NRW-Landtagswahl 2017: Frühkindliche Bildung ist mehr als Bällebad

Kommentar zur NRW-Landtagswahl 2017

„Wenn ein Möbelhaus unsere Kinder bis 20 Uhr betreuen kann, wieso können die Kitas in NRW das nicht?“ Dieser Wahlslogan der FDP NRW verzierte im Vorfeld der Landtagswahl im Mai 2017 einen Kleintransporter vor einem IKEA-Möbelmarkt. Bekommt die Politik eigentlich noch mit, was die Bedürfnisse von Eltern, Kindern und Erzieher*innen an der Basis in diesem Land sind?

Vorab zur Erinnerung: Kitas müssen mit dem 2007 auf den Weg gebrachten Kinderbildungsgesetz (KiBiz) NRW neben einem Erziehungs- und Betreuungsauftrag zusätzlich auch einen Bildungsauftrag erfüllen. Ob diese Anforderung durch eine Betreuung im Bällebad des Smålands abgedeckt wird, sei dahingestellt.

Pädagogisches Personal am Limit

Würden Politiker*innen ein Praktikum in einer Kita machen, würden sie erkennen, dass Erzieher*innen dort tagtäglich an ihre Grenzen kommen. Sie haben nach einer langjährigen Ausbildung oder einem Studium eine hohe Verantwortung Eltern, Kindern und ihrem Gesetzgeber gegenüber. Sie arbeiten unter einem stetig steigenden Belastungspensum:  Sie erfüllen ihre Dokumentationspflicht; sie arbeiten pädagogische Konzeptionen aus; sie entwerfen eine Angebotsstruktur, die jedes einzelne Kind dort abholt, wo es momentan steht. Erzieher*innen bereiten Elterngespräche vor und nach; sie schreiben und gestalten Portfolios; sie haben ein offenes Ohr für die Bedürfnisse jedes Kindes, der Gruppe und der Eltern. Sie bereiten Feste zu unterschiedlichen Bildungsthemen vor; sie fördern die gesundheitliche Entwicklung der Kinder; sie begleiten frühkindliche Bildungsprozesse. Sie tragen gemäß KiBiz dafür Sorge, dass „alle Kinder sich in ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Lebenssituationen anerkennen, positive Beziehungen aufbauen, sich gegenseitig unterstützen, zu Gemeinsinn und Toleranz befähigt und in ihrer interkulturellen Kompetenz gestärkt werden“. Und die Liste ließe sich noch weiter verlängern.
Doch zurück zum Bällebad im Möbelhaus: Richtig überraschend kommt der Kurzschluss-vergleich der FDP nicht. Sie selbst verantwortet zwar gemeinsam mit der CDU das KiBiz, die zugehörige Bildungsvereinbarung gab es jedoch erst 2015 unter der rot-grünen Landesregierung, die damit der tatsächlich stattfindenden Bildungs-praxis in den Einrichtungen einen höheren und anerkennenderen Stellenwert einräumte. Der Bildungsauftrag der Kita scheint bei den Liberalen bis heute nicht so recht angekommen zu sein.
Wie wäre es, zunächst einmal dafür zu sorgen, dass endlich faire Rahmenbedingungen für die Umsetzung von Bildungsqualität in Kitas geschaffen werden? Nach Untersuchungen der Bertelsmann-Stiftung bleibt „in der frühkindlichen Bildung (...) gute Qualität oftmals auf der Strecke, weil viele Kindertageseinrichtungen nicht genügend Erzieherinnen haben. Die Personalschlüssel für Kitas in Nordrhein-Westfalen weichen teilweise erheblich von einem kindgerechten und pädagogisch sinnvollen Betreuungsverhältnis ab“. Auch DGB, GEW und ver.di fordern in ihren Eckpunkten zum neuen Kita-Gesetz für den U3-Bereich höchstens einen Schlüssel von 1 :  3, im Ü3-Bereich von höchstens 1 :  7,5. Die Realität sieht flächendeckend anders aus. Verschärft wird die Situation durch Krankheitsausfälle, Urlaube und Fortbildungen.

Eltern unter Druck

Wie soll also vor diesem Hintergrund der Wahlslogan der FDP zu verstehen sein? Wohlwollend könnte man meinen, er zielte auf die Flexibilisierung der Öffnungszeiten von Kitas ab, also auf die Entlastung der Eltern und auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Doch zu welchem Preis?
Der Kita-Ausbau in NRW wurde in den vergangenen Jahren massiv vorangetrieben. Flächendeckend ermöglichen Kitas schon jetzt Erziehung, Bildung, Ernährung und Betreuung von bis zu elf Stunden am Tag. 24-Stunden-Kitas werden auf Bundes- und Landesebene immer wieder diskutiert; in NRW laufen bereits Pilotprojekte. Sieht so echte Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus? Solange die Erwerbstätigkeit der Dreh- und Angelpunkt der Familienplanung bleibt, solange die Angst vor finanziellen Risiken und Karriererückschritten dominiert, läuft etwas schief. Denn diese Entwicklung dient vor allem der Wirtschaft und den Arbeitgebern. Die vermeintliche Freiheit, die Familien durch die stete Erweiterung der außerfamiliären Betreuungsmöglichkeiten gewinnen, dient vor allem der wirtschaftlichen Produktivität. Sie lenkt vom politischen Unwillen ab, Familien finanziell zu entlasten, steuerlich zu begünstigen und Familien mit Alleinverdiener*innen oder Alleinerziehenden finanziell abzusichern. Sie täuscht darüber hinweg, dass viele Berufe unterbezahlt sind und Alleinverdiener*innen es deshalb meist schwer haben, das Auskommen ihrer Familie sicherzustellen. Für die Zukunft gilt also das Ziel einer Erwerbsoptimierungspolitik statt das Kind und die Familie im Fokus politischer Entscheidungen stehen zu lassen?

Frühkindliche Bildung nachhaltig und fair entwickeln

Wer seinen Wahlkampf auf dem Rücken der Betroffenen austrägt, sollte den Mut aufbringen, mit ihnen zu sprechen – mit pädagogischen Fachkäften, mit Erzieher*innen, mit weiteren pädagogischen Fachkräften und auch mit Eltern und Kindern. Ihnen zuzuhören, ihre Anliegen ernst zu nehmen und ihnen wertschätzend zu begegnen, um eine politische Lösung für alle Beteiligten finden zu können. Bei einem Überschuss von 54,1 Milliarden Euro bis 2020 lassen sich doch sicher faire Lösungen für eine nachhaltige und faire Entwicklung in der frühkindlichen Bildung finden.

Seraphina Bader
B. A. Sozialpädagogik / Sozialarbeit

Illustration: Designed by Freepik

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