Generationengerechtigkeit: Heute schon an morgen denken

In der Demokratie dreht sich alles um das Hier und Jetzt. Politik wird für heutige Wähler*innen gemacht. Doch was ist mit denen, die heute noch nicht wählen dürfen oder die noch gar nicht geboren sind? Ein Plädoyer für einen Sozialstaat, in dem das gerechte Miteinander von Jung und Alt gelingt.

Die Gegenwartspräferenz der Staatsform Demokratie ist ein Problem, das repräsentative und direkte Demokratien gleichermaßen plagt. Sowohl Wähler*innen als auch Gewählte streben tendenziell Vorteile an, die in der Gegenwart oder nahen Zukunft, zumindest aber während ihrer Lebensspanne anfallen. Auch Verbände fordern gegenwartsorientierte Politik. Das „Lieber-jetzt-als-später-haben-wollen“ scheint ein tief verankerter Wesenszug des Menschen zu sein, vermutlich sogar eine anthropologische Konstante. Vor die Wahl gestellt, eine bestimmte staatliche Leistung jetzt oder zu einem etwas späteren Zeitpunkt beziehen zu dürfen, entscheiden sich so gut wie alle Menschen für die Gegenwart. Im Werben um Stimmen muss sich jede Partei auf die Vorlieben der gegenwärtigen Wähler*innenschaft konzentrieren. Zukünftige Personen sind heute keine Wähler*innen und können nicht in das Kalkül zur Maximierung von Stimmen einbezogen werden.

Künftige Generationen haben das Nachsehen

Diese mangelnde Repräsentation künftiger Generationen führt dazu, dass Interessenkonflikte durch die Mehrheit der Wahlberechtigten entschieden werden, nicht durch die Mehrheit der Betroffenen. Könnten die künftigen Staats-bürger*innen ihre Interessen geltend machen, wären die Mehrheitsverhältnisse bei wichtigen politischen Entscheidungen der Gegenwart anders.
Als Beispiel dafür mag die Energiepolitik dienen: Die Energiegewinnung durch fossile Energieträger ermöglicht heutigen Generationen einen hohen Lebensstandard, nimmt aber dafür gravierende Nachteile in der mittelfristigen Zukunft in Kauf. Spätestens seit 1990 der erste Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) einen Zusammenhang zwischen anthropogenen Treib-hausgasen und Klimawandel belegte, kann sich die heute lebende Generation nicht mehr auf Unwissenheit berufen. Die heutige Energiepolitik verstärkt den natürlichen Treibhauseffekt und lässt die weltweite Durchschnittstemperatur ansteigen. Selbst wenn nur diejenigen künftigen Individuen, die in den nächsten 200 Jahren geboren werden, bei der nächsten Bundestagswahl über die heutige Energie-politik mit abstimmen könnten, würden alle Parteien ihre Parteiprogramme umschreiben, um einen viel schnelleren Rückgang der Treibhausgasemissionen durchzusetzen. Auch die Staatsverschuldung würde schneller zurückgeführt als derzeit geplant.
Das alles spricht dafür, die Demokratie weiterzuentwickeln. Demokratie zu reformieren heißt nicht, sie infrage zu stellen. Ihre Kernbestandteile gehören selbst zu den wertvollsten Hinterlassenschaften, die wir künftigen Generationen vererben können.

Auf dem Weg zum generationengerechten Sozialstaat

Fragen der Generationengerechtigkeit stellen sich aber nicht nur zwischen heute lebenden und noch nicht geborenen Menschen, sondern auch zwischen Jung und Alt. Nur zwischen gleichaltrigen Zeitgenossen stellen sich nie Fragen der Generationengerechtigkeit. Zwischen Gleichaltrigen – das heißt innerhalb einer Generation – stellen sich die anderen, wohlbekannten Sozialstaatsfragen, nämlich die der intragenerationellen Gerechtigkeit: etwa zur Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen zwischen Männern und Frauen oder zwischen Einkommensschwachen und -starken.
Es gibt also auf der einen Seite die Sphäre der intragenerationellen Gerechtigkeit und auf der anderen die Sphäre der intergenerationellen Gerechtigkeit, in der sich wiederum „Gerechtigkeit zwischen Heute und Morgen“ und „Gerechtigkeit zwischen Jung und Alt“ unterscheiden lässt. Letztere ist für den sozialstaatlichen Kontext besonders wichtig.
Wer jetzt jung ist, wird später alt sein; und wer heute alt ist, war früher jung. Die Studie „Eine Theorie der Generationengerechtigkeit“ aus dem Jahr 2012 belegt: Dieser „Seitenwechsel“ hat entscheidende Auswirkungen darauf, was als (nicht) generationengerecht gelten kann. Nur Vergleiche von Gesamtlebensverläufen sind aussagekräftig. Ungleichheiten zwischen Jung und Alt sind unproblematisch, solange die Relationen gleich bleiben.

Einkommen und Vermögen: Generational Gaps schließen

Dies soll am Beispiel der intergenerationellen Vermögensverteilung illustriert werden. Während in Ostdeutschland das Vermögen über alle Generationen relativ gleich (niedrig) verteilt ist, gibt es im Westen große Unterschiede: Die reichste Altersgruppe, die 80- bis 84-Jährigen, besitzt pro Kopf durchschnittlich ein Nettovermögen von 160.000,- Euro. Alle Kohorten über 50 Jahre besitzen im Durchschnitt mehr als 100.000,- Euro. Dagegen besitzt die Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen pro Kopf weniger als 30.000,- Euro. Das allein ist noch nicht ungerecht – vorausgesetzt die Chance jeder jungen Generation, selbst im Lebensverlauf Vermögen anzusparen, ist nicht kleiner als die Chance der jeweils vorigen Generation. Aber gerade dies ist in Deutschland nicht mehr der Fall. 1983 waren die Vermögenswerte der älteren Kohorten ungefähr doppelt so hoch wie die der jüngeren. Inzwischen sind sie mehr als vier Mal so hoch. Und die Schere zwischen den Generationen öffnet sich ständig weiter, trotz des Diskurses über Altersarmut. Bei den Einkommen sieht es nicht viel besser aus: Nach Ergebnissen von Lebenszyklus-analysen kann die junge Kohorte der Gegenwart nicht mit den gleichen Einkommenssteigerungen rechnen, die ihre Vorgänger*innen in ihrem Berufsleben verbuchen konnten. 1986 verdienten die 25- bis 40-Jährigen in Deutschland noch 11,8 Prozent weniger als die 50- bis 65-Jährigen. Heute sind es 24,2 Prozent. Die Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern ist als Gender Pay Gap seit geraumer Zeit ein Thema. Es wird Zeit, dass auch der Generational Pay Gap und der Generational Wealth Gap angegangen werden.
Was muss passieren, damit diese Generational Gaps, die auf die Lebenszeit bezogenen Einkommens- und Vermögensscheren zwischen Jung und Alt, wieder schrumpfen? Gefragt sind unter anderem Maßnahmen der Tarifpartner*innen: In der Arbeitswelt ist das Senioritätsprinzip abzuschaffen, etwa beim Entgelt, bei Urlaub und bei Abfindungen. Die Einstiegslöhne sollten stärker steigen als die Löhne älterer Arbeitnehmer*innen. Bei betriebsbedingten Kündigungen sollte nach sozialen Kriterien differenziert werden, etwa nach der Zahl der zu versorgenden Angehörigen. Ein fortgeschrittenes Alter allein darf kein ausschlaggebendes Kriterium sein. Ein alleinstehender 50-Jähriger darf zum Beispiel nicht allein aufgrund seines Alters einen stärkeren Kündigungsschutz genießen als eine alleinerziehende 25-Jährige. Sachgrundlose Stellenbefristungen, unter denen junge Menschen besonders leiden, sind zu verbieten. Ein Mindestalter für den Mindestlohn darf es nicht geben, denn er muss auch junge Menschen vor Armut und Ausbeutung schützen. Die härtere Sanktionierung junger Arbeitssuchender durch die Jobcenter ist ungerechtfertigt und muss beendet werden. Das Verbot der Diskriminierung nach Lebensalter ist im Gleichheitsgebot des Grundgesetzes (Artikel 3) zu verankern.

Staatsausgaben: Gerechtigkeit messbar machen

Wenn es um die Generationengerechtigkeit von staatlicher Ausgabenpolitik geht, ist der „Senioren-Bias-Indikator für Sozialausgaben“ (EBiSS) die entscheidende Messzahl. Dieser Indikator entspricht dem Quotienten aus den Anteilen an Steuern und Abgaben, die Senior*innen im Verhältnis zu Nichtsenior*innen zugutekommen. Um Länder unabhängig von ihrer Altersstruktur vergleichen zu können, ist die demografische Struktur im EBiSS rechnerisch bereinigt.
Wie der EBiSS funktioniert, erläutert ein einfaches Rechenbeispiel: In Staat A besteht zum Zeitpunkt t1 die Bevölkerung je zur Hälfte aus Jüngeren und Älteren. Die staatlichen Ausgaben kommen proportional zu je 50 Prozent diesen beiden Bevölkerungsgruppen zugute. Der EBiSS hat dann den Wert 1. Zwischen t1 und t2 altert die Bevölkerung von Staat A, sodass sie zum Zeitpunkt t2 zu einem Drittel aus Jüngeren und zu zwei Dritteln aus Älteren besteht. Wenn nun zwei Drittel der staatlichen Ausgaben auf die Älteren entfallen und ein Drittel auf die Jüngeren, dann verändert sich der EBiSS von Staat A nicht. Wenn aber die Älteren aufgrund ihrer Mehrheit nun mehr als zwei Drittel der staatlichen Ausgaben in Anspruch nehmen, dann steigt der EBiSS an. Er ist damit ein guter Indikator, wie weit junge Menschen sich noch politisch durchsetzen können, wenn es um die Verteilung knapper staatlicher Ressourcen geht. Je ungünstiger dieser Wert, desto eher kann man von einer „Gerontokratie“ sprechen.
In alternden Gesellschaften muss der Blick auf die innere Zusammensetzung der heute lebenden Wählerschaft gerichtet werden. Bei der letzten Bundestagswahl waren rund 34 Prozent der Wahlberechtigten über 60 Jahre alt. Rund 15 Prozent waren unter 30. Die Jüngeren sind in unserer Mehrheitsdemokratie inzwischen in einer strukturellen Minderheit. Damit unsere Demokratie nicht zur Gerontokratie wird, brauchen wir ein Umdenken bei den Älteren. Sie sollten darauf verzichten, sozialpolitische Maßnahmen zu fordern, die (nur) der eigenen Altersgruppe nutzen.


Dr. Dr. Jörg Tremmel ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen.


Foto: onemorenametoremember / photocase.de

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