Individuelle Förderung braucht gute Konzepte
Heterogenität an der Willy-Brandt-Schule in Mülheim an der Ruhr
Wenn leistungsstarke und leistungsschwache Schüler*innen gemeinsam lernen, sehen Unterricht und Ganztagsangebote anders aus. Heterogenität im Klassenraum braucht eine besondere Behandlung und Struktur. Schulleiterin Ingrid Lürig kennt sich mit dieser Herausforderung bestens aus. Im nds-Interview verrät sie das Konzept der Willy-Brandt-Gesamtschule und ihre Wunschliste für einen wirksamen schulscharfen Sozialindex.
nds: Die Willy-Brandt-Schule liegt im Norden Mülheims – ein schwieriger sozialer Kontext, betrachtet man zum Beispiel die SGB-II-Dichte. Welche Schüler*innen besuchen Ihre Schule?
Ingrid Lürig: Die Schule liegt in einem eher gemischten sozialen Umfeld des Standorttyps 4. Die insgesamt 1.045 Schüler*innen bilden eine sehr heterogene Schülerschaft: Auf der einen Seite kommen aus dem angrenzenden Oberhausener Süden sozial stärkere Schüler*innen. Demgegenüber stehen Kinder und Jugendliche aus dem sozial meist schwachen Mülheimer Norden. Insgesamt ergibt sich jedoch eigentlich eine gesunde Mischung, da wir aus Oberhausen stark nachgefragt werden.
Ein Drittel der Schüler*innen hat einen Migrationshintergrund. Einige von ihnen leben in der zweiten oder dritten Generation hier und beherrschen die deutsche Sprache sehr gut. Wir haben dagegen aber auch Kinder, die vergleichsweise schlecht Deutsch sprechen und sich dann mit der Texterschließung im Unterricht schwer tun – beispielsweise in Fächern wie Mathematik, Erdkunde oder Politik. In Situationen wie diesen ist es dann schon eine Herausforderung, mit den bestehenden Ressourcen und Mitteln entsprechende Förderung zu leisten.
Unsere Schule hat einen guten Ruf, sodass es eine relativ hohe Nachfrage auch von leis-tungsstarken Schüler*innen und ihren Eltern gibt. Deswegen entscheidet ein Losverfahren bei der Anmeldung über die Platzvergabe. Um eine gewisse Heterogenität zu erreichen, gibt es dabei zwei leistungsbezogene Lostöpfe.
Für die Stadt Mülheim existiert ein Verfahren zur sozialen Indexbildung für Bildungseinrichtungen am Beispiel von Grundschulen. Der Sozialindex dient als Grundlage für eine bedarfsgerechte Ressourcenverteilung und kann auch auf weiterführende Schulen übertragen werden. Profitiert Ihre Schule davon?
Im Moment wird das Verfahren tatsächlich nur für Grundschulen angewandt – unsere Schule profitiert also nicht davon. Obwohl die Daten dafür schon zur Verfügung stehen, werden sie leider im Bereich der Sekundarstufen I und II noch nicht hinreichend genutzt. Sinnvoll wäre aus meiner Sicht, beispielsweise die Ergebnisse der zentralen Prüfungen – als Kriterium für das Abschneiden der Schülerschaft – mit den Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten zu kombinieren. So könnte man auch bei uns vergleichbare Ergebnisse erzielen und dementsprechende Ressourcen zur Verfügung stellen. Das wäre sehr hilfreich, da in unserem Stadtteil viele Schüler*innen mit Migrationshintergrund leben und eine relativ hohe Dichte an geflüchteten Kindern und Jugendlichen besteht. Die Mittel an diese Situation anzupassen, um bedarfsgerechte Förderung leisten zu können, ist nur logisch.
Also wäre eine sozialindexbezogene Ressourcenverteilung auch für weiterführende Schulen Ihr Wunsch?
Unbedingt! An Schulen, die zu den Standorttypen 2 oder 3 zählen, wird sehr viel von Eltern übernommen, weil sie es sich leisten können. Bei uns muss die Schule das Meiste tragen. Wir haben beispielsweise keine Stelle für Schulsozialarbeit, da nicht auf die Lehrerstelle verzichtet werden kann. Uns fehlt es so schon an Lehrer*innen. Wenn wir ein vernünftiges Ganztagsangebot anbieten und die Lernzeiten ausreichend abdecken wollen, werden alle Lehrer*innen, die uns zustehen, auch komplett benötigt.
Wo setzen Sie mit individueller Förderung von Schüler*innen mit Migrationshintergrund oder mit Lernschwierigkeiten an? Welche Angebote existieren bereits, bei denen Sie sich mehr Unterstützung wünschen würden?
Wir haben einen Kooperationsvertrag mit den Grundschulen in der Umgebung geschlossen, damit wir uns noch enger daran orientieren können, was dort gemacht wird. Wir schauen, was wir aus den Programmen übernehmen können, wenn Schüler*innen in der fünften Klasse zu uns kommen. Einmal im Monat finden gemeinsame Schulleitungssitzungen statt. Dort treffe ich mich mit den beiden Schulleiterinnen der Grundschulen und wir besprechen, an welchen Stellen wir weiterarbeiten wollen.
Für leistungsstarke Schüler*innen bieten wir einen bilingualen Kurs in Englisch von Klasse 5 bis 10 an. Bei der Sprachförderung orientieren wir uns am Duisburger Sprachstandstest in Klasse 5 und 6. Die Kolleg*innen haben hier Fördermodule entwickelt, die sich aus allen Bereichen des Duisburger Sprachstandstests zusammensetzen. Dazu gehören die Bereiche Hören, Lesen, Rechtschreibung, Wortschatz und Grammatik. Wir schauen diese Tests durch und betrachten dann die Punkte, die in den einzelnen Bereichen verteilt werden. So sehen wir, in welchen Bereichen die Kinder Probleme haben, und können sie den jeweiligen Fördermodulen zuordnen. Ist dieses Modul durchlaufen, kann die nächste Baustelle angegangen werden. Das ermöglicht eine durchdachte individuelle Förderung jeder und jedes Einzelnen.
Wie sieht die Förderung jeder und jedes Einzelnen konkret aus?
In Zusammenarbeit mit den Grundschulen wurde zum Beispiel ein Mathewortspeicherheft für den Übergang der Klasse 4 in die Klasse 5 entwickelt. Dort werden Begrifflichkeiten eingetragen, die die Schüler*innen schon in der Grundschule kennengelernt haben und die anschließend in der weiterführenden Schule fortgeführt werden.
Zudem haben wir ein eigenes Konzept für Lernzeiten entwickelt, um den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, selbstständiges Arbeiten zu üben. Den neuen fünften Klassen werden bestimmte ritualisierte Abläufe vermittelt: Zu Beginn einer Lernzeit wird erst einmal sichergestellt, dass alle Schüler*innen genügend Platz haben, ihre Materialien auf den Tisch zu legen. Die Schüler*innen schreiben ihre Aufgaben dann selbst an die Tafel. Jedes Kind besitzt ein Logbuch, in dem all das festgehalten wird. Danach werden offene Fragen geklärt. Wissen alle genau, was sie bis wann erledigen müssen, kann es losgehen.
Einige der Kinder sind noch nicht so strukturiert und beginnen mit den Aufgaben, die sie am liebsten machen, statt mit den dringendsten. Ziel ist, dass sie in den 60 Minuten möglichst ohne zu sprechen eigenständig arbeiten. Das Konzept entwickelt sich Schritt für Schritt und am Ende des Schuljahres klappt es in diesem Rahmen schon ganz gut. Das Prinzip muss allen Kolleg*innen klar sein, denn es soll ebenfalls in Vertretungsstunden beibehalten werden, auch wenn es relativ aufwendig ist.
Wir sind gerade dabei, das Konzept für die Klassen 8 bis 10 zu verändern, weil dort andere Prioritäten gesetzt werden müssen. Die Schüler*innen dieser Jahrgänge haben schon gelernt, in welcher Reihenfolge sie ihre Aufgaben am besten abarbeiten. Hier ist es wichtiger herauszufinden, an welchen Stellen Defizite bestehen und wo mehr Unterstützung gefragt ist. Um all diese Bereiche besser abdecken zu können, wären mehr Lehrerstellen ein riesiger Vorteil.
Wenn Sie sich in Richtung schulbezogener Sozialindex etwas wünschen könnten, was wäre das?
Auf meinem Wunschzettel steht eine Menge. Wir fördern ja nicht nur, sondern wir fordern auch. Nicht nur leistungsschwächere Schüler*innen sollen dazu gebracht werden, stärkere Leistungen zu erbringen, auch leistungsstarke Schüler*innen müssen die Möglichkeit haben, ihre Leistungsgrenzen auszutesten. Das heißt, wir brauchen auch strukturierte Forderangebote. In einem gerechten Bildungssystem muss Ungleiches ungleich behandelt werden. Manche Kinder brauchen mehr, manche weniger Zeit.
Wir benötigen entsprechend die Zeit und die Mittel, das Kollegium in den Bereichen Förderung und Umgang mit Heterogenität auszubilden. Die Fortbildungsangebote existieren – keine Frage. Aber: Die Kolleg*innen müssen diese auch zusätzlich machen können. Es wäre natürlich toll, wenn sie die Angebote wahrnehmen könnten und den Teilnehmer*innen die Stunden angerechnet würden. Das ist politisch allerdings schwer durchzusetzen, weil Lehrer*innen eben da sind, um zu unterrichten – fortbilden sollen sie sich in den Schulferien. Hätten wir aber mehr Mittel und mehr Kolleg*innen, wäre es einfacher, mehr Lehrer*innen Fortbildungen zu bieten.
Außerdem könnten wir mit erweiterten Mitteln auch kleinere Klassen bilden. Wir hatten in den letzten Jahren in der Regel 30 oder 31 Schüler*innen pro Klasse. Erst zum Schuljahr 2015 / 2016 habe ich vier Klassen mit nur 29 Schüler*innen aufgenommen. Ein weiteres Stichwort ist die Inklusion: Für die Umsetzung brauchen wir mehr Sonderpädagog*innen. An einer Förderschule wären diese Schüler*innen gar nicht so weit gekommen wie bei uns – sie profitieren also auch davon. Zudem bräuchten wir Teams, die multiprofessionell arbeiten: Schulsozialarbeiter*innen, Sonderpädagog*innen, Erzieher*innen und Lehrer*innen sind nötig, um all diese Aufgaben besser angehen zu können.
Schön wäre außerdem mehr Autonomie und Eigenverantwortung der Schule. Wenn ich überlege, wie viele bürokratische Hürden ich manchmal nehmen muss und wie lange ich damit beschäftigt bin, würde ich mir das wünschen.
Die Fragen für die nds stellten Denise Heidenreich und Lea Bittner.
Fotos (v. o. n. u.): © peng wu / istockphoto.com, jianghaistudio / Fotolia.com
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