Entwicklung der Gesamtschule in NRW
Was kommt nach dem Boom?
Mit dem Schulkonsens wurde im Juli 2011 nicht nur mit der Sekundarschule eine neue Schulform des längeren gemeinsamen Lernens eingeführt. Auch für die Entwicklung der Gesamtschulen in NRW hatte der Konsens Folgen: Sie erlebten einen regelrechten Boom. Hält sich dieser Trend? Wie sieht die Zukunft der Schulform aus?
Viele Schulträger*innen haben sich seit dem Schulkonsens entschieden, anstelle oder gar neben einer neuen Sekundarschule erstmalig oder zusätzlich Gesamtschulen zu gründen. Anzunehmen ist, dass sie damit dem Elternwunsch nach einem Schulangebot entsprechen wollten, das direkt und ohne Schul- oder Schulformwechsel das Abitur ermöglicht.
Nach dem Schulkonsens boomten die Gesamtschulen
Die Zahl der Gesamtschulen stieg vom Schuljahr 2012 / 2013 bis zum Schuljahr 2016 / 2017 um circa 30 Prozent, die Zahl der Schüler*innen um ein Fünftel und die der Lehrer*innen um ein Viertel. Nimmt man die rund 50.000 Schüler*innen hinzu, die 2016 / 2017 die Sekundarschulen besuchten, so zählten die Schulen des längeren gemeinsamen Lernens im vergangenen Schuljahr etwa 100.000 Schüler*innen mehr als im Schuljahr 2012 / 2013, dem ersten nach dem Schulkonsens. Das ist vor allem vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass die Gesamtzahl der Schüler*innen an allgemeinbildenden, weiterführenden Schulen in dieser Zeit um mehr als 117.000 abnahm.
Während die Schulgröße für Sekundarschulen nicht selten zum Problem wird, das Schulneugründungen erschwert, standen die Gesamtschulen im Vergleich zunächst besser da. Der „Bericht der Landesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Schulstruktur in Nordrhein-Westfalen (Evaluationsbericht zum 6. Schulrechtsänderungsgesetz)“ stellt dazu fest: „Bei der Betrachtung der Schulgröße der seit dem Schuljahr 2012 / 2013 errichteten Gesamtschulen bestätigt sich die deutliche Tendenz zu einer vier- bis fünfzügigen Ausgestaltung der neuen Schulen. Gut die Hälfte der neuen Gesamtschulen (43) wurde zum Stichtag 1. Juli 2016 in Mindestgröße geführt, ein weiteres knappes Viertel verfügte über fünf Parallelklassen pro Jahrgang. Große Schulsysteme mit sieben (5) oder acht (1) Parallelklassen pro Jahrgang werden von den Schulträger*innen nur in Ausnahmefällen errichtet. Die sechs größten Schulen befinden sich allerdings nicht in Ballungszentren.“ Eine erste Auswertung der Anmeldezahlen für das Schuljahr 2018 / 2019 ergibt jedoch: Künftig könnte es anders sein. Natürlich können weiterhin viele Schüler*innen nicht aufgenommen werden. Aber auch viele Gesamtschulen geraten unter Druck.
Welche Pläne hat die Landesregierung für die Gesamtschule in NRW?
Auch Konsense werden politisch unterschiedlich bewertet und nachträglich von mehr als nur einer Partei für sich reklamiert. Infolge des Schulkonsenses, der von der FDP nicht mitgetragen wurde, wurde 2011 die Landesverfassung geändert. SPD und Grüne betonten damals stets, dass nun bessere Rechtsgrundlagen für das Gemeinsame Lernen geschaffen seien. Die CDU hingegen verwies darauf, dass die Verfassung aufgrund derselben Änderung nun ein „gegliedertes Schulsystem“ garantiere. Daher lohnt die Lektüre des Koalitionsvertrags, um abschätzen zu können, welche Pläne die aktuelle, schwarz-gelbe Landesregierung mit Blick auf die Schulen des längeren gemeinsamen Lernens und insbesondere auf die Gesamtschulen verfolgt.
Dabei irritiert zunächst, dass CDU und FDP davon ausgehen, dass es in der Regierungszeit von SPD und Grünen schlecht um die Gleichbehandlung aller Schulformen bestellt gewesen ist. Das müsse sich ändern und die Benachteiligung von Realschulen und Gymnasien beendet werden. Die bislang einzige Konkretisierung ist die Forderung, dass auch Realschulen und Gymnasien künftig die Möglichkeit haben sollen, zweizügig fortgeführt werden zu können.
Inklusion und Integration sind Aufgaben aller Schulformen
Die Gesamtschulen – so schreiben CDU und FDP – sind „ein wichtiger Bestandteil einer vielfältigen Schullandschaft und bereiten auf die duale Ausbildung und Hochschulreife vor“. So weit, so gut. Dann jedoch folgt ein Lob der Gesamtschulen, das wenig Gutes hoffen lässt: „Ihre langjährigen Erfahrungen im Bereich der Inklusion können einen wichtigen Beitrag zur erfolgreichen Gestaltung dieser gesellschaftlichen Aufgabe leisten. Wir wollen die Gesamtschulen wieder in die Lage versetzen, eigene Inklusionskonzepte umsetzen zu können.“
Ergänzt um den Hinweis, dass die Umsetzung der Inklusion an Gymnasien in der Regel zielgleich erfolgen soll, wird schnell klar, dass die Gesamtschulen die Hauptlast bei der Inklusion tragen sollen. Schon jetzt ist das Gymnasium beim Gemeinsamen Lernen quantitativ unterrepräsentiert, in der Aufnahme von Schüler*innen mit allen Förderbedarfen weniger offen. Inklusion droht zur „Last“ für die Gesamtschulen zu werden, da Koalitionsvertrag und erste Festlegungen der Landesregierung nicht erkennen lassen, ob und wie die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden sollen. Aus einem Budget ein Kontingent zu machen, wird nicht ausreichen.
Das Recht auf Bildung für neu zugewanderte und geflüchtete Kinder und Jugendliche umzusetzen, muss Aufgabe aller Schulformen sein. Sie alle sollten entsprechend ihrer Schüler*innenzahl quantitativ an Integration beteiligt werden – bislang ist das nicht der Fall. Auch hier sind zudem deutlich mehr Ressourcen erforderlich.
Werden diese Schüler*innen nach ihrem Einstieg und dem Spracherwerb gemäß des gegliederten Schulsystems umverteilt, belastet das die Arbeit der Schulformen unterschiedlich stark. Hinzu kommt: Wo kein Hauptschulangebot mehr vorhanden ist, werden diese Kinder und Jugendlichen zumeist den integrierten Schulformen Sekundarschule und Gesamtschule zugewiesen.
Lange Geschichte – gute Zukunft für das längere gemeinsame Lernen?
Im kommenden Jahr feiert NRW das 50-jährige Jubiläum der Gesamtschule. Ihre Entwicklung startete 1969 als Schulversuch mit zunächst sieben Schulen. Als der Versuch 1982 endete, waren es schon 32 Schulen. Die Gesamtschule wurde damals als eine gleichberechtigte Regelschule der Sekundarstufe I in das Schulverwaltungsgesetz aufgenommen. Übrigens: Auch die gemeinsame Grundschule für alle Kinder hat 2019 einen Grund zum Feiern, denn sie wird 100 Jahre alt. Diese Jubiläen sollten als guter Rahmen für eine Initiative zur Stärkung des längeren gemeinsamen Lernens genutzt werden. Es gibt viel zu tun:
- Die nordrhein-westfälische Schullandschaft braucht Initiativen, damit endlich überall Gesamtschulplätze in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen, um allen Eltern die Möglichkeit zu geben, für ihr Kind eine Gesamtschule zu wählen.
- Inklusion und Integration müssen Aufgaben aller Schulformen sein. Die Landesregierung muss ausreichende Ressourcen bereitstellen, damit Schulen diese Aufgaben erfüllen können und die Gesamtschulen bei Inklusion und Integration nicht länger benachteiligt werden.
- Es bedarf einer sozial indizierten Ressourcensteuerung, damit Ungleiches endlich ungleich behandelt werden kann und Gesamtschulen in schwieriger Ausgangslage deutlich besser unterstützt werden.
- An allen Schulen muss eine „Kultur des Behaltens“ gelebt werden.
Michael Schulte
Geschäftsführer der GEW NRW
Foto: CL. / photocase.de
Kommentare (0)
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Lassen Sie es uns wissen. Wir freuen uns auf Ihr Feedback!