringeres als der vorläufig jüngste Spross der allgemeinen Menschenrechte. Sie steht in einer Reihe mit den Menschheitserrungenschaften der Vereinten Nationen gegen Rassendiskriminierung (1965), für die Rechte der Frauen (1979) und der Kinder (1989). Zehn Jahre später? Ausgerechnet beim Thema Inklusion, der Leitidee der Konvention: Katzenjammer. Wie konnte es so weit kommen? Und wie geht es jetzt weiter?
Schulische Inklusion steckt in der Krise
Zunächst einmal sei anerkannt: Vieles hat die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Bewegung gebracht. Angefangen von der mittlerweile in der Kita real praktizierten Inklusion bis hin zu weniger gesetzlicher Diskriminierung in den Schulgesetzen der Länder oder mehr verbrieften Rechten für Menschen mit Behinderung durch das Bundesteilhabegesetz. Und während die Inklusion im Berufsleben noch fast gar nicht angekommen ist, können Länder wie Bremen und Schleswig-Holstein, mit Abstrichen auch Berlin und Hamburg, zumindest eine beeindruckende inklusive Schulstatistik vorweisen. Auf der Habenseite sei außerdem vermerkt: Seitdem die Konvention verabschiedet ist, wird über die Bildungschancen der Menschen mit Behinderung und die pädagogische Antwort der Schulen immerhin öffentlich gestritten. Die Separierung in Förderschulen steht unter Rechtfertigungsdruck.
Diese Fortschritte können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die schulische Inklusion in der Krise steckt. „Lotta Schultüte“ heißt das geradezu paradigmatische Buch dazu, in dem die inklusionsbegeisterte Autorin Sandra Roth für ihre behinderte Tochter zunehmend verzweifelt einen guten Bildungsort sucht – und sich am Ende für eine Förderschule entscheidet. Ist das ganze Projekt also am Ende ein „Märchen von der Inklusion“ ohne Happy-End, wie es die aktuelle ARD-Doku suggeriert?
Zangengeburt mit Folgeschäden
Die Rückschau offenbart eine schwierige Geburt mit gravierenden Folgeschäden. In weit konkreterem Sinne als es Uwe Becker mit seiner Grundsatzkritik „Die Inklusionslüge“ intendierte, geriet Inklusion hierzulande von Anfang an in die Zange absichtsvoll verbreiteter Unwahrheiten. Auf der einen Seite lautet die These: In Deutschland entspreche die Realität bereits weitgehend der Konvention, selbst in den Schulen. Bis heute argumentieren Inklusionsskeptiker*innen ernsthaft, es gebe eigentlich kaum Handlungsbedarf, irgendwie sei jetzt schon alles inklusiv oder „dual-inklusiv“ wie es der Rehabilitationswissenschaftler Otto Speck beschreibt.
Die andere Seite der Zange bilden gleich zwei Fehlinformationen: Das Gemeinsame Lernen habe sich per se als vorteilhaft erwiesen und es sei kostenlos zu haben. Diese Thesen wurden lange von vielen Inklusionsoptimist*innen verbreitet und führten in ambitionierten Bundesländern wie NRW geradewegs in die Misere. So war die Debatte und in der Folge auch die Politik geprägt von zwei pädagogischen Todsünden: mangelnder Ehrlichkeit gepaart mit einer ausgeprägten Bereitschaft, nur das in den Blick zu nehmen, was man sehen will.
Widerspenstige Wirklichkeit
Wahr ist: Bereits in den 1990er-Jahren hat man in NRW die auf Amtsdeutsch personalkostenneutral genannte Integration von Kindern mit Behinderung in der Schule erprobt mit dem Ergebnis, dass sie nicht möglich ist. Ebenso wahr ist: Es gibt in Deutschland seit den 1980er-Jahren erfolgreiches Gemeinsames Lernen – an Schulen, die sich mit großem Engagement und klugen pädagogischen Konzepten dieser großen Aufgabe stellten und genug Lehrer*innen hatten, um sich den Kindern individuell widmen zu können. Ausgerechnet diese Schulen wurden in den vergangenen Jahren im Zuge der flächendeckend verordneten Inklusion immer mehr kaputtgespart.
Um zu verstehen, vor welchen Aufgaben die Schulen stehen, hilft ein unverstellter Blick auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Um nur einige zu nennen:
- Die Gefahr ist real, dass durch Gemeinsames Lernen das Lernniveau absinkt, wenn die Schulen ohnehin viele sozial benachteiligte Schüler*innen unterrichten und schlecht vorbereitet sind.
- Förderkinder mit kognitiven Schwächen oder Verhaltensproblemen werden bis zu dreimal häufiger sozial ausgegrenzt als ihre Peers.
- Schulen, die schlecht in die Inklusion gestartet sind, haben sich oft auch nach vielen Jahren kaum weiterentwickelt.
Aber vor allem steht der Inklusionsgedanke im eklatanten Widerspruch zu den exkludierenden gesellschaftlichen Tendenzen, die sich in unserem selektiven Schulsystem widerspiegeln – samt Bildungsstandards und permanenten PISA-Tests.
Schule für das 21. Jahrhundert
Was müssen inklusive Schulen leisten? „Lottas Schule sollte ein Kind unterrichten wollen, das, wie [ ihr älterer Bruder, Anm. d. Red.] Ben sagen würde, ‚so richtig behindert‘ ist. Ich wünsche ihr eine Schule, wo das Trinken aus einem Becher ein genauso ernst zu nehmendes Lernziel sein kann wie Bruchrechnen, wo Physiotherapie und Sport sich ergänzen, wo eine mühsam geöffnete Hand genauso gelobt wird wie ein sauber geschriebener Text“, schreibt Sandra Roth. Damit das klappen kann, brauchen Schulen weit mehr als ausreichende Ressourcen und Lehrer*innen mit der richtigen Einstellung. Sie müssen ihre ganze pädagogische Konzeption, ihre Organisation, ihren Unterricht und sogar ihre Bildungsziele neu ausrichten. Nur wenn das tatsächlich geschieht, wird Gemeinsames Lernen verantwortbar. Dabei muss ihnen der Ausgleich zwischen Bildungsstandards und individueller persönlicher Entfaltung, der Spagat zwischen Förderung der Fähigkeiten und Chancenverteilung gelingen. Je „besonderer“ die Kinder und Jugendlichen, desto schwieriger ist das.
Wo geht’s jetzt lang zur Inklusion? Die Chance bestünde darin, inklusive Schulen so attraktiv zu machen, dass die Kinder gerne dort lernen und Eltern wie Lehrkräfte sie als zeitgemäße Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ansehen. Gut ausgestattet und von überzeugten pädagogisch-therapeutischen Fachkräften getragen, könnten sie sich zu Orten ganzheitlicher Bildung entwickeln, die Kinder und Jugendliche unabhängig vom sozioökonomischen Status ihrer Elternhäuser stark machen für die mehr denn je ungewisse Zukunft.
Ermöglichen könnte das eine nationale Bildungskommission, in der sich nach dem Vorbild der Kohlekommission Vertreter*innen aus Wissenschaft, pädagogischer Praxis, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzen. Sie hätte verbindlich zu klären, wohin die inklusive Reise gehen soll, und müsste endlich einen konkreten, realitätsnahen Reiseplan samt Finanzierung liefern. Das allerdings steht wohl – vorsichtig gesagt – nicht ganz oben auf der politischen Agenda.
Reha für die behinderte Gesellschaft
So bleiben die Hoffnungen bescheiden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ausgerechnet das Thema Inklusion bislang mehr polarisiert als verbindet, selbst unter Betroffenen. Das Reformvorhaben wird jedoch nur gelingen, wenn Menschen mit Handicap unabhängig von der Schulfrage wieder zu neuer Gemeinsamkeit finden und sich zusammen mit reformbereiten Pädagog*innen für echte Veränderungen einsetzen. Helfen könnte die Erkenntnis, dass es wenig sinnvoll ist, die Förderschulen zu bekämpfen, weil sie nicht Feind sind, sondern Gehhilfe einer menschlich noch ziemlich behinderten Gesellschaft. Schmeißt jemand mit gelähmten Beinen einfach seine Krücken weg, fällt er auf die Schnauze. Klammert er sich dran fest, wird er nie auf eigenen Füßen laufen lernen. Wenn’s was werden soll mit der Inklusion, braucht der Patient Geduld, Achtsamkeit, Mut und eine ziemlich gute Reha.
Tillmann Nöldeke
Lehrer an einer Gesamtschule, Autor und Pflegevater eines Jungen mit Behinderung
Fotos: go2 / photocase.de, iStock.com / Khosrork
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