Schulen mit Teilstandorten: Konzeptlose Sparwut

Schulen mit Teilstandorten

Kolleg*innen, die in der Fünfminutenpause hektisch durch das Stadtgebiet rasen. Schulleitungen, die überall gleichzeitig sein sollten. Um Schließungen zu vermeiden, entstehen in NRW immer mehr Schulen mit Teilstandorten – acht Dependancen sind der derzeitige Spitzenwert. Besonders häufig betroffen sind Hauptschulen. Die nds sprach mit Henner Höcker, Leiter der Fachgruppe Hauptschule der GEW in Essen, über Ursachen und Auswirkungen des Abzweigwahns.

nds: Immer mehr Hauptschulen werden zu Schulen mit mehreren Teilstandorten. Warum?

Henner Höcker: Konzeptlose Sparwut. Kurzsichtiges Verwaltungshandeln, getragen von Ideenlosigkeit und Unkenntnis der Schulrealitäten. Feigheit vor schulpolitischen Strukturreformen und Angst vor Protesten der Eltern und dem Widerstand der hasenfüßigen Lokalpolitik. Aber es gibt auch die legitime Furcht vor langen Schüler*innentransportwegen. Die Schule soll so lange wie möglich im Dorf beziehungsweise Stadtteil bleiben, auch wenn sie nur noch wenig nachgefragt wird. Dependancen sind Notbehelfe, wenn man Grundsatzentscheidungen scheut und die Hauptschule langsam niedergehen lässt. In Essen läuft das so.

Wie ist die Situation dort?

Ende der 1980er Jahre fing man in Essen mit den Abzweiglösungen an. Das massive „Hauptschulsterben“ verstärkte sich. Sieben der damals verbliebenen 27 Hauptschulen bekamen Abzweige. Viele aufgegebene Hauptschulstandorte wurden dann wiederum häufig Abzweige für andere Schulformen, wenn die Entfernung halbwegs passte. Unfassbar ist heute die Haltung des damaligen Schuldezernenten, der Dependancen als „letzten Schrei“ der pädagogischen Innovation pries. Pädagogische Bedenken wurden rüde vom Tisch gewischt. Nicht verschweigen darf man, dass manche funktionierende Hauptschulstandorte neuen Gesamtschulen Platz machen mussten. Die Kollegien erfuhren oft erst aus der Presse, was aus ihrem Standort werden sollte.
2017 sind noch drei Hauptschulen in Essen übrig geblieben. Sie werden von circa zwei Prozent eines Sekundarstufe-I-Jahrgangs besucht. Eine der Hauptschulen hat drei Standorte. Eine dieser Dependancen war bis zum letzten Schuljahr noch selbstständig und liegt circa neun Kilometer entfernt in einem anderen Stadtteil!

Was bedeutet die Arbeit an Teilstandorten für Lehrkräfte und Schulleitungen?

Im vorigen Schuljahr hastete ich zweimal pro Woche in der Fünfminutenpause von einem Standort zur Dependance.  Bei bester Kondition war es zu Fuß in sechs Minuten zu schaffen, über einen Schleichweg. Per Auto dauerte es länger. Hektik, verkürzte Pausen, stressiges Unterwegssein, Probleme mit der Beaufsichtigung bei dieser Form von Stundenwechsel ... Das sind unfassbare Zustände.
Die oft unvollständigen Schulleitungen sollen gleichzeitig an allen Standorten sein. Planerisch versuchen sie, übelste Zeitnot zu verhindern. Man behilft sich durch Faxen, Anrufen und Whatsappen. Es ist jedoch eine logistische Unmöglichkeit. Die Folge sind Qualitätsverlust im Unterricht und zunehmende Disziplinprobleme. Abzweige entwickeln naturgemäß ein Eigenleben. Hauptschulkollegien bestehen aus absoluten Pragmatiker*innen und so werden Leitungsaufgaben von den Kolleg*innen vor Ort übernommen – unentgeltlich. Manche*r Hausmeister*in oder  Sozialarbeiter*in nimmt notgedrungen Rektorenfunktionen wahr.
Übrigens: „Meine“ Dependance wurde geschlossen; die damalige Hauptstelle wurde selbst zum Abzweig. Die Zentrale ist jetzt, wie gesagt, neun Kilometer entfernt!

Was müsste sich verändern, um die Qualität von Schule und Unterricht auch an Schulen mit Teilstandorten sicherzustellen?

Unabdingbar sind genügende, zusätzliche Stellen für die Schulleitungen und optimierte Pläne. Zusätzliche Zeitressourcen für Abzweigschulen müssen her und auch für die Koordination der geteilten Kollegien nutzbar sein. Durch vernünftige Angebote sollten Kolleg*innen für Leitungsaufgaben motiviert werden. Und dabei muss gelten: nicht kleckern! Was nützt die A-Aufstockung der Rektor*innen, wenn die Konrektor*innen und die Ersatzleitungen vor Ort leer ausgehen?
Wenn man jedoch die extrem gewachsenen Zusatzbelastungen der Hauptschulkollegien durch Inklusionsaufgaben und Beschulung von Geflüchteten sieht, ist dieses elende Dependancen-Gehampel nur noch das Pünktchen auf dem i. Und das Ganze in der Endphase einer Schulform, der man weiß Gott alles aufgeladen hat, was andere nicht wollten oder konnten. Vielleicht sollte die Politik einfach endlich mal ehrlich sein und längerfristige Perspektiven entwickeln –
jenseits der noch bestehenden Hauptschulen. Es ist „Panhas am Schwenkmast“, wie man im Ruhrgebiet sagt. In Düsseldorf kann man’s ja mal googeln.

 

Die Fragen für die nds stellte Anja Heifel.

 

Foto: go2 / photocase.de

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Kommentare (1)

  • Ruth Wo der Henner Recht hat, hat er Recht! Hier geht es doch wirklich nur um die "Kohle", die Chancen unserer Kinder spielen doch an der Hauptschule kaum noch eine Rolle. Die Politik sollte sich schämen und endlich Bedingungen schaffen, in denen Lehrer*innen wirklich wieder ihre Schüler*innen fördern können und selber dabei gesund bleiben. Unter den jetzigen Arbeitsbedingungen ist das Burnout vorprogrammiert oder du gehst in die innere Emigration.
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