Substanzenkonsum bei Schüler*innen: Rausch, Exzess und die neue protestantische Ethik
Substanzenkonsum bei Jugendlichen
Alcopops und Komasaufen – was Eltern und Pädagog*innen noch vor einigen Jahren in Alarmbereitschaft versetzte, ist für Jugendliche heute kaum noch ein Thema. Wie ist dieser Rückgang im sogenannten Substanzenkonsum zu erklären? Tragen die vielen Aufklärungskampagnen endlich Früchte? Ganz so einfach ist es in unserer leistungsorientierten Gesellschaft vermutlich nicht.
Vor rund zehn Jahren hat uns eine jugendliche Probandin aus Köln in einer Fokusgruppe etwas über ihr Trinkverhalten erzählt. Wenn sie denn überhaupt trinke, dann nur freitags. Samstags hingegen rühre sie keinen Alkohol an, denn am Sonntag müsse sie fit sein, um sich für die Schule vorzubereiten: um Hausaufgaben zu erledigen oder für Tests und Klausuren zu lernen. Das war – in den Hochzeiten von „Komasaufen“ und „Alcopops“ – ein überraschendes Geständnis, galt und gilt die Jugend doch seit jeher als Phase der Ausschweifung, des Rauschs und des spontanen Exzesses. Der ultravernünftige Zugang der zitierten Jugendlichen mochte so gar nicht zu diesem über Jahrzehnte kultivierten und verfestigten Klischee passen. Ein Einzelfall oder eine Vorbotin eines Trends hin zu einer neuen Nüchternheit?
Exzess ist out
Heute liegt der aktuelle Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vor uns. In ihm ist der Gesinnungswandel, der sich schon im Kommentar der jungen Kölnerin angedeutet hat, statistisch dokumentiert. Sowohl der Anteil regelmäßiger Alkoholkonsument*innen als auch der Anteil der Jugendlichen mit „riskantem Alkoholkonsum“ sind in Deutschland in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen. Im Jahr 2015 gaben zehn Prozent der 12- bis 17-Jährigen an, ein Mal pro Woche Alkohol zu trinken, im Jahr 2001 waren es noch fast doppelt so viele. Noch deutlicher fällt der Rückgang beim Rauchen aus. Griff im Jahr 2001 noch rund jede*r dritte 12- bis 17-Jährige regelmäßig zur Zigarette, tut das heute nur mehr eine kleine Minderheit von weniger als zehn Prozent. Insbesondere in Gymnasien und anderen weiterführenden Schulen wird inzwischen kaum mehr geraucht, der Tabakkonsum stellt sich heute als ein Phänomen dar, das beinahe exklusiv auf die sogenannten „Bildungsfernen“ beschränkt ist. Damit liegen Jugendliche in Deutschland voll im europäischen Trend. Das „European School Survey Project on Alcohol and other Drugs“ (ESPAD) konstatiert für das Jahr 2015 für fast alle europäischen Länder einen Rückgang des Alkohol- und Tabakkonsums unter Jugendlichen. Ebenso ist der Konsum illegaler Drogen rückläufig oder stagniert auf ohnedies niedrigem Niveau. Welche Gründe können nun zu diesem Rückgang geführt haben?
Wie sooft ist die Frage, was den Rückgang nun genau bewirkt hat, unmöglich eindeutig zu beantworten. In dem Zeitraum, von dem hier die Rede ist, wurden sicherlich so viele Präventionsmaßnahmen implementiert wie nie zuvor. Kampagnen und Workshops, Internetseiten und Social-Media-Aktivitäten sollten zu verantwortungsvollem Umgang mit Alkohol ermahnen oder den Jugendlichen das Rauchen unattraktiv erscheinen lassen. Aber reicht es wirklich aus, ein paar Plakate zu drucken oder den jungen Menschen zu erklären, sie sollen doch bitte die Finger von allem lassen, was ungesund ist und ihnen schadet? Umso mehr, als diese gut gemeinten Warnungen auch noch von Erwachsenen kommen? Treten wir einen Schritt zurück und werfen einen Blick auf das Umfeld, in dem Jugendliche aufwachsen. Vielleicht finden wir so die Antwort auf die Frage, warum die Jugend heute um so viel weniger ausschweifend ist als noch vor wenigen Jahren.
Leistungskiller? Nein, danke!
Der junge Mensch wächst heute in einer immer erbarmungsloseren Leistungsgesellschaft auf. Die Zeiten, in denen die Jugendphase ein Schutzraum vor der Unbill des Erwachsenen-lebens war, sind vorbei. Anders als noch vor 20 Jahren glauben viele Menschen heute nicht mehr an den sozialen Aufstieg, sondern sie sind vor allem um ihren Statuserhalt bemüht. Für sich selbst, vor allem aber auch für ihre Kinder. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat in seinem Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ für diesen Zustand das einprägsame Bild von der Rolltreppe gefunden, die man nicht mehr bequem aufwärtsfährt, sondern die inzwischen die Fahrtrichtung gewechselt hat und damit bergab fährt. Wer stehen bleibt, fährt auf ihr nach unten, die Menschen müssen also gegen sie anrennen, um ihre Position zumindest halten zu können.
Dieser Umstand hat, wenig überraschend, zu massiven Zukunftsängsten geführt, die gerade auch Jugendliche ergriffen haben. Gute Leistungen in der Schule und im Studium zu erbringen ist zu einer Überlebensnotwendigkeit geworden. Das, was man wohlwollend „Bildungsexpansion“ oder auch weniger wohlwollend „Akademiker*innenschwemme“ nennt, verschärft den Druck auf die jungen Leute noch zusätzlich. Der Arbeitsmarkt hält auch für Studierte heute kaum mehr sonnige Plätzchen bereit. Und das in einer arbeitszentrierten Gesellschaft, also in einer, in der die soziale Anerkennung des Individuums vor allem über dessen Position auf dem Arbeitsmarkt definiert ist. Hier sind es die Starken, Schnellen, Flexiblen, Belastbaren, Durchsetzungsfähigen, die sich noch gute Chancen ausrechnen dürfen. Die Schwachen, aber auch die Grübler*innen haben weit weniger gute Karten. Nicht umsonst sind Schimpfwörter wie „Hartzer“ oder „Opfer“, die auf einen Mangel an Durchsetzungskraft verweisen, in den Schulen der Republik so weit verbreitet. Wer etwas auf sich hält, stählt sich im Fitnesscenter, um die eigene Leistungsbereitschaft und -fähigkeit mittels des Mediums des eigenen Körpers symbolisch darzustellen. Kraftsport, bislang eine eher männliche Domäne, wird zunehmend auch für junge, karriereorientierte Frauen attraktiv.
Was hat das nun alles mit Alkohol und Zigaretten zu tun? Ganz einfach: Der Leistungsmensch ist ein asketischer Mensch, wie es schon vor 100 Jahren der Soziologe Max Weber in seinem berühmten Buch über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus ausgeführt hat. Oder wie es die Jugendliche aus dem Eingangsbeispiel beschreibt. Wenn es exzessiv wird, dann nur dort, wo es die eigene schulische Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Die Performer*innen wider Willen sind gewissermaßen zur Abstinenz gezwungen, sie müssen sich immer unter Kontrolle haben. Von leistungsbeeinträchtigenden Substanzen, vor allem von Alkohol und Zigaretten, halten sie sich fern. Diese Substanzen – so lässt sich vermuten – sind auch in der öffentlichen Wahrnehmung weniger deswegen weitestgehend diskreditiert, weil sie ungesund sind. Das weiß man schließlich schon lange. Vielmehr gelten sie – sei es nun tatsächlich, zumindest aber symbolisch – als Leistungskiller. Sie stehen für Ausschweifung und Disziplinlosigkeit, beides Eigenschaften, nach denen es auf dem Arbeitsmarkt – vorsichtig ausgedrückt – nur wenig Nachfrage gibt.
Fit um jeden Preis?
Welche Substanzen an die Stelle der „klassischen“, legalen oder illegalen, Substanzen treten werden, darüber kann man nur spekulieren. Plausibel wäre es, dass leistungsmindernde durch leistungssteigernde Substanzen ersetzt werden. Und tatsächlich gibt es zumindest aufschlussreiche Hinweise für eine Verschiebung in diese Richtung, wenn auch noch keine belastbaren Studien. Hier muss man wohl zwischen Substanzen unterscheiden, die vor allem die Psyche, und solchen, die vor allem den Körper formen und leistungsfähiger machen sollen. In die erste Kategorie fallen jene Substanzen, die mitunter unter dem Begriff des „Gehirndopings“ zusammengefasst werden. Angstlösende Mittel und Antidepressiva oder Medikamente wie Ritalin und Medikamente mit dem gleichen Wirkstoff sollen heute schon zum Standardangebot der Dealer in amerikanischen Highschools und Universitäten gehören.
Und auch wenn der Verbrauch seit dem Jahr 2013 zumindest in Deutschland leicht rückläufig ist, wurden in besagtem Jahr dennoch rund 60 Millionen Tagesdosen verschrieben. In die zweite Kategorie gehören Mittel, die man im Sport unter dem Begriff des Dopings subsummiert, etwa leistungssteigernde oder schmerzhemmende Medikamente. Zeitungsberichten zufolge sollen 99,9 Prozent aller Dopingmittel im Breitensport zur Anwendung kommen und Expert*innen berichten davon, dass die Konsument*innen immer jünger werden. Zudem finde gerade ein Prozess der Enttabuisierung der Anabolika und Co. statt. Diese Substanzen sind nahe am Zeitgeist. Im Vergleich wirken Bier, Joint und LSD-Trip geradezu anachronistisch. Der Rückgang junger Trinker*innen und Raucher*innen sollte also nicht zu viel Jubel hervorrufen – zumindest nicht, bevor man weiß, was stattdessen konsumiert wird.
Philipp Ikrath
Vorsitzender und wissenschaftlicher Leiter des Departments Hamburg von jugendkulturforschung.de e. V.
Fotos: viper007, Gurkentanz / photocase.de
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