Höchste Zeit für Wertschätzung

Prekäre Beschäftigung im Offenen Ganztag

Die Zusammenführung von Hort und Schule zur Offenen Ganztagsschule (OGS) vor 13 Jahren hatte ein hohes Potenzial, um die Bildungssituation von Kindern zu verbessern – ganz nach skandinavischem Vorbild. Doch die qualitativen Standards des Hortes wurden nicht übernommen, der großflächige quantitative Ausbau stattdessen massiv vorangetrieben. Und so hat die deutsche OGS wenig ihrem Vorbild gemein: Sie ist ein chronisch unterfinanzierter und zugleich unverzichtbarer Bildungsbereich mit anspruchsvollen pädagogischen Aufgaben, dem es an allem mangelt – auch an fairer Beschäftigung.

Beschäftigung in der OGS zeichnet sich vor allem aus durch die sehr niedrige, oft nicht tarifgebundene Bezahlung und dadurch fehlende Fachkräfte sowie einen viel zu niedrigen  Stundenumfang. Es fehlen Räumlichkeiten und die Einrichtungen sind bei unzureichendem Personalschlüssel chronisch überbelegt. Strukturen sind nicht etabliert, die Organisation ist mangelhaft und Schulen werden nicht  auf den „Einzug“ des Offenen Ganztags vorbereitet. Unter den MitarbeiterInnen herrscht eine hohe Fluktuation und es braucht ein permanentes Krisenmanagement. Ein wesentlicher Grund für die derart prekäre Bezahlung der Beschäftigten und die desaströse (finanzielle) Gesamtausstattung deS Offenen Ganztags sind die fehlenden Qualitätsstandards. Hier liegt der grundlegende Unterschied zu anderen Bildungsbereichen.                      

Gesetzesgrundlage: Fehlanzeige!

Die OGS ist weder in das Kinderbildungsgesetz noch in das Schulgesetz eingebunden. Mit ihm  wurde ein Bildungsbereich geschaffen, der nur auf Erlassen beruht. Das bedeutet: Für die pädagogische Arbeit gibt es keine gesetzlich festgeschriebene Einstellungsvoraussetzung, wie zum Beispiel eine erzieherische Ausbildung oder gar ein Pädagogikstudium. So ist der Offene Ganztag ein Sammelbecken für QuereinsteigerInnen, BerufsanfängerInnen, Studierende und ÜbergangsjobberInnen, was zu einer sehr hohen Fluktuation und Überlastung der MitarbeiterInnen führt. Viele Fachkräfte bewerben sich schnell weiter auf deutlich besser bezahlte Stel-len mit Zukunftsperspektive und Stufenaufstieg. Für tariflich bezahlte ErzieherInnen kann das bei  gleicher Stundenanzahl einen Unterschied von mehreren Hundert Euro netto ausmachen.
Viele PädagogInnen in der OGS bekommen keinen Inflationsausgleich und keine Gehaltsangleichung. Das Gehalt stagniert über viele Jahre.  So verringert sich der Lohn faktisch von Jahr zu Jahr durch die steigenden Lebenshaltungskosten und die Schere zu tariflich bezahlten ErzieherInnen wird immer größer.
Die meisten Stellen im Offenen Ganztag sind zudem auf Teilzeit ausgelegt. Für Gruppenleitungen sind im Durchschnitt 25 Stunden pro Woche vorgesehen, bei den Ergänzungskräften reicht die wöchentliche Arbeitszeitspanne von 13 bis 20 Stunden – und das bei bis zu 30 Kindern pro Gruppe. Die Folge: Häufig ist die Gruppenleitung allein in der Gruppe, was eine hohe Belastung darstellt und beispielsweise im Krankheitsfall zu organisatorischen Notsituationen führt.

Gestiegene Ansprüche, unveränderte Rahmenbedingungen

Viele pädagogische BetreuerInnen im Offenen Ganztag erhalten ein Gehalt, das unter dem Sozialhilfesatz liegt. Die meisten von ihnen haben deshalb eine weitere Arbeitsstelle oder müssen ihr Gehalt durch staatliche Unterstützung wie Wohngeld oder Hartz IV aufstocken. Eine derart unattraktive Bezahlung führt zu einem enormen Fachkräftemangel im Offenen Ganztag. Diese Rahmenbedingungen beruhen auf den Anfängen des Ganztags. Hier sollte lediglich eine Übermittagsbetreuung geschaffen  werden. Es ging darum, dass zum Beispiel Mütter einen kleinen Nebenjob an der Schule ihrer Kinder haben, einige wenige SchülerInnen mit  Essen versorgen und beaufsichtigen – ein Provisorium auf dem Weg zur Ganztagsschule. Der Wirklichkeitsanspruch ist allerdings mittlerweile ein komplett anderer: Aus der Übermittagsbetreuung wurde eine unverzichtbare pädagogische Institution mit anspruchsvollem und komplexem Bildungsauftrag und einem massiv wachsendem Bedarf an Plätzen. Die finanzielle Ausstattung änderte sich jedoch kaum. So beruht viel auf zusätzlicher Zeit, die freiwillig investiert wird. Zweitkräfte sind oft nur in Stoßzeiten vorhanden.
Prekäre Verhältnisse wie diese lassen sich vielfach in Frauenberufen finden. Heutzutage sind aber auch Frauen häufig Hauptverdienerinnen und müssen ihre Familie von ihrem Einkommen ernähren.

Höchste Zeit für Wertschätzung

Wenn die Kommune sich aus der Verantwortung stiehlt

Vereinzelt werden die Träger für die schlechte Ausstattung der OGS verantwortlich gemacht, vor allem wenn die Betreuung von der Stadt an private Kinder- und Jugendhilfeträger abgegeben wurde. Die Stadt gibt die finanziellen Mittel an die Träger weiter, die ihre Einrichtungen mit dem zur Verfügung stehenden Geld ausstatten. Dies ist beispielsweise in Köln der Fall: Hier wird ein kompletter Bildungsbereich ausgelagert, dem Wettbewerb unter den freien Trägern und  sich selbst überlassen. Über 50 Träger bieten mittlerweile in Konkurrenz zueinander die Offene Ganztagsbetreuung an. Die Kommune als Vertretung des Staates öffnet damit Lohndumping Tür und Tor, da es keinerlei Mindeststandards und Qualitätskontrollen gibt.
Die Träger wiederum haben keine garantierte Finanzierung, ein Teil hängt von einem freiwilligen Anteil der Stadt ab, der immer wechseln kann. Das verschärft die ohnehin massive Unterfinanzierung des Ganztags, die in der Politik übrigens zugleich bekannt ist und bedauert wird. Das Geld für eine tatsächlich ausreichende Finanzierung dieses Bildungsbereichs sei jedoch nicht vorhanden. So bleibt es bei einem permanenten Krisenmanagement für Träger und MitarbeiterInnen. Träger, die einen etwas höheren Stundenlohn bezahlen, müssen die Kosten an anderer Stelle wieder einsparen. Zum Beispiel bei der Anzahl der MitarbeiterInnen, bei der Angebots- und Einrichtungsausstattung oder durch weniger Öffnungstage.
Zusätzlich erhöht sich der Druck auf die Träger dadurch, dass die Kooperationsverträge mit Schulen jeweils nur ein Jahr andauern und dann neu verhandelt werden können. So haben Schulen die Möglichkeit, sich für Träger zu entscheiden, die möglichst viele Angebote und MitarbeiterInnen stellen – auf Kosten des Lohns der OGS-MitarbeiterInnen. Hat eine Schule den Eindruck, der Offene Ganztag läuft nicht rund, kann sie die Kooperation beenden. Die Träger werden dadurch erpressbar, haben keine gleichberechtigte Verhandlungsposition für eine Mitbestimmung und sind gezwungen, die Betreuung trotz desaströser finanzieller Ausstattung am Laufen zu halten. Ein Druck, der nicht selten unfreiwillig an die MitarbeiterInnen weitergegeben wird. Ein kritisches Hinterfragen der Arbeitsverhältnisse bringt Träger häufig in einen Interessenkonflikt zwischen KooperationspartnerInnen und MitarbeiterInnen.

Mitbestimmung ermöglichen und Anerkennung zeigen

Küchenausstattung, Reinigungszeiten, Hausmeisterzuständigkeit wurden in den meisten Schulen nicht an die Existenz des Offenen Ganztags angepasst. Mangelnde Räumlichkeiten und fehlende Ausstattung, teils chaotische Arbeitsbedingungen sind Alltag und lassen eine gesetzlich verankerte Struktur vermissen. Hier wurde ein Dauerprovisorium geschaffen. Anlässe, sich für die eigenen Interessen starkzumachen, gibt es also genug. Wie die Mitbestimmungsmöglichkeiten der OGS-MitarbeiterInnen ausgestaltet sind, hängt jedoch von der Einstellung der Schulleitung ab. PädagogInnen im Offenen Ganztag können kaum Druck durch Streik  ausüben wie zum Beispiel Kita-Beschäftigte, denn bei vielen Trägern gibt es keine Tarifbindung und dementsprechend auch keine Tariferhöhungen. Für manche MitarbeiterInnen hat sich ihr Lohn seit Beginn der OGS nicht verändert. Sie blieben über viele Jahre bei dem Gehalt von BerufsanfängerInnen hängen, das zudem von vornherein weit unter dem Tarif liegt und bei dem es keinerlei Erhöhungen im Laufe der Jahre gibt.
Auch auf Ebene der sozialen Anerkennung gibt es  kaum Gleichberechtigung. Häufig werden OGS-MitarbeiterInnen vom Personal der Schulen zwar als willkommene Unterstützung gesehen, nicht aber als gleichwertige PädagogInnen. Dies ist mitunter auch dem Fakt geschuldet, dass die finanziellen Mittel ausschließlich in die Quantität und nicht in die Qualität des Offenen Ganztags geflossen sind. Vor allem in Großstädten ist die Nachfrage an Ganztagsplätzen enorm angestiegen, was zu einem rasant schnellen Ausbau des Angebots geführt hat, während qualitative Standards auf der Strecke geblieben sind.
Um die Arbeit in der OGS nicht nur aufrechterhalten zu können, sondern auch um dabei den gestiegenen pädagogischen Ansprüchen gerecht zu werden, braucht es eine Tarifbezahlung der PädagogInnen, eine Gesetzesgrundlage speziell für den Offenen Ganztag, gesetzliche Qualitätsstandards, eine ausreichende Stundenanzahl, den Ausbau von Räumlichkeiten, eine ausreichende Finanzierung für Ausstattung sowie einen angemessenen Personalschlüssel. Auf diese Weise können auch die Beschäftigten endlich die Wertschätzung erfahren, die ihre Arbeit seit nunmehr 13 Jahren verdient.

Sandra Herbst
Diplom-Pädagogin, OGS-Leitung und Betriebsrätin

Sybille Melanie Flint
Erzieherin und langjährige Gruppenleitung, aktuell freigestellte Betriebsrätin bei einem großen Kölner Träger

Fotos (v. o. n. u.): time., prokop / photocase.de

 

Aus dem Aufgabenspektrum von OGS-Beschäftigten

Zusammenführung und Anleitung einer bis zu 30 Kinder starken Gruppe mit unterschiedlichen gesellschaftlichen, sozialen und religiösen Hintergründen // Anleitung des Gruppenalltags mit Essen, Hausaufgaben, Ausflügen und Angeboten //  Wochenplanung //intensive Betreuung von Inklusionsprozessen // Erarbeitung und Durchführung von Bildungsprojekten und sozialem Lernen // Analyse von soziokulturellen Hintergründen und gruppendynamischen Prozessen // Erarbeitung von langfristigen Projekten als Bildungseinrichtung nach dem Leitbild des Trägers und der Konzeption der Einrichtung //  Förderung von Selbstwert, Partizipation und Selbstständigkeit jedes einzelnen Kindes //  Präventionsarbeit //  Kinderfalldokumentation //  Leitung von Elternsprechtagen //  Elterngespräche und Zielvereinbarungen //  Ausarbeitung von Förderplänen und Entwicklungsdokumentation // 
Planung, Koordinierung und Durchführung von AGs und Ferienangeboten //  Teamsitzungen //  Super-
vision //  Fortbildungen //  Arbeitskreise //  Kinderfallbesprechungen //  Personalverantwortung //    permanente Wachsamkeit und Ansprechbarkeit //  Austausch mit LehrerInnen, SchulsozialarbeiterInnen, Jugendamt, TherapeutInnen, FamilienhelferInnen, InklusionshelferInnen und Eltern

Gesonderte Vorbereitungszeit ist für diese Aufgaben nicht vorgesehen. In der Regel wird deshalb ein großer Teil der Vorbereitung während der pädagogischen Arbeit und Aufsicht der Kinder erledigt, da bei der geringen Stundenzahl wenig bis keine Ressourcen dafür bleiben.

3 Comments
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Kommentare (3)

  • Sandra Gerards Ein sehr guter Beitrag der die, schlechten, Arbeitsbedingungen und den großen Aufgabenbereich von OGS Mitarbeitern beschreibt.
    Es wird echt Zeit, dass sich hier etwas ändert.


  • Alexandra Klein Ein sehr guter Beitrag und leider hat sich in der ganzen Zeit dort auch nichts getan. Im Gegenteil es ist aktueller denn je und ich würde mir wünschen, dass gerade jetzt dies um so lauter auf politischer Ebene besprochen wird. Wenn es den Nachmittag in Schile nicht gäbe, dann können wir gesellschaftlich und wirtschaftlich einpacken. Zeigt uns das nicht gerade Corona?!


  • Beate V. Die meisten haben einen 450 € Job und arbeiten nur 10 Stunden. ( Minijob), nicht 25 oder 39 Stunden.
    Ich bin Erzieherin, arbeitete 16 Jahre so dort und habe dadurch zusätzlich eine weitere Stelle bei einem anderen Träger angetreten.
    Nachdem der Träger der ogs nicht mehr weiterbeschäftigt werden sollte, wurde auch ich nach 16 Jahren sowie der Rest des Teams vom
    Träger gekündigt.
    Wer findet so etwas attraktiv. ?
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