Flexibilität und viel Herz
Internationale Förderklassen unterrichten
2010 entstand die erste Internationale Förderklasse (IF) am Franz-Jürgens-Berufskolleg in Düsseldorf. Das Kolleg bot Deutschförderunterricht für geflüchtete Jugendliche und Seiteneinsteiger*innen ab 16 Jahren und nahm damit eine Vorreiterrolle ein. Heute umfasst der Bereich sechs Klassen mit knapp 120 Schüler*innen. Mit welchen Herausforderungen sind die Pädagog*innen im Schulalltag konfrontiert? Welche Unterstützung wünschen sie sich? Welche Chancen sehen sie?
Nadine Löppenberg sitzt inmitten der Internationalen Förderklasse 1/3 im Stuhlkreis vor der Tafel. Der Stuhlkreis ist eines von vielen Ritualen der Klasse. Die Schüler*innen erzählen, dass sie aus Tadschikistan, Albanien, Syrien, Irak, Guinea, Eritrea, Mazedonien oder Serbien kommen, ob sie allein oder mit der Familie in Deutschland sind und wo sie jetzt wohnen. Gleichzeitig wird Grammatik, das Perfekt, geübt. Alle berichten, was sie am Vortag gemacht haben. Die 16- bis 20-jährigen Jugendlichen sind hier, um Deutsch zu lernen. Das Klassenzimmer ist liebevoll, beinahe überbordend dekoriert. „Ich stelle ihnen das Material zur Verfügung und sie dekorieren mit Leidenschaft den Raum“, lacht Lehrerin Nadine Löppenberg. An der Wand hängt eine Landkarte. Bunte Schnüre führen von den Heimatländern hin zu den Steckbriefen der Jugendlichen. Die Tische sind zu Gruppenarbeitsplätzen zusammengestellt und ermöglichen den Jugendlichen gegenseitige Unterstützung, passend zum individuellen Lernniveau. Der Fokus liegt jedoch auf dem gemeinsamen Lernen. Die heterogenen Strukturen in den Erstförderklassen sind eine große Herausforderung für die Lehrkräfte. Einige Jugendliche haben in ihrem Heimatland noch nie eine Schule besucht, andere sind vorgebildet.
Sprachvermittlung als Kernaufgabe
Schulleiter Manfred Uchtmann sieht in der Sprachvermittlung die wichtigste Aufgabe des Bereichs Internationale Förderklassen: Sprachsensibler Unterricht ist gefragt, sodass die Vermittlung der deutschen Sprache auch bei nicht originär Deutsch sprechenden Menschen gelingt. Essenziell ist auch, dass seine Mitarbeiter*innen über die nötige Empathie verfügen, um mit teils hoch traumatisierten Jugendlichen arbeiten zu können. Die persönlichen Probleme der Schüler*innen finden im Schulalltag ihren Platz: Nadine Löppenberg bietet einmal in der Woche eine Beratungsstunde an, in der sie zum Thema Wohnungssuche berät oder Briefe liest, die für die Schüler*innen noch unverständlich sind.
Für den IF-Bereich arbeitet Sozialarbeiterin A. Scherber auf einer halben Stelle. Sie kümmert sich vorrangig um die IF-2-Klassen, weil dort der Fokus auf der nahenden Ausbildung liegt.
„Die Schüler*innen der IF-Klassen gehen wesentlich motivierter an ein Praktikum oder eine Ausbildung heran. Die Rückmeldung von den Betrieben ist durchweg positiv und auch ich erlebe dadurch in meiner Arbeit häufiger Erfolge“, freut sie sich. Trotzdem kann sie in der Kürze der Zeit nicht alle Probleme lösen. Der Schulleiter hat für das kommende Halbjahr eine weitere Projektstelle ausgeschrieben, nötig aber wären drei und eine Stelle mit psychologischem Schwerpunkt. A. Scherber ist auf eine gute Vernetzung mit Rechtsanwält*innen und Ehrenamtlichen sowie Berater*innen von Wohlfahrtsverbänden angewiesen. Doch mit der steigenden Anzahl geflüchteter Menschen haben alle Helfer*innen mehr zu tun, sind schwerer erreichbar. Das macht auch ihre Arbeit langwieriger.
Situative Entscheidungen ermöglichen
Die meisten Jugendlichen sind erst kurz in Deutschland und werden relativ zügig beschult. Das war früher anders: Oft lebten sie schon länger in der Bundesrepublik und waren vertrauter mit dem deutschen Kulturraum. „Die kulturellen Neuerungen gilt es aufzufangen, um das Konfliktpotenzial zu minimieren“, macht Manfred Uchtmann deutlich. Ein weiteres, neues Problem ergibt sich aus den massiven Abschiebungen von Seiteneinsteiger*innen aus Mazedonien und dem Kosovo. Unverständnis und Aggression sind die Folge: Warum dürfen die Syrer*innen bleiben und die anderen nicht?
Ihm und seinen Kolleg*innen ist es wichtig, Schule auch außerhalb des Schulgebäudes stattfinden zu lassen. Es soll möglich sein, Kirchen, Moscheen, Synagogen, Museen und Theater zu besuchen. Organisatorisch ist das oft schwierig. „Meine Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass die KollegInnen den Unterricht machen können, den sie für richtig halten und situativ entscheiden können, was notwendig ist. Regelwerke sind Auslegungssache, die Einhaltung pädagogischer Regeln Pflicht. Sanktioniert wird hier niemand.“
Entlastung durch Abwechslung
Das erste Jahr besteht größtenteils daraus, den neuen Alltag kennenzulernen. Viele lebensnahe Situationen werden im Unterricht simuliert. Auch ein Telefonat mit der Schulsekretärin gehört zum Repertoire. Mit echten Mobiltelefonen setzen sich zwei Schüler*innen Rücken an Rücken. Nadine Löppenberg lässt ihr Telefon läuten, die imaginäre Schulsekretärin hebt ab. Mit Dialogzetteln üben die Protagonist*innen dann Sätze, die sie im Alltag brauchen.
Die Schultage sind nur sechs Stunden lang – und für Schüler*innen und Pädagog*innen gleichermaßen anstrengend. Hoch konzentriertes Zuhören über einen längeren Zeitraum hinweg fällt den meisten Jugendlichen schwer. Oft muss Nadine Löppenberg den Unterricht zügig anpassen, um die Aufmerksamkeit zu halten. Die Konzentrationsprobleme sind eine Folge der Sprachbarrieren und der Traumata. Die Lehrerin ist von ihren Schüler*innen begeistert: „Ich bewundere, wie schnell sie lernen, sich teilweise die lateinische Ausgangsschrift aneignen und alle Fächer auf Deutsch bestreiten.“ Am Ende des ersten Halbjahres können die meisten frei sprechen und eine intensivere Beratung ist möglich.
Der Schulleiter setzt die Kolleg*innen auch in den anderen Berufsschulklassen ein und verschafft ihnen somit Entlastung. Er kann ihnen keine materiellen Anreize bieten, bringt ihnen aber viel Wertschätzung und Hilfe im Rahmen seiner Möglichkeiten entgegen. Ein respektvoller Umgang ist der Schlüssel für ein gemeinsames Miteinander; deshalb unterschreiben alle Jugendlichen den Schulvertrag. Über den Vertrag, Bilder und Rituale versuchen die Pädagog*innen Berührungsängste abzubauen und das Ankommen zu erleichtern. Bei über 100 Schüler*innen bleiben aber auch Konflikte nicht aus. Im Vertrag ist klar geregelt: Körperliche Gewalt wird mit einem Schulverweis geahndet.
Das Konzept der Lernspirale
Im IF-Bereich arbeiten die Pädagog*innen ähnlich wie an einer Grundschule: „Das Spielerische und der Bewegungsaspekt sind enorm wichtig bei der Vermittlung, Visualisierung von Lernstoff ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit“, sagt Nadine Löppenberg. Der Spagat besteht darin, die Jugendlichen dabei trotzdem wie Erwachsene zu behandeln. Beim „Satztheater“ sollen die Schüler*innen Prädikat, Subjekt und Objekt in die richtige Reihenfolge bringen. Mit viel Spaß, gegenseitiger Unterstützung und vor allem aktiv entsteht ein vollständiger Satz. Die laminierten Karten hat Nadine Löppenberg selbst gebastelt – so wie die meisten Materialien, die sie im Unterricht einsetzt. Oft steht nur Material aus der Erwachsenenbildung zur Verfügung. Das ist thematisch interessanter, aber oft zu monoton. Die Themen werden also einfach in ein Memory verwandelt und prägen sich so besser ein. Die Lehrerin bindet auch immer wieder die Muttersprache der Jugendlichen in den Unterricht ein und versucht sich selbst an den fremden Wörtern. „Ich möchte ihnen zeigen, dass es auch für mich schwierig ist, eine andere Sprache zu lernen.“ Vor ihrem Schreibtisch hat sie einen weiteren Tisch angebaut, um die umfangreichen Unterrichtsmaterialien unterzubringen. Selbstbedienung erwünscht.
Nadine Löppenberg arbeitet eng mit Melanie Bischkowski zusammen, die Deutsch-Förderunterricht und Soziales Lernen in der IF 1/3 unterrichtet. Eine kurze Notiz im Klassenbuch reicht und Melanie Bischkowski kann den Förderunterricht nahtlos anschließen. Die Unterrichtseinheiten basieren auf dem Konzept der Lernspirale. Themen werden eingeführt und tauchen in Abständen immer wieder auf.
Was Pädagog*innen brauchen
Neben beruflicher Orientierung auch alters-gerechte Sprachförderung anzubieten, ist schwierig. Das Berufskolleg ist darauf eigentlich nicht ausgelegt. Bereichsleiterin Ariane Heimig hat den IF-Bereich mit aufgebaut, ohne Hilfe von außen. Noch 2010 absolvierte sie ein berufsbegleitendes Studium „Deutsch als Zweitsprache / Deutsch als Fremdsprache“. Im gleichen Jahr eröffneten sie die erste Klasse für Schüler*innen ohne Vorkenntnisse. Jetzt waren neue Formen der Vermittlung gefragt: Die Schule ging dazu über, Pädagog*innen mit Fakultas für Sekundarstufe I und II einzustellen, die Erfahrungen in basaler Grammatikvermittlung mitbrachten. Auch Nadine Löppenberg besitzt Fakultas für die Sekundarstufe I und II in Deutsch und Geschichte. „Ich habe über eine Kollegin aus dem Referendariat von der Stelle hier erfahren. Es war Liebe auf den ersten Blick“, lacht sie.
Bei aller Euphorie, wo werden die Pädagog*innen die Belastungen los, die der Beruf mit sich bringt? Erst seit 2015 bietet der Schulpsychologische Dienst Fortbildungen und Gruppen-supervisionen an. „Wir machen regelmäßig Teamsitzungen mit kollegialer Fallberatung“, sagt Ariane Heimig. Die Teamstunde ermöglicht ihnen der Schulleiter, das kooperative Arbeiten steht an erster Stelle. So werden auch Unterrichtsreihen gemeinsam geplant und Material ausgetauscht. „Die Kolleg*innen möchten hier arbeiten, deshalb funktioniert es so gut“, wirft Nadine Löppenberg ein. Die Bereichsleiterin fordert mehr Supervisionsstunden, Sozialarbeit und Team-Teaching für die IF-Klassen. Die Integrationsstellen brauchen sie, um die Klassen relativ klein zu halten. „Da ist das Land gefordert“, betont GEW-Mitglied Manfred Uchtmann. „Perspektiven kann nur die Politik entwickeln, wir machen die Umsetzung.“
Roma Hering
Freie Journalistin
Fotos: A. Etges
Hilfe, ich werde 18!
Sehnsüchtig wird er erwartet, der 18. Geburtstag. Endlich volljährig, endlich frei, endlich tun und lassen, was man will. Doch das gilt nicht für alle. In den Internationalen Förderklassen am Berufskolleg ist die Freude leider nicht so groß.
Hamid, der vor vier Jahren alleine aus Afghanistan über Belgien nach Deutschland gekommen ist, besucht seit zwei Jahren ein Berufskolleg in Düsseldorf. Um es pünktlich um 7.45 Uhr zum Unterrichtsbeginn zu schaffen, musste er ein halbes Jahr lang morgens um 5.00 Uhr in den Bus steigen. Und warum? Er hatte Geburtstag.
Kein Anspruch auf Jugendhilfe ab 18
Anstelle einer Glückwunschkarte lag zum 18. der Abschiebebescheid im Briefkasten. Kinder und Jugendliche dürfen nicht abgeschoben werden, Erwachsene schon. Zurück nach Afghanistan musste Hamid schließlich nicht. Aber er musste aus seiner Wohngruppe aus- und in den Ort seiner Erstaufnahme umziehen. Mit der Volljährigkeit entfällt für geflüchtete Menschen der Anspruch auf Jugendhilfe.
Das Jugendamt kann sie nicht in Obhut nehmen oder an Pflegefamilien vermitteln. Zu einem besseren Leben gehört für Hamid auch der Schulbesuch. Er möchte weiter zur Schule gehen und studieren. „Wo ist denn der Unterschied, ob ich minderjährig oder volljährig bin?“, fragt er verwundert. „Ich möchte einfach nur eine Ausbildung machen.“
Nur ein Ziel: lernen und integrieren
Aktuell wird bundesweit von mindestens 40.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ausgegangen, Tendenz steigend. Sie stehen unter Inobhutnahme des Jugendamtes. Doch sobald sie 18 Jahre alt werden, sind die Jugendlichen per Gesetz erwachsene Asylsuchende. Sie müssen zurück in den Ort ihrer Erstaufnahme, sie müssen sich um eine Unterkunft, um ihr Auskommen und um ihren Status kümmern. Wenn die Betroffenen Glück haben, werden sie von ihren BetreuerInnen und von EhrenamtlerInnen unterstützt, auch Lehrkräfte sowie die Schulsozialarbeit sind stark eingebunden. Die Jugendlichen sind häufig traumatisiert, aber sie haben viel Potenzial und – genau wie Hamid – einen starken Willen zu lernen und sich zu intergrieren.
Unterstützung vor Ort
Mit dem neuen Ausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz sollen Jugendliche mit dem 18. Geburtstag ihren Wohnort nicht mehr verlassen müssen. Alle 186 Jugendämter werden verpflichtet, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Für die GEW NRW heißt das aber auch, dass vor Ort eine verlässliche und kontinuierliche Betreuung sichergestellt werden muss, um bruchlose Bildungs- und Lernbiografien zu ermöglichen. Die Bildungsgewerkschaft fordert daher für alle Geflüchteten das Recht auf den Besuch der berufsbildenden Schulen bis zum Alter von 25 Jahren und für Lehrkräfte an den Schulen verstärkte Unterstützung durch Schulsozialarbeit. In NRW leben zurzeit rund 7.500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die irgendwann 18 werden. Hinter jeder Zahl steht ein Name, eine Geschichte, ein Mensch.
Roswitha Lauber und Mira Duk
Mitglieder der Fachgruppe Berufskolleg der GEW NRW
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