Inklusion braucht eine stabile Basis

Stellungnahme des Landesverbands Schulpsychologie NRW

Ist die gesellschaftliche Aufgabe von Inklusion vereinbar mit dem gegliederten Schulsystem, das Spaltung fördert und keine Bildungsgerechtigkeit schafft? Damit schulische Inklusion gelingen kann, fordert der Landesverband Schulpsychologie NRW von der Landesregierung Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung und zusätzliche Stellen für Schulpsycholog*innen.

Inklusion bedeutet, Barrieren abzubauen, die andere daran hindern könnten teilzuhaben. Es geht darum, so viel Begegnung wie möglich zu fördern zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit oder ohne Behinderung und Menschen mit anderen Unterscheidungsmerkmalen. Die größten Barrieren sind dabei häufig nicht die direkt sicht- und hörbaren, sondern die psychischen Barrieren, die durch Ängste und Vorbehalte gekennzeichnet sind.
Schulministerin Yvonne Gebauer hat nach einem Jahr Amtszeit ein Eckpunktepapier für die schulische Inklusion veröffentlicht, das den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention aus Sicht des Landesverbands Schulpsychologie NRW nicht gerecht wird. Erklärtes Ziel ist die Verbesserung der Qualität inklusiver Bildung, das sicher unstrittig und sehr zu begrüßen ist.

Strategie des Schulministeriums widerspricht dem Gedanken der Inklusion

Die auserwählte Strategie ist die Bündelung von Schüler*innen mit Behinderungen in sogenannten Schwerpunktschulen. Bei mindestens drei Schüler*innen mit Behinderungen pro Klasse über den gesamten Jahrgang hinweg erhalten diese Schulen eine zusätzliche halbe Stelle für ein*e Sonderpädagog*in pro Klasse. Die Strategie verspricht Verbesserungen, bewirkt aber das Gegenteil. Kinder müssen wieder verstärkt etikettiert werden, um Ressourcen zu erhalten, was dem Gedanken der Inklusion grundsätzlich widerspricht. Die weiteren Strategien wie der flächendeckende Erhalt von Förderschulen und die Einrichtung von Förderschulgruppen an allgemeinbildenden Schulen sind massive Rückschritte bezogen auf die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention und sind als Kapitulation eines überlasteten und starren Bildungssystems vor den gesellschaftlichen Anforderungen der Inklusion zu verstehen. Gymnasien werden in dem Eckpunktepapier der Verpflichtung enthoben, sich an der inklusiven Bildung zu beteiligen beziehungsweise mit besonderen personellen Zuwendungen belohnt, wenn sie sich freiwillig dazu entschließen. Das ist sachlich nicht nachvollziehbar und wirft einmal mehr die Frage auf, ob die gesellschaftliche Aufgabe von Inklusion nicht grundsätzlich unvereinbar ist mit dem gegliederten Schulsystem, das es bisher nicht geschafft hat, Bildungsgerechtigkeit zu realisieren, sondern gesellschaftliche Spaltungstendenzen fördert.

Bildung und Teilhabe der Schüler*innen umfassend fördern

Eine Aufstockung von Stellen ist sicherlich eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Maßnahme. Schon gar nicht, wenn angesichts eines völlig leer gefegten Arbeitsmarktes im besten Fall davon auszugehen ist, dass Stellen für Sonderpädagog*innen vermutlich durch unerfahrene Lehrkräfte besetzt werden. Die von der Schulministerin genannten Qualitätsstandards wie das „Konzept zur inklusiven Bildung“ – ohne konkrete Kriterien, was genau gute inklusive Bildung ausmacht – und die bislang unspezifische „systematische Fortbildung von Lehrkräften“ sind sicher nicht die Garanten für die versprochene Qualitätsoffensive. Zumal diese Maßnahmen vorbeigehen an den besonders wichtigen Fragen der Haltung, der psychischen Barrieren sowie dem Gelingen multiprofessioneller Zusammenarbeit. Der Referenzpunkt für „gute“ Schule muss das Gelingen einer ganzheitlich verstandenen, gesunden psychosozialen Entwicklung und die Realisierung von Bildungs- und Teilhabechancen aller Schüler*innen sein.

Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung sind erforderlich

Notwendig wäre hier, Lehrkräfte in die Lage zu versetzen, Verantwortung für die Entwicklung von Schüler*innen zu übernehmen vor allem, wenn es schwierig wird. Dies setzt ein hohes Maß an individuellen Kompetenzen und eine selbstreflexive Haltung, eine wertschätzende Zusammenarbeit mit Eltern, professionelle Teamarbeit in Schule, eine gute Vernetzung mit außerschulischen Institutionen und gute Unterstützungsangebote voraus, zum Beispiel durch Schulpsycholog*innen.
Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung sind nötig auf der individuellen Lehrer*innen-Ebene, aber auch in Strukturen für Teamarbeit: die feste Installierung von Beratungszeiten und die Einführung von Professionalitätsstandards wie Coaching und Supervision, die in anderen psychosozialen Arbeitsfeldern selbstverständlich sind. Schulpsycholog*innen können gerade an diesen für gelingende inklusive Bildung so wichtigen Stellen wertvolle Beiträge leisten.
Während gesellschaftliche und schulische Herausforderungen wie Gewalt an Schulen und Integration durch Bildung folgerichtig Aufstockungen im Bereich der Schulpsychologie ausgelöst haben, ist dies im Kontext inklusiver Bildung bisher nicht geschehen. Dieser Bereich muss in den schulpsychologischen Beratungsstellen aber verbindlich abgedeckt werden und sollte durch zusätzliche Stelleninvestitionen des Landes unterstützt werden. Denn Herausforderungen und Veränderungen in Schule durch die Aufgabe der inklusiven Bildung lösen tatsächlich vermehrte Beratungsbedarfe bei Eltern und Lehrkräften aus, auf die die schulpsychologische Beratungsstellen mit ausreichenden Kapazitäten reagieren müssen.

Massive Überlastungen in den schulpsychologischen Beratungsstellen

Die bereits erfolgten und die geforderten Aufstockungen durch die benannten Mehrbedarfe dürfen aber nicht in die Berechnung der von der Kultusministerkonferenz festgelegten Relation 1:5.000 für die schulpsychologische Grundversorgung eingehen. Es bestehen unverändert starke Diskrepanzen zwischen dem Ist und dem Soll. In Beratungsstellen in Städten mit einem problematischen Sozialindex ergeben sich äquivalent zu der Belastung in Schule massive Überlastungssituationen. Hier besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf, um regionalen Bedürfnissen von Schüler*innen, Eltern und Lehrkräften gerecht zu werden.
Die Strategien des Schulministeriums werden nicht zu der versprochenen Qualitätsverbesserung führen und werden den Zielen der UN-Behindertenkonvention nicht gerecht:

  • Das ressourcenstarke Gymnasium darf nicht aus der Verpflichtung genommen werden, inklusive Bildung zu realisieren.
  • Stellenzuweisungen dürfen nicht von Etikettierungen der Schüler*innen abhängig sein.
  • Die Verantwortung für inklusive Bildung darf nicht vor allem auf die Sonderpädagog*innen übertragen werden, sondern muss von der gesamten Schulgemeinschaft getragen werden.
  • Das Gelingen der Multiprofessionalität vor Ort muss stärker in den Blick genommen werden, indem unterstützende Maßnahmen wie Supervision und verbindliche Teamzeiten eingeführt werden. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Überwindung von Schwierigkeiten und Barrieren.
  • Förderschulen und Regelschulen dürfen nicht um die Ressource Sonderpädagogik konkurrieren müssen. Der Fokus muss auf die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Förderorten gelegt werden, um flexibel auf die jeweiligen Bedarfe von Schüler*innen reagieren zu können.


Kirsten Solberg
Fachvorstand des Landesverbands Schulpychologie NRW e. V., zuständig für Presse und Öffentlichkeitsarbeit

Annette Greiner
Vorstand des Landesverbands Schulpsychologie NRW e. V.

Fotos: Between The Bars Photography

 

Erlass zu Inklusion

Beteiligung der Hauptpersonalräte

Zum Anfang dieses Schuljahrs hat das Ministerium für Schule und Bildung NRW die Hauptpersonalräte über ihre Eckpunkte zu Inklusion informiert. Es wurde ein Erlass angekündigt, der auf dieser Grundlage die „Neuausrichtung der weiterführenden Schulen in der Inklusion“ beschreibt. Danach werden die Voraussetzungen für die Einrichtung von Schwerpunktschulen des Gemeinsamen Lernens in Haupt-, Real- und Gesamtschulen beschrieben, aber auch die lediglich zielgleiche sonderpädagogische Förderung in Gymnasien. Die Hauptpersonalräte haben weiteren Gesprächsbedarf zur Ausgestaltung dieses Erlasses.

Ute Lorenz
Referentin für Beamt*innenrecht und Mitbestimmung der GEW NRW

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