Potenziale entwickeln – Schulen stärken
Schulentwicklung in herausfordernden Lagen
Ausgehend von Befunden der Large Scale Assessments, die wiederholt einen Zusammenhang zwischen dem Schulerfolg und Merkmalen des Schulstandorts belegen konnten, sind sogenannte Schulen in herausfordernden Lagen in den Blick der deutschsprachigen Schulforschung geraten.
Als herausfordernd kann mit Blick auf den Sozialraum zunächst eine Lage in ökonomisch, kulturell und sozial schwachen urbanen Ballungsräumen beschrieben werden. Internationale Studien zeigen zudem, dass Schulen mit derart herausfordernden externen Bedingungen oftmals zusätzlich ungünstige interne Prozess- und Gestaltungsqualitäten aufweisen. Dieser Zusammenhang erscheint herausragend prekär vor dem Hintergrund, dass gerade Schüler*innen an benachteiligten Standorten von hohen schulischen Gestaltungs- und Prozessqualitäten besonders stark profitieren.
Für Lernende an diesen Schulen zeichnet sich somit eine mehrfache Benachteiligung ab: Zunächst sind sie herkunftsbedingt schlechter ausgestattet mit in Schule verwertbarem Wissen, mit an schulische Anforderungen anschlussfähigen Handlungs- und Verhaltensweisen sowie mit schulrelevanten Kapitalien. Zusätzlich besuchen sie überdurchschnittlich häufig Schulen, die schwächere Prozessqualitäten aufweisen.
Merkmale effektiver Schulen: Rolle der Schulleitung und Schulkultur
Jedoch gibt es auch Schulen, die trotz nachteiliger Lage gute Prozessqualitäten aufweisen. Zentrale Bedeutung scheint hier dem Führungsstil von Schulleitungen zuzukommen. So profitieren Schulen besonders von einem partizipativen und distributiven Führungsstil, bei dem Aufgaben an spezielle Arbeitsgruppen delegiert und demokratische Entscheidungsprozesse gefördert werden.
Effektive Schulen in herausfordernden Lagen zeichnen sich zudem durch einen konstruktiven Umgang mit Evaluationsdaten aus. Dabei scheint es wichtig zu sein, die eher abstrakten Datenbestände, bezogen auf die schulspezifische Situation, zu rekontextualisieren und konkrete Zielformulierungen und Entwicklungsschritte auf der Einzelschulebene abzuleiten. Zudem verfügen erfolgreiche Schulen in herausfordernder Lage oftmals über eine positive Schulkultur, die sich durch ein wertschätzendes Klima, vertrauensvolle Zusammenarbeit und geteilte Visionen auszeichnet.
Klarheit und Struktur im Unterricht: Auf dem Weg zum selbstständigen Lernen
Mit Blick auf den Unterricht scheinen Klarheit und Strukturiertheit, effektive Klassenführung, Konsistenz im unterrichtsmethodischen Vorgehen und eine möglichst effektive Nutzung der Unterrichtszeit besonders wichtig. Schüler*innen aus bildungsfernen Milieus verfügen oftmals nicht über metakognitive und Selbstmanagementstrategien, die eine Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz offener und eigenverantwortlicher Lernsettings darstellen. Hilfreich können daher zunächst stärker strukturierte Lernprozesse in Verbindung mit kurzfristigen Lernzielen und unmittelbarem Feedback, eine höhere Anwendungsorientierung und verstärkter Lebensweltbezug sein.
Wichtig scheint dabei eine didaktische Einbettung in ein Konzept des Scaffoldings zu sein, dessen Ziel es ist – ausgehend von intensiven, engmaschigen Unterstützungsstrukturen – langfristig zu selbstständigem und freiem Lernen zu gelangen. Förderlich wirken zudem hohe Leistungserwartungen, wohingegen eine systematische Unterforderung negative Konsequenzen nach sich zieht. Dies kann entstehen, wenn Schüler*innen beispielsweise aufgrund geringerer sprachlicher oder bildungssprachlicher Fähigkeiten unterschätzt werden. Hier kann der systematische Einsatz diagnostischer Verfahren hilfreich sein. Zudem scheint der positiven und wertschätzenden Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler*innen eine wichtige Rolle zuzukommen.
Insgesamt implizieren die umrissenen Qualitätsbereiche hohe Anforderungen an Schulen mit herausfordernden Standortbedingungen. Einem Großteil dieser Schulen scheint es indes nicht oder nur sehr schwer aus eigener Kraft zu gelingen, herkunftsbedingte Ungleichheiten durch spezifische und besonders qualitätsvolle Gestaltungs- und Prozessmerkmale an- oder auszugleichen.
Eng verzahnt: Schulen, Wissenschaft, Praxis und Administration
Das Projekt „Potenziale entwickeln – Schulen stärken“ (PeSs) ist als integriertes Schulforschungs- und Entwicklungsprojekt konzipiert und fokussiert die enge Zusammenarbeit von Schulen, Wissenschaft, Praxis und Administration. Ein wichtiges Element des Projekts stellt eine empirische Orientierung dar, die sich in unterschiedlichen Konzeptionsteilen wiederfinden lässt. Ziel ist es, Schulen möglichst adaptiv zu unterstützen und dabei so genau wie möglich an den einzelschulischen Problemlagen anzuknüpfen. Hierzu werden die Projektschulen zunächst datengestützt zu überregionalen und schulformübergreifenden Netzwerken zusammengeschlossen. Jeweils ein Netzwerk bilden dabei solche Schulen, die hinsichtlich der einbezogenen Qualitätsmerkmale und schulischer Kontextbedingungen ähnliche Entwicklungsprofile aufweisen.
Als Datengrundlage für die Netzwerkzusammenstellung wurden die in der ersten Befragungswelle im Projekt generierten Daten von Lehrkräften, Schüler*innen und deren Eltern an 36 Schulen der Sekundarstufe I in der Metropole Ruhr verwendet. Die Netzwerke dienen der kooperativen Erarbeitung der Themenschwerpunkte, die von den Teilnehmenden durch kommunikative Validierung der erhobenen Daten selbst festgelegt wurden. Organisiert, moderiert und dokumentiert werden die Netzwerke durch das wissenschaftliche Projektteam der AG Bildungsforschung an der Universität Duisburg-Essen und dem Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund.
Schulentwicklung im Fokus: Netzwerktreffen und Einzelschulbegleitung
PeSs nimmt parallel zur Netzwerkebene einzelschulische Entwicklungsprozesse in den Blick, da vielfach Schwierigkeiten beim Transfer von Netzwerkinhalten in Schule beobachtet werden konnten, wenn (zunächst) ausschließlich das Netzwerk im Fokus von Entwicklungsbemühungen steht. Um den Transfer von Netzwerkergebnissen in die Schulen zu unterstützen und die Aktivierung weiterer schulischer Akteure zu forcieren, wird eine Prozessbegleitung auf Einzelschulebene realisiert. Diese wird im Rahmen der Kooperation mit der Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule in NRW (QUA-LiS) durch die Bereitstellung von sechs begleitenden Lehrkräften ermöglicht.
Neben der Teilnahme an den Netzwerkt-reffen erfolgen pro Kalenderjahr mindestens drei Besuche an jeder Einzelschule. Dabei werden zunächst die Festlegung kurz-, mittel- und langfristiger Ziele, die Auswahl von transferwürdigen Inhalten sowie die für die Implementation notwendigen Kommunikations- und Organisationsstrukturen der Schulen in den Blick genommen. Dies erfolgt in formalen Gruppierungen, bestehend aus der Schulleitung, den Mitgliedern der Steuergruppe und den Netzwerkteilnehmenden.
Zusätzliche fachliche Expertise kann bei Bedarf sowohl bei Netzwerktreffen als auch in den Einzelschulen hinzugezogen werden. Vorzugsweise wird dabei auf Referent*innen – und bei verstärktem Bedarf an Prozessbegleitung oder dem Aufbau von Organisationsstrukturen – auf Schulentwicklungsberater*innen aus dem Regelsystem zurückgegriffen. Darüber hinaus bringen auch externe Expert*innen und Fortbildner*innen Fachwissen ein.
Ziele des Projekts sind unter anderem, Hin-weise auf Gelingensbedingungen und Stolpersteine von evidenzorientierter Schulentwicklung in Schulen in herausfordernder Lage zu gewinnen und Voraussetzungen der Aktivierung dieser Schulen zur Eigenentwicklung herauszuarbeiten. Zudem liegt ein Erkenntnisinteresse in der Identifikation spezifischer Entwicklungsbedarfe und passender Unterstützungsformate für Schulen in herausfordernder Lage, die dem Regelsystem rückgespiegelt werden können.
Dr. Nina Bremm
Operative Leitung des Projekts "Potenziale entwickeln – Schulen stärken"
Foto: fotogaby / istockphoto.com
Landtagswahl 2017 für den Sozialindex nutzen!
Seit mehr als zehn Jahren wissen wir empirisch belegt, dass die Zugehörigkeit zu sozial benachteiligten Schichten in Deutschland besonders häufig zu Bildungsarmut führt. Aus Sicht der GEW NRW ist der Landtagswahlkampf die beste Bühne, um darüber zu diskutieren, mit welchen Instrumenten die Landespolitik gegensteuern will.
Alle Parteien, die in den letzten zehn Jahren Regierungsverantwortung in NRW trugen, nutzten das Instrument Sozialindex. Doch sie alle agierten aus Sicht der GEW NRW mit unzureichendem Mut und ignorierten die von der Wissenschaft zur Verfügung gestellten Erkenntnisse. Im Schuljahr 2015 / 2016 stehen laut Erläuterungsband zum Haushalt 916 Stellen für die Grundschulen und 357 Stellen für die Hauptschulen zur Verfügung – zusammen weniger als 80 Prozent der Stellen als bei Einführung des Sozialindex durch CDU und FDP in 2006 / 2007. Die Stellenzahl in diesen beiden Schulformen sinkt, alle anderen Schulformen gehen erneut leer aus. Die Zweckbindung der zusätzlichen Ressourcen ist eng definiert.
Die Zuweisung der Stellen durch die Bezirksregierungen an die Schulämter erfolgt unter Berücksichtigung von vier soziodemografischen Merkmalen: Arbeitslosen- und Sozialhilfequote, Migrantenquote (AusländerInnen und AussiedlerInnen) sowie Anteil der Wohnungen in Einfamilienhäusern. Die zielgenaue Steuerung der Stellenzuweisung an die einzelne Schule erfolgt auf der Grundlage der schulaufsichtlichen Erfahrungen und Vor-Ort-Kenntnissen.
Das ist unzureichend. Es ist heute möglich, einen schulbezogenen Sozialindex zu nutzen. Die sozio-
demografischen Merkmale müssen kleinräumiger verwandt und durch schulische Daten ergänzt werden. Ein Beispiel: Jahr für Jahr führen die Schulen Lernstandserhebungen und Zentrale Prüfungen durch.
Die Ergebnisse sind transparent. Jahr für Jahr sehen wir: Es gibt Schulstandorte und Schulformen, in denen SchülerInnen signifikant geringere Leistungen erbringen als anderswo. Seit 2012 wird mit einem neuen Verfahren der Bewertung der Standortqualität von Schulen gearbeitet, das auf den Daten der Anzahl der LeistungsempfängerInnen zur Sicherung des Lebensstandards und dem Anteil der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte basiert. Damit werden insbesondere die Problemstandorte landesweit sichtbar. Und niemand reagiert.
Wir werden die Parteien im Landtagswahlkampf fragen, ob sie das endlich ändern wollen.
Michael Schulte
Referent für Schulrecht der GEW NRW
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