Psychische Belastungen im Gepäck
SchülerInnen mit psychisch erkrankten Eltern
Eine familiäre psychische Belastung kann sich zum Teil deutlich auf die schulische Leistungsfähigkeit und das Verhalten betroffener SchülerInnen auswirken. Mit dem Ziel Entlastungsmöglichkeiten für Lehrkräfte zu schaffen, untersucht ein Forschungsprojekt der Universität Bielefeld erstmals hieraus entstehende Handlungsanforderungen im Schulalltag und Bedarfe von Lehrkräften. Nun liegen erste Ergebnisse einer Onlinebefragung mit Schulen vor. Im Fokus: SchülerInnen mit einem psychisch erkrankten Elternteil.
Zahlreiche Studien – unter anderem die DAK-Studie „Lehrergesundheit – Was hält Lehrkräfte gesund?“ von 2011 – verdeutlichen, dass Lehrkräfte im Schulalltag eine hohe psychische Beanspruchung erleben. Insbesondere herausforderndes SchülerInnenverhalten verbunden mit einer zu geringen Lernbereitschaft wird als belastend ausgewiesen. Die neueste DAK-Studie „Gesundheitsfalle Schule – Probleme und Auswege“ verweist weiterführend, dass Lehrkräfte die Anzahl der SchülerInnen mit gesundheitlichen Problemen, Verhaltensauffälligkeiten und Konzentrationsschwächen als stark zunehmend wahrnehmen.
Dass Familienbedingungen Einfluss auf die Lernsituation und das Schulverhalten von SchülerInnen haben, ist bekannt. Obwohl die individuellen Lernvoraussetzungen der SchülerInnen und somit auch die Familie immer bedeutsamer für den Schulalltag werden, gibt es zum Einfluss von familiären psychischen Belastungen von SchülerInnen auf die Schulpraxis bislang keine genauen Erkenntnisse. Die Studie „Bedarfe von LehrerInnen im Umgang mit familiären Belastungen von SchülerInnen“ der Universität Bielefeld schließt diese Lücke. Schwerpunktmäßig untersucht das Projekt, wie sich der Umgang mit psychischen Belastungen innerhalb der Familie im Schulalltag gestaltet. Ziel ist es, aus den Ergebnissen Bedarfe für Lehrkräfte abzuleiten.
Im Fokus: psychische Erkrankungen eines Elternteils
In einer ersten Onlinebefragung legte das Projektteam den Fokus konkret auf die psychische Erkrankung eines Elternteiles als einen Teilaspekt familiärer psychischer Belastungen. Warum gerade diese Thematik? Unter psychische Belastungen fallen kurz- oder langfristige Situationen, die Einfluss auf den Alltag der jeweiligen Familie haben können. Auch Scheidung oder der Tod eines Familienmitglieds gehören beispielsweise dazu. Belastungen wie diese können Traurigkeit, Angst oder starke innere Anspannung als Reaktionen nach sich ziehen. Als sehr starke psychische Belastung mit teils schwerwiegenden Auswirkungen auf das Familienleben gelten psychische Erkrankungen eines Elternteiles. Diese Erkrankungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Wahrnehmung und das Verhalten der Betroffenen beeinflussen. Solche Erkrankungen haben zahlenmäßig in den letzten Jahren zugenommen, zum Beispiel Depressionen „als Volkskrankheit“.
Auswirkungen der elterlichen Erkrankung auf Kinder können in der Schule sichtbar werden. Gerade deshalb stellt sich die Frage: Welche tatsächliche Relevanz haben psychische Erkrankungen eines Elternteiles in der Schulpraxis? Problemstellungen wie diese sind im Schulalltag nicht unbedingt die Regel, sondern eher spezielle Themen. Sie sind jedoch für eine Bedarfserhebung umso entscheidender, weil sie mehr als standardgemäßes Handeln erfordern und Aufschluss über Schulbedingungen geben. Zudem lagen hierzu bislang keine sicheren Daten vor.
Im Zeitraum von August bis November 2015 wurden deshalb 4.927 Schulen zur Teilnahme an der Online-Befragung eingeladen. 614 von ihnen füllten den Fragebogen aus, der fünf Fragen sowie eine offene Abschlussfrage umfasste. Offene Kommentare zu einzelnen Fragen waren zusätzlich möglich.
Schulische Spannungsfelder
Fast 80 Prozent der Teilnehmenden berichteten, dass sie im letzten Schuljahr mindestens eine Schülerin oder einen Schüler mit einem psychisch erkrankten Elternteil kannten. Zwar wurde die thematische Bedeutung für den Schulalltag unterschiedlich gewichtet – vor allem im Vergleich zu anderen problematischen familiären Ereignissen wie Scheidung oder zu Themen wie Inklusion. Dennoch zeichnet sich die Aktualität des Themas im Bereich Schule deutlich ab. Besonders auffällig werden in der Schule wahrgenommene Spannungsfelder: Familien wird ein hoher Einfluss auf den Lernerfolg zugesprochen. Hier liegt die Zustimmung bei fast 100 Prozent. Jedoch wird umgekehrt der Einfluss von Schule auf die Familien als gering angesehen.
Eine hohe Zustimmung erhielt die Frage zur Brückenfunktion von Schulen zum Hilfssystem, um Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil und ihre Belastungen im Schulalltag wahrzunehmen, ihnen Unterstützung anzubieten und sie bei Bedarf an andere professionelle Hilfsstellen weiterzuleiten. Aber auch hier wird ein Spannungsfeld zwischen der Überforderung („Was noch alles?“) und der Verantwortung von Schulen („Wenn nicht wir, wer dann?“) sichtbar. Die familiäre Lebenssituation der SchülerInnen wird für die schulische Förderung als wichtig erachtet. Zugleich wird es in diesem Zusammenhang aber auch als große Herausforderung bewertet, an ausreichende Informationen zu gelangen. Datenschutz wird als persönliches und sensibles Recht auf der einen Seite betont. Jedoch erwähnen ebenso viele TeilnehmerInnen, dass es hilfreich wäre, mehr über die Familien zu erfahren, um adäquat auf das entsprechende SchülerInnenverhalten eingehen zu können. Einen eindeutig beschriebenen Erziehungsauftrag von Schulen gibt es ebenfalls nicht. Im Umkehrschluss bewerten einige Teilnehmende es sogar als positiv, wenn PädagogInnen nicht von einer Erkrankung der Eltern wissen, weil Kinder auf diese Weise beispielsweise vor Stigmata geschützt seien. Überdies werden die aktuellen Grenzen von Schulen benannt, die sich von personellen Ressourcen über Zeitmangel bis hin zur Ausbildung mit familiären Belastungen erstrecken.
Lehrkräfte brauchen Unterstützung
Die Ergebnisse zeigen deutlich: Aus familiären Problemlagen von SchülerInnen ergeben sich viele Handlungsanforderungen für Lehrkräfte, die durch die angesprochenen Spannungsfelder im Schulalltag als stark belastend und häufig als überfordernd erlebt werden. Mehr Unterstützung erhoffen sich Schulen von verschiedensten Seiten, meist jedoch von externen UnterstützerInnen wie beispielsweise dem Jugendamt, da außerschulische Angebote zu wenig greifen und eine Zusammenarbeit zum Beispiel mit dem Jugendamt als einseitig wahrgenommen wird. Auch auf Ebene der Lehrkräfte ist mehr Unterstützung gefordert, damit die PädagogInnen sich individuell auf die SchülerInnensituation einstellen können. Hier zeigen die Ergebnisse der Umfrage, dass es große Unsicherheiten gibt, etwa darüber, wie Eltern oder SchülerInnen auf sensible Themen angesprochen werden und wie mit Vermutungen umzugehen ist. Unterstützungsangebote werden als sinnvoll erachtet, wenn sie sich in den Schulalltag einfügen und eine Entlastung für Lehrkräfte bedeuten.
Die Daten verweisen darauf, dass an vielen Schulen SchülerInnen mit einem psychisch erkrankten Elternteil bekannt sind. Schulen berichten dennoch, dass Kinder psychisch kranker Eltern ein unbekanntes und schwieriges Thema sind. Die Notwendigkeit, die Bedarfe von Schulen und Lehrkräften im Umgang mit familiären psychischen Belastungen von SchülerInnen im Detail zu erfassen und bedarfsorientierte Handlungsstrategien zu entwickeln, wird hier mehr als deutlich. Im Umgang mit Handlungsanforderungen im Schulalltag ist zu klären: Über welche Ressourcen verfügen Schulen? Welche Berufsrolle können und sollen Lehrkräfte überhaupt einnehmen? Und wie viel Arbeit leisten Schulen schon jetzt?
Verwendung der Ergebnisse
Basierend auf diesen Ergebnissen hat das Projektteam der Universität Bielefeld einen weitergehenden Onlinefragebogen entwickelt und dabei Lehrkräfte einbezogen. Seit September 2016 bis Ende des Jahres werden landesweit rund 2.500 Lehrkräfte aller Schulformen befragt. Ziel der Erhebung bleibt die Untersuchung von Handlungsanforderungen im Umgang mit familiären Anforderungen im Schulalltag und die Entwicklung bedarfsorientierter Angebote, die Lehrkräfte in ihrem Schulalltag entlasten. Um dieses Ziel erreichen zu können, ist die Perspektive der Lehrkräfte von sehr hoher Bedeutung. Wenn Schulen in ihrer Arbeit mit SchülerInnen mit familiären Belastungen mehr Unterstützung erfahren, wird sich dies positiv sowohl auf die Lehrkräfte als auch auf die betroffenen Kinder auswirken.
Sandra Schlupp, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter der Universität Bielefeld
Dirk Bruland, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter der Universität Bielefeld
Fotos: David-W, Tinvo, marshi / photocase.de
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