Crash der Kulturen und Religionen?
Geschichte und Gegenwart der Konflikte im syrisch-türkischen Gebiet
Warum ist es so schwer, über geschichtliche Ereignisse zu sprechen, die 100 Jahre zurückliegen? Weshalb ist es für die Regierung der Türkei, aber auch für viele in Deutschland lebende Menschen türkischer Abstammung so problematisch, die Vertreibung und Vernichtung von bis zu 1,5 Millionen ArmenierInnen vor 101 Jahren als Völkermord einzuordnen? Und weshalb ist es für die armenische Community so wichtig, dass der Deutsche Bundestag genau diese Anerkennung jetzt ausgesprochen hat?
Diese Fragen standen im Hintergrund des Seminars „Crash der Kulturen und Religionen?“, das gerade einmal zwei Tage nach der Abstimmung im Bundestag in der Akademie Villigst stattfand. Eingeladen hatte das DGB Bildungswerk NRW e. V. in Kooperation mit dem Verband der LehrerInnen aus der Türkei in NRW (NRW-TÖB). Als Gäste dabei: Azat Ordukhanian, Vorsitzender des Armenisch-akademischen Vereins 1860 e. V., und die Schriftstellerin Heide Rieck-Wotke, die seit vielen Jahren gegen das Vergessen des Massakers an den ArmenierInnen anschreibt.
Syrien: Große Vielfalt und komplexe Konflikte
Zu Beginn der Veranstaltung analysierte Dr. Kenan Engin, Politikwissenschaftler an der Universität Mainz, Hintergründe des Kriegs in Syrien und der damit verbundenen Fluchtwellen. Er stellte heraus, dass die syrische Gesellschaft sich aus unterschiedlichen Ethnien und Religionen zusammensetzt: In Syrien leben unter anderem AraberInnen, TurkmenInnen, AssyrerInnen und ArmenierInnen. 85 Prozent der syrischen Bevölkerung sind MuslimInnen – darunter zehn Prozent AlawitInnen – und zehn Prozent ChristInnen, daneben gibt es JesidInnen, DruzInnen und mehr. Das Assad-Regime stütze sich – unter anderem kolonialgeschichtlich bedingt – vorrangig auf nichtsunnitische Minderheiten. Latent vorhandene Konflikte seien eskaliert, nachdem der sozial und politisch bedingte Aufstand gegen das Assad-Regime zunächst durch unterschiedliche radikale Bewegungen dominiert und schließlich zum Spielball internationaler Akteure wurde.
Die einander bekämpfenden Gruppen formierten sich entlang ethnischer, religiöser und machtpolitischer Linien. Eine verhängnisvolle Mischung, die Lösungen erschwerte und zu immer neuen Verfolgungen und Fluchtbewegungen führte. Fluchtbewegungen, die zunächst innerhalb Syriens stattfanden: Die Flüchtenden hatten stets die Hoffnung, bald in ihre Städte und Dörfer zurückkehren zu können. Doch bald schon drängten die Menschen angesichts der anhaltenden Konflikte in die Nachbarregionen und schöpften zunehmend Hoffnung auf ein neues Leben in Europa.
Flucht und Vertreibung: Wenn der Druck unerträglich wird
Flucht und Vertreibung sind für viele SeminarteilnehmerInnen bekannte Schicksale: Dr. Kenan Engin kam selbst als Flüchtling vor 14 Jahren aus der Türkei. Wie er verließen auch andere die Türkei, weil sie als GewerkschafterInnen, politisch aktive KurdInnen oder Angehörige einer christlichen Minderheit keine Lebenspers-pektive in ihrer Heimat sahen. Gymnasiallehrer Mathias Akar, dessen Familie in einem kleinen Dorf nahe der türkisch-syrischen Grenze lebte, berichtete, dass fast alle AramäerInnen dem Druck ihrer Umgebung, von ihrem christlichen Glauben abzulassen und sich der kurdisch-
muslimischen Lebensweise anzuschließen, nicht mehr ausgesetzt sein wollten. Sie sahen keine Lebensperspektive mehr für sich und ihre Kinder in ihrer Heimat und leben heute verstreut in Ländern der EU oder in den USA und in Kanada. Eine türkischstämmige Kollegin erzählte,
wie sie selbst die Vertreibung der ArmenierInnen und anderer christlicher Minderheiten wahrgenommen habe. In ihrem Dorf habe sie sich immer über eine leerstehende Kirche gewundert, bis sie erfuhr, dass die einstigen BesucherInnen nicht mehr hier lebten. Nach und nach habe sie bemerkt, wie sehr Schimpfworte mit Bezügen zu ArmenierInnen verbunden waren. Noch heute sei es nicht möglich, unbefangen mit ihren Eltern über dieses Thema zu sprechen.
Wie umgehen mit der Schuld der Vorfahren?
Damit knüpfte sie an einen Gedanken an, den zuvor auch Heide Rieck-Wotke formuliert hatte: Vergangenheitsbewältigung setze den Willen und das Bewusstsein in der Bevölkerung voraus, sich ernsthaft der Schuld der Vorfahren zu stellen. Sie erzählte, wie sie als junge Frau mit dem Holocaust konfrontiert worden sei und gelernt habe, mit der Schuld umzugehen. Dabei habe die 68er-Bewegung in ihrem heftigen Protest gegen die Elterngeneration sicher großen Einfluss gehabt. Doch sei die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland nur möglich gewesen, weil die Alliierten nach dem zweiten Weltkrieg diesen Prozess der Umorientierung erzwungen hätten. Die heutige Türkei sei davon leider noch sehr weit entfernt. Und Azat Ordukhanian ergänzte, dass auch heute noch die Verantwortlichen für den Völkermord an den ArmenierInnen als HeldInnen verehrt werden und Straßen, Brücken und Stadtteile mit ihren Namen schmücken. Nach wie vor gehöre „der offizielle Leugnungsdiskurs der türkischen Politik, (...) zum nationalen Selbstverständnis. (...) Dennoch, wer allein die damalige Führung des osmanischen Staates des Genozids bezichtigt, der droht zu vergessen – auch das Deutsche Reich war in diese monströsen Verbrechen verstrickt. Es besteht Nachholbedarf bei der Aufarbeitung eines dunklen Kapitels. Schließlich hat sich das kaiserliche Deutschland aktiver Beihilfe zum Völkermord schuldig gemacht“, schrieb Historiker Ludger Heid in der Wochenzeitung derFreitag.
Menschliche und demokratische Werte zum Thema machen
Kritisch wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die aktuelle Diskussion um den Begriff „Völkermord“ nicht die ohnehin komplizierten Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland sowie innerhalb der türkischen Community und ihrem Umfeld verschlechtert. Dem wurde entgegengehalten, dass gerade wegen des erstarkenden Nationalismus und der Tendenz zu einer fundamentalistisch anmutenden religiösen Rückbesinnung die offene und nicht von taktischen Überlegungen bestimmte Auseinandersetzung mit menschlichen und demokratischen Werten dringend notwendig sei. Dieser Ansatz bilde auch die Grundlage unserer pädagogischen Arbeit in der Schule. Die zahlreichen Konflikte im Nahen Osten machen – ebenso wie der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine – nicht vor unserer Haustür halt. Sie finden auch in den Communitys statt. Mehrere TeilnehmerInnen beklagten, dass sie Angst hätten Meinungen zu äußern, die von dem abweichen, was als Position ihres Herkunftslands wahrgenommen wird. Gelingende Kommunikation – das zeigte sich sehr schön während des Seminars – setzt die Bereitschaft voraus, eigene Erfahrungen darzustellen und anderen zuzuhören.
Für den Umgang im Alltag mit Kindern und Jugendlichen sowie für den Unterricht lassen sich aus dem Seminar einige Ratschläge ableiten:
- Vermeiden Sie als LehrerIn in Ihrem eigenen Sprachgebrauch Pauschalisierungen wie „die TürkInnen“, „die RussInnen“ oder „wir Deutschen“. Wenn Sie Positionen und Haltungen darstellen und bewerten, sagen Sie genau, wer diese vertritt.
- Rechnen Sie bei Ihren SchülerInnen im Umgang mit brisanten Themen wie beispielsweise dem Völkermord an den ArmenierInnen, Terroranschlägen der kurdischen PKK, den „Säuberungen“ durch die türkische Regierung nach dem Putschversuch oder Übergriffen gegen Frauen wie in der Kölner Silvesternacht mit Abwehr und Unwissenheit. Geben Sie deshalb Raum für die Darstellung persönlicher Eindrücke und Erlebnisse und die mit ihnen verbundenen Gefühle.
- Entfalten und stärken Sie die Fähigkeit des Zuhörens mit Ihren SchülerInnen. Es reicht nicht aus, jemanden zu Wort kommen zu lassen, wenn das Umfeld nur auf Entgegnung sinnt und das Gesagte nicht aufnimmt. Üben Sie dies in Ihren Klassen.
- Sorgen Sie für Klarheit in der Sache, indem sie unterschiedliche Medien nutzen und Sachinformationen sorgsam von Bewertungen trennen. Machen Sie deutlich,
- dass Medienkritik genaues Lesen unterschiedlicher Medien voraussetzt. Nur so ist dem Gefühl entgegenzutreten, die Medien seien ohnehin einseitig. Denn von dort bis zum Bild einer „Lügenpresse“ ist es kein weiter Weg.
Unsere Gesellschaft ist gepägt von Vielfalt hinsichtlich der Herkunft und unterschiedlicher sozialer, kultureller und religiöser Orientierungen –
auch in den Klassenräumen. Von LehrerInnen fordert dies die Bereitschaft, die Auswirkungen politischer Konflikte innerhalb der Zuwanderungscommunitys, zwischen diesen und mit der Mehrheitsgesellschaft zu beobachten und im pädagogischen Alltag angemessen zu agieren: multiperspektivisch und auf gemeinsame Werte bezogen.
Zülfü Gürbüz
Vorsitzender des Verbands der LehrerInnen aus der Türkei (NRW-TÖB)
Manfred Diekenbrock
Mitglied im Leitungsteam des Referats Gewerkschaftliche Bildungsarbeit der GEW NRW
Fotos: Chikatze, krockenmitte / photocase.de
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