Soziologie sexueller Belästigung
YouToo
#Aufschrei. #MeToo. Diese feministischen Kampagnen prangerten in den vergangenen Monaten sexuelle Diskriminierung und sexualisierte Gewalt gegen Frauen an. Wie kann es in einer aufgeklärten Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter vermeintlich Konsens ist, zu solchen Grenzüberschreitungen und Übergriffen kommen? Die Kommunikation zwischen Frauen und Männern folge noch immer viel zu oft zweifelhaften Stereotypen, meint Soziologe Prof. Dr. Stefan Hirschauer.
Die öffentliche Diskussion von sexuellen Übergriffen wird aktuell vor allem mithilfe rechtlicher, moralischer und politisch-feministischer Kategorien geführt. Und Recht, Moral und Feminismus bedarf es auch, um Fällen von sexuellem Machtmissbrauch zu begegnen. Dabei berichten betroffene Frauen nicht nur von Aufdringlichkeit und Demütigungen, sondern auch von schweren Straftaten. Dass dies mit zum Teil jahrzehntelanger Verzögerung und im Rahmen medialer Tribunale anstatt vor Gerichten geschieht, ist bedauerlich, aber auch aus der tiefen Beschämung und aus den Mitteilungs-risiken der Betroffenen verstehbar.
Die anlässlich dieser und ähnlicher Fälle entstandenen feministischen Kampagnen wie #MeToo oder #Aufschrei sind Ausdruck und Motor eines Wertewandels im Geschlechterverhältnis. Sie verschieben durch die diskursive Aufarbeitung vergangener sexueller Gewalt das Unrechtsbewusstsein für Zukünftige. Die Kampagnen können Themen setzen, Fälle kumulieren und Narrative zutage fördern, die lange durch Scham und Macht blockiert waren. Sie absorbieren aber auch dringend benötigte Verstehensressourcen jenseits von Recht und Moral, um aus solchen und ähnlichen Fällen lernen zu können – über die wenig erhellenden Klischees der 1980er Jahre hinaus, dass Männer eben Männer seien und Frauen unterdrückt.
Für ein soziologisches Verstehen sexueller Übergriffe braucht es eine Spezifikation ihres Kontextes, zum Beispiel Paare, Familien, Kollegien oder Öffentlichkeit. Die aktuell fokussierten Affären zeigen hier Gemeinsamkeiten. So sind Film, Theater und Fernsehen Branchen, deren Dienstleister*innen, die Schauspieler*innen, immer auch als „expressives Körpermaterial“ gecastet werden. Außerdem gehört das Metier zu den Räumen, in denen Künstler*innen Normverletzungen großzügig zugestanden werden, und in denen sich Formen charismatischer Herrschaft entfalten lassen. Durch beides sind Übergriffe mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit in das Setting eingebaut – so wie die sexuellen Übergriffe von Priestern auf Jungen in einer zölibatären Männerkirche. Die entscheidende strukturelle Randbedingung ist aber natürlich, dass der Geschlechterproporz in Führungspositionen regelmäßig eher Männer zu Gatekeepern macht, die Macht gebrauchen und missbrauchen können, junge Frauen dagegen eher aufseiten der Abhängigen und Bedrängten platziert, vor allem wenn sie als prekär Beschäftigte wehrloser gegen Missbrauch sind. In diesen Abhängigkeitsbeziehungen gehören sowohl Formen des freiwilligen Tauschgeschäfts – Sex gegen Karrierechance – als auch des erzwungenen Arrangements – Karrierechance nur gegen Gefügigkeit – zu den bekannten Phänomenen.
Feministische Kampagnen: Frauen sind mehr als nur Opfer
Bei der feministischen Thematisierung der Weinstein-Affäre machte sich neben dem angestauten Zorn sicher auch eine stellvertretende Empörung über einen offen sexistischen US-Präsidenten Luft. Die folgende Kampagne brauchte die vereinfachende Polarisierung – hier „die Frauen“ als Opfer, dort „die Männer“ als Täter – und sie lebt bis heute von der Vermengung diverser Phänomene unter dem dehnbaren Titel „sexualisierte Gewalt“: angefangen mit hilflosem Anstarren, plump-misslungenen Komplimenten, unerwünschten Flirtversuchen und verbalen Anzüglichkeiten, über unerwünschte körperliche Nähe und flüchtiges Grabschen, bis hin zu anhaltenden körperlichen Übergriffen, sexueller Überrumpelung, Nötigung und Vergewaltigung.
Daher haben die Soziologin Joanna Williams in der BBC und die Autorinnen um Catherine Deneuve in Le Monde nach Differenzierungen verlangt: Ein Kapitalverbrechen solle moralisch nicht in einem Zuge mit Bagatelldelikten oder mit ungehobeltem Auftreten verhandelt werden. Ihre romantische Verklärung von Galanterie und sexueller Libertinage ist bereits ihrerseits kritisiert worden. Übergangen wurde aber ihre zutreffende Beobachtung, dass solche Kampagnen suggerieren, „dass Frauen besondere Wesen sind, Kinder mit Erwachsenengesicht, die nach Schutz verlangen“. In der Tat gehört die Viktimisierung des Frauenbilds zu den Kollateralschäden vieler feministischer Kampagnen. Frauen sind aber natürlich mehr als nur Opfer. Zum einen sind sie heute in der Mehrzahl viel wehrhafter als die Kampagnen sie darstellen, zum anderen sind sie auf verschiedene Weise auch latent komplizenhaft oder aktiv an riskanten Spielen beteiligt.
Stereotype Kommunikation: Das Problem beginnt viel früher
Um die Normalität vieler Übergriffe zu verstehen, ist daher zunächst gegenläufig zu den nötigen moralisch-juristischen Differenzierungen – und ohne jede Moralisierung – die faktische Kontinuität von Sexualdelikten zum gewöhnlichen heterosexuellen Werbungsgeschehen wahrzunehmen. Dass unerwünschte Anmachen und sexuelle Belästigung Machtdemonstrationen sind, ist nur ein Teil der Wahrheit. Ihre zweite Wurzel sind die kulturellen Konventionen, über die wir die uns vertrauten Geschlechter herstellen: die Geschlechtsrollen, Stereotypen und Konventionen der ganz alltäglichen Flirtkommunikation. Sexuelle Übergriffe – der Bereich des juristisch zu Verfolgenden – entstehen auch in einem Rahmen sexueller Belästigung – dem Bereich des zu stigmatisierenden Verhaltens. Dieser aber ruht auf den kulturell tradierten Spielregeln der Anmache, die sozial akzeptiert, aber problemträchtig sind.
Zwar hat sich viel verändert in den Geschlechtsrollen und den Stereotypen, aber einige Dinge sind erstaunlich konstant geblieben. Dazu gehört der von Paaren präferierte Altersvorsprung von Männern und eine Arbeitsteilung bei der Anbahnung von Intimbeziehungen: Männer sehen sich nach wie vor unter der Anforderung, das aktive Geschlecht zu sein, also die Initiative ergreifen zu sollen, Frauen unter der, das „schöne Geschlecht“ zu sein. Sie investieren daher, wie die Soziologin Barbara Kuchler auf Zeit online darstellte, ungleich aufwändiger in ihr Aussehen. Wegen dieser von der Mode unterstützten tradierten Rollenteilung werden sehr schöne Männer leicht für schwul gehalten, stark initiative Frauen als „Schlampen“ stigmatisiert. Die Belästigung ist ein unerwünschter Auswuchs dieser überlieferten stereotypen Kommunika-tionsstruktur des Anmachens, bei der die Frauen stärker visuell, die Männer verbal initiativ sind.
Dabei ist nicht nur die visuelle Werbungsaktivität der Frauen juristisch und moralisch als Passivität kodiert. Frauen lassen handeln und geschehen: Sie machen ihre Körper mit hohem Aufwand zu Blickfängen, offerieren sich als Schauobjekte, lassen sich ansprechen, lassen gewähren und lassen beziehungsweise ließen eben allzu oft auch Ausfälle gegen sich oder andere Frauen geschehen. Im moralischen Diskurs taucht diese Aktivität von Frauen nur in dem männer- wie frauenfeindlichen Vorwurf auf, dass Frauen durch „aufreizende“ Kleidung Männer um ihr bisschen Verstand und ihre Selbstkontrolle bringen. Hier ist natürlich die sexuelle Selbstbestimmung von Personen zu verteidigen: „Wer auffährt, hat Schuld.“
Schmaler Grat: Inszenierte Unnahbarkeit und selbstbewusste Zuwendung
Wer misslungene und entgleisende Anmachen soziologisch verstehen will, muss aber ernst nehmen, dass das verbale Anmachen auf ein visuelles Anmachen reagiert, eine nonchalant aufdringliche Offerte, die – ob sie will oder nicht – zu Gegenofferten einlädt. Man kann nicht nicht kommunizieren. Dabei funktionieren visuelle Zeichen anders als verbale Ansprachen. Ein Dekolleté ist eine Einrichtung zum Vorzeigen von Brüsten. Wer es trägt, kann sich nicht aussuchen, wer hineinschaut. Jede*r kann sich gemeint fühlen und reagieren. Jemanden anzusprechen, wählt dagegen gezielt aus und kann eben dadurch als Schmeicheleinheit verbucht werden. Diesen ungleichen Kommunikationsmodi entsprechen auch ungleiche Rollen: Das Spiel der Beziehungsanbahnung findet auf einem Markt statt, in dessen Ökonomie der Aufmerksamkeit Frauen als untereinander konkurrierende Anbieterinnen, Männer als Nachfrager kodiert sind.
Was sagt nun die ostentativ in Szene gesetzte Haut einem Betrachter, der sich nicht völlig taub stellt? „Sieh mich an!“ Und auch: „Du kannst mich anschauen, weil meine Aufmachung und mein Selbstwertgefühl allen Blicken standhalten kann.“ Und schließlich: „Und bilde dir nicht ein, dass gerade du unter den vielen Gaffern mehr als diese Blicklizenz erhoffen kannst, denn ich bin es, die hier die Wahl treffen wird.“ Die visuelle Aussage besteht also in einer Mischung aus Einladung und Abweisung. Das Risiko dieses Provokationsspiels mit Körpereinsatz liegt darin, dass es auch von solchen Betrachtern als Aufforderung verstanden wird, die es gar nicht adressieren wollte.
Den nächsten Spielzug im stereotypen Skript tut derjenige aus dem männlichen Publikum, der die Hürde der inszenierten Unnahbarkeit überspringt, gewissermaßen die Schaufensterscheibe durchstößt, hinter der der Körper ausgestellt wird, und in seiner Sprache – der selbstbewussten Zuwendung, dem originellen Spruch, der frechen Geste – beansprucht, auch ihre ganz besondere Aufmerksamkeit wert zu sein. Dabei kann der Anmacher sich irren, seine Spielchancen überschätzen und der jähen Abweisung anheimfallen. Er kann seinen Aufmerksamkeitswert aber auch gerade dadurch zu steigern versuchen, dass er sich nicht abweisen lässt, ihrem Urteil also eine höher pokernde Selbstwertschätzung entgegenhält, die nicht weniger prätentiös ist als ihre Schauwertbehauptung. Damit hat er entweder Erfolg und das Spiel geht weiter oder er wird als zudringlich erlebt und das Spiel brüsk beendet – wenn es nicht genau hier aus dem Ruder läuft und zur Belästigung wird.
Gelingende Kommunikation: Unwillen zeigen, erkennen und respektieren
Moralisch ist klar, dass die Belästigung eine Grenze der Selbstbestimmung verletzt. Soziologisch ist aber ebenso klar, dass die gegenseitige Provokation zu den Spielregeln des Beziehungsmarkts gehört: Gegenseitiges Anmachen ist mehr als Flirten und Ansprechen – so wie sich zu stylen mehr ist als sich zu kleiden. Es ist ein riskantes Spiel der gegenseitigen visuellen und verbalen Herausforderung, der Wertschätzung und Selbstüberschätzung, das grundsätzlich geschlechtsunabhängig gespielt werden kann. Zur Logik der Belästigung gehört dabei eine dialogische Grundstruktur des „du kriegst mich nicht“ und „ich krieg dich doch“, die sich ganz ähnlich bei der Quengelware findet, die Supermärkte in Reichweite von Kindern ausstellen, damit diese sie mitgehen lassen, ohne sie stehlen zu sollen.
So wie die Grenzüberschreitung der „Territorien des Selbst“ – in der Terminologie des US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman – bereits in der Anbahnung intimer Beziehungen angelegt ist, ist die Unterscheidung von Opfer und Täter schon in der Arbeitsteilung von passiver Anbieterin und aktivem Nachfrager angelegt. Jede Annäherung ist riskant: Es gibt Einladungs- und Abweisungsrisiken, Kränkungs- und Verletzungsrisiken. Körperliche Übergriffe sind latent programmiert in den ganz gewöhnlichen Fehleinschätzungen, Anstandsverletzungen und Zumutungen dieser Kommunikation. Und deren basale geschlechtliche Arbeitsteiligkeit, die „Zweisprachigkeit“ von Zeigen und Ansprechen, macht es auch wahrscheinlich, dass es zu Fehlwahrnehmungen und Missverständnissen kommt. Kann man zumindest vom verbalen Begleitgeschehen die Eindeutigkeit juristisch verwertbarer Aussagen erwarten? „Nein“ heißt: Zu jedem Zeitpunkt ist eine Annäherung abbrechbar. Aber nicht alle Motive sind im Kontext einer körperlichen Annäherung so leicht zu bestimmen, denn alle Geschlechter werden zu etwas verführt, das sie ursprünglich nicht wollten, also mit eigenem und gegen den eigenen Willen. Zwischen „ja“ und „nein“ liegt „vielleicht“.
Selbst in der rein verbal bleibenden Kommunikation an dieser Grenze können anzügliche Doppeldeutigkeiten sowohl zu einem reziproken Flirt einladen als auch als plumpe Anstößigkeit empfunden werden und misslingen. Wiederholte Anläufe, die Missfallens- und Verweigerungssignale übergehen, sind entweder Ausdruck einer bloßen Machtanmaßung, mit der sich der Initiator „daneben benimmt“ und disqualifiziert, oder es sind Mittel in echten Machtbeziehungen, in denen Reduktionen auf Äußerliches als soziale Platzverweise eingesetzt werden. Vor jeder rechtlichen Regulierung werden die nötigen Grenzen hier durch vorhandene Sozialkompetenzen gezogen oder eben durch fehlende verletzt. Gelingende Anmachkommunikation braucht die Chance, Missfallen und Unwillen zu zeigen, die Kompetenz, beides zu erkennen, sowie die Bereitschaft, sie zu respektieren. Wichtigste Randbedingung für den Verlauf von Annäherungen ist die kompetente Einschätzung ihres Reziprozitätspotenzials – der Flirttauglichkeit der Beziehung und der Zukunftsträchtigkeit der Interaktion.
Feministische Kampagnen: Sippenhaft, Empörung und Befreiung
Kampagnen wie #MeToo täuschen darüber hinweg, dass sich auf dem Beziehungsmarkt überwiegend Männer und Frauen tummeln, die einem reziproken Spiel gewachsen sind und seine unvermeidlichen Risiken durch gegenseitige Respektierung in Schach halten. Auch gibt es selbstverständlich Invertierungen der Rollen: eine zunehmende Ästhetisierung junger Männer und die Eroberung der verbalen Initiative durch Frauen. Feministische Kampagnen verzeichnen eben sowohl Frauen als auch Männer. Dass „die Männer“ in ihnen als Täter firmieren, abstrahiert davon, dass die meisten Männer in der Beziehungsanbahnung zivilisiert sein dürften, dass sehr viele Männer eher schüchtern und verwirrt als frech und fordernd sind und vergeblich auf weibliche Initiative warten, dass manche Männer sich überhaupt nicht für Frauen interessieren, und dass Männer auch in wachsender Zahl von Frauen sexuell belästigt werden. Eine politische Kampagne nimmt sie alle in geschlechtliche Sippenhaft.
Auf der anderen Seite machen solche Kampagnen aber erfolgreich geltend, dass die an ihnen teilnehmenden Frauen sich nicht mehr wehren müssen wollen. Um dies tatsächlich zu erreichen, müssten ihre Standards – dass Männer, die solche Abwehr erfordern, schlicht unattraktiv sind – sich gegen die Standards jener traditionalen Frauen durchsetzen, die in Gaffen, Sprüchen und Aufdringlichkeit immer noch ihren Marktwert bestätigt sehen – für die also der Grad der Unabweisbarkeit eines Mannes auch Maßstab ihrer eigenen Unwiderstehlichkeit ist. Darüber hinaus wäre es auch ein emanzipatorischer Gewinn, festzustellen, dass die Inszenierung von Schönheit nie einfach bloß subjektiver „Selbstausdruck“ ist, sondern auch eine Form mächtiger Einflussentfaltung. Sie ist völlig legitim. Wer Frauen ernst nimmt, weiß aber auch: „Unschuldig“ ist sie nie gewesen.
In einer Geschichte des Sexismus ließe sich #MeToo als eine bestimmte Phase identifizieren. Körperliche Übergriffe von Männern auf Frauen waren einmal ein unhinterfragtes Vorrecht, etwa von Fürsten und Gatten. Dann wurden sie eine noch habituell erduldete „Unart von Männern“ – die Rede war von „Kavaliersdelikten“ von „Schwerenötern“. Mit feministischen Kampagnen werden sie zu Anlässen für nachträgliche diskursive Empörung. Der aktuelle historische Gestaltwechsel wird zurecht als Befreiung erlebt: wenn das Schweigen, in dem die Übergriffe stumm vollzogen und erduldet wurden, endlich diskursiv gebrochen wird. Die Empörung entfaltet sich aber nicht deshalb, weil die Männer aufdringlicher wären als früher, im Gegenteil: Sie entfaltet sich, weil wegen ihrer zurückgedrängten Aufdringlichkeit auch die zivilisatorischen Standards im Geschlechterverhältnis gestiegen sind und die immer noch stattfindenden Übergriffe gemessen an diesen gestiegenen Erwartungen schärfer als deviantes Verhalten markiert werden können. Auch insofern ist es nicht zufällig, dass die Auslöser der aktuellen Empörung oft weit in der Vergangenheit liegen.
Eine neue Ordnung der Macht: Was kommt nach #MeToo?
Das nächste Stadium des Sexismus dürfte dagegen in kurzen konflikthaften Interaktions-episoden bestehen, in denen Grenzen unerwünscht überschritten und Überschreitungen unmittelbar sanktioniert werden. Dieses Stadium kann keine vollständige Zivilität und Konfliktlosigkeit versprechen. Denn im Flirtgeschehen selbst sind Vieldeutigkeit und Überredung, Missverständnis und Mismatch eingebaut. Realistischer ist die Erwartung einer Symmetrisierung der Randbedingungen – vor allem von beruflichen Machtressourcen – und die weitere Verwischung der Geschlechtsrollen auf dem Beziehungsmarkt. Der Sexismus dürfte sich zu einem geschlechtsunabhängigen sexuellen Mobbing entwickeln.
Diese Zukunft hat längst begonnen. Das zeigt ein Blick auf das gewaltige Dunkelfeld hinter den wenigen angezeigten Sexualdelikten. Beschämtes Schweigen findet sich nicht nur bei den Frauen, sondern mehr noch bei Männern und Kindern. Fragt man 18- bis 27-Jährige in Europa, ob sie schon einmal Opfer sexueller Aggression gewesen sind, das heißt von verbalem Druck, Drohung und Einsatz körperlicher Gewalt und sexueller Ausnutzung von Widerstandsunfähigkeit, so bejahen dies in einer Studie von Barbara Krahé von 2015 32 Prozent der jungen Frauen, aber auch 27 Prozent der jungen Männer. Fragt man sie dagegen, wer schon einmal solche Aggressionen ausgeübt habe, so bejahen dies 16 Prozent der Männer, aber nur fünf Prozent der Frauen. Man sieht die historische Verschiebung der „Täterschaft“, aber auch, wie anfällig diese Interaktionen für ganz verschiedenes Verstehen sind: für die geschlechtsselektive Wahrnehmung von Aufdringlichkeit und Verletzlichkeit.
Vor diesem Hintergrund ist im Rückblick auf #MeToo zu fragen: Was trennt eigentlich erfolgreiche und mächtige Frauen angesichts naiver, unsicherer und attraktiver Praktikanten und Aspiranten davon, sich auf ähnliche Weise wie die Kerle unter den Männern danebenzubenehmen? Die höhere weibliche Moral, mit deren Unterstellung man so lange ihre Karrieren verhindert hat? Oder doch nur noch eine medial gut organisierte Empörtheit über „die Männer“? Die Geschlechterunterscheidung war seit dem 19. Jahrhundert auch eine zwischen dem „unmoralischen Geschlecht“ – so der Soziologe Christoph Kucklick – und dem moralischen. Je mehr Frauen an Macht gewinnen, desto weniger lassen sie sich von Männern zu Gewaltopfern machen. Desto größer scheint aber auch die Versuchung zu werden, das alte, sich endlich verlierende Frausein in der Pose des empörten Opfers zu restituieren.
Dieser Artikel erschien zuerst in der FAZ.
Prof. Dr. Stefan Hirschauer
Professor für Gender Studies an der Universität Mainz
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