Bildung für Geflüchtete kann nicht warten
Beschulung geflüchteter Kinder und Jugendlicher in NRW
Bildung für geflüchtete Kinder und Jugendliche gehört seit mehr als zwei Jahren zu den täglichen Aufgaben in nordrhein-westfälischen Schulen. Das große Medieninteresse ist mittlerweile abgeebbt – doch die Herausforderungen vor Ort sind geblieben und die Schulen leisten weiterhin Großartiges. Wie läuft es mit der Bildung für Flüchtlingskinder in NRW? Wie gelingt schulische Integration und welche politischen und rechtlichen Voraussetzungen braucht sie?
In allen Schulformen und Altersstufen verzeichnet NRW in den vergangenen Jahren einen signifikanten Anstieg von Schüler*innen mit Zuwanderungsgeschichte, die neu zugezogen sind. Unter anderem ist dies auf die gestiegene Fluchtmigration zurückzuführen. Da in der Statistik des Landesbetriebs Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW) jedoch nicht nach Aufenthaltsstatus der Schüler*innen differenziert wird, stehen keine genauen Zahlen dazu zur Verfügung, wie viele geflüchtete Kinder und Jugendliche in den letzten Jahren in die nordrhein-westfälischen Regelschulen aufgenommen wurden.
Anhaltspunkte für Schätzungen liefern die Angaben zu den Herkunftsländern der Schüler*innen: Bei Kindern und Jugendlichen aus Syrien, Afghanistan und Irak ist in der Vielzahl ein Fluchthintergrund zu vermuten, während für Schüler*innen beispielsweise aus der Türkei mehrheitlich andere Migrationshintergründe anzunehmen sind. Der Anteil syrischer Schüler*innen an der Gesamtzahl ausländischer Schüler*innen lag im Schuljahr 2016 / 2017 mit 12,8 Prozent an zweiter Stelle hinter dem Anteil türkischer Schüler*innen von 17,4 Prozent. Aus den zeitweilig fünf Haupt-herkunftsländern von Flüchtlingen – nämlich Syrien, Irak, Afghanistan, Albanien und Kosovo – stammten 28,1 Prozent der ausländischen Schüler*innen; das entspricht 75.071 Kindern und Jugendlichen. Auch wenn die Datenlage ungenau ist, lassen sich hieraus Rückschlüsse darauf ziehen, vor welchen Herausforderungen alle Beteiligten in den letzten Jahren standen und immer noch stehen.
Gesetzliche Regelungen erzeugen Lücken in der Bildungsbiografie
In NRW unterliegen Flüchtlingskinder der Schulpflicht, sobald sie einer Kommune zugewiesen sind. Bis dahin halten sie sich in einer Landesaufnahmeeinrichtung auf, der ersten „Station“ nach ihrer Ankunft in NRW. Während dieser Zeit gilt lediglich ein Schulbesuchsrecht. Der Aufenthalt in einer Landesaufnahmeeinrichtung war bis Oktober 2015 auf höchstens drei Monate begrenzt, wurde dann aber durch eine Gesetzesänderung auf höchstens sechs Monate verlängert. In der Praxis wird diese Zeitspanne immer häufiger auch ausgeschöpft. Die Bildungsbiografie ist in dieser Zeit unterbrochen, hinzu kommen Zeiten auf dem Fluchtweg, in denen ebenfalls kein Schulbesuch möglich war.
Für Asylsuchende, deren Asylverfahren noch läuft oder deren Antrag als „unzulässig“ oder als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurde, kann der Aufenthalt in der Landesaufnahmeeinrichtung sogar noch länger dauern: Das am 29. Juli 2017 in Kraft getretene „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ ermöglicht den Bundesländern, sie für bis zu 24 Monate dort unterzubringen. Die Bundesländer können also eigenständig über die Dauer der Unterbringung in ihren Landesaufnahmeeinrichtungen entscheiden. NRW hat bereits angekündigt, von dieser Regelungsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Auch der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sieht vor, Menschen erst und nur dann aus den Landesaufnahmeeinrichtungen zu entlassen, wenn sie im Asylverfahren anerkannt werden. Alle Betroffenen wären damit über einen langen Zeitraum von einem regulären Schulbesuch ausgeschlossen. Wie kann Integration in Regelschulen nach einer so langen Unterbrechung des Schulbesuchs gelingen? Das wird zukünftig eine zentrale Herausforderung sein.
Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten sind bis auf Ausnahmefälle seit Oktober 2015 sogar dauerhaft bis zur Ausreise oder Abschiebung in einer Landesaufnahmeeinrichtung untergebracht. Von dieser Regelung betroffen sind Menschen aus dem Westbalkan – Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien – sowie Ghana und Senegal. Zwar gilt auch für sie das Schulbesuchsrecht, es verhilft in der Praxis allerdings lediglich in Einzelfällen zu einem Schulplatz und so werden diese Kinder und Jugendlichen während des gesamten Aufenthalts, der durchaus mehr als ein Jahr betragen kann, in Deutschland nicht beschult. Dies stellt einen eklatanten Verstoß gegen das Recht auf Bildung dar, das auf mehreren Anspruchsgrundlagen beruht, zum Beispiel auf § 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Aufgrund des längeren Aufenthalts in Landesaufnahmeeinrichtungen entwickelt die nordrhein-westfälische Landesregierung derzeit Maßnahmen, um Flüchtlingskinder vor Ort zu beschulen. Vorgesehen ist allerdings keine Regelbeschulung, sondern eine Art Ersatzbeschulung.
Schulen haben in Sachen Integration Großartiges geleistet
Während zukünftig die Beschulung in den Landesaufnahmeeinrichtungen und der Übergang in Regelschulen in den Kommunen im Fokus stehen wird, lagen die Herausforderungen in den vergangenen Jahren auf den mangelnden kommunalen Strukturen. Der massive Mangel an Lehrer*innen und weiterem pädagogischen Personal im Schulbereich ist noch lange nicht behoben. Es fehlen Kapazitäten und Möglichkeiten, sich auf die besondere Situation von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund einzustellen und damit umzugehen.
Gleichwohl haben die Schulen mit ihrem Personal in den vergangenen Jahren Großartiges zur schulischen Integration von geflüchteten Schüler*innen geleistet. Dafür werden in den Kommunen – mit unterschiedlichen Ausprägungen – zwei Modelle praktiziert: Einige Schulen setzen darauf, Flüchtlinge sofort in Regelklassen einzugliedern. Mithilfe einer sogenannten Kompetenzfeststellung werden adäquate Schulformen und Klassenstufen für die betroffenen Schüler*innen ermittelt. In den ersten Monaten werden meist einige Stunden des Regelunterrichts durch Deutschunterricht ersetzt. Der Vorteil dieses Modells: Geflüchtete Kinder und Jugendliche bauen von Anfang an Kontakte zu einheimischen Schüler*innen auf und erleben „normalen“ Unterricht.
In anderen Kommunen sind in allen Schulformen Vorbereitungsklassen eingerichtet worden, in denen neu zugewanderte ausländische Schüler*innen gesammelt unterrichtet werden. Der Schwerpunkt liegt hier zunächst auf dem Erwerb der deutschen Sprache. Das kann von Vorteil sein – solange es sich um einen kurzen Zeitraum von einigen Wochen oder wenigen Monaten handelt. Keines der beiden Modelle ist grundsätzlich zu präferieren. Ob die schulische Integration gelingt, hängt davon ab, wie die Beschulung vor Ort in der Praxis ausgestaltet ist.
Vorbereitungsklassen verstärken Segregationstendenzen
Die vorige Landesregierung hatte in einem Erlass von Juni 2016 der sofortigen Eingliederung in Regelklassen Vorrang eingeräumt. Demgegenüber setzt die aktuelle, schwarz-gelbe Landesregierung auf die Einrichtung von Vorbereitungsklassen, in denen neu zugewanderte Kinder und Jugendliche bis zum Übergang in eine Regelklasse unterrichtet werden. Hierzu wird gerade ein Erlass erarbeitet.
Aufgrund der Entwicklungen gerade der letzten zwei Jahre ist der schwarz-gelbe Vorschlag kritisch zu sehen. Mehr und mehr erfüllen Vorbereitungsklassen nicht den Zweck, neu zugewanderte Schüler*innen fit für den Unterricht in Regelklassen zu machen, sondern werden zu „Auffangklassen“, die den Schüler*innen einen Übergang in eine Regelklasse in einer für sie adäquaten Schulform nicht ermöglichen. Häufig werden Schüler*innen einer Vorbereitungsklasse nicht nach individuellen Kompetenzen und Kenntnissen zugewiesen, sondern nach freien
Kapazitäten. In den Lerngruppen herrscht deshalb oft ein äußerst heterogenes Bildungsniveau. Der Übergang in Regelklassen erfolgt in vielen Fällen erst nach mehreren Monaten bis hin zu zwei Jahren und dann zumeist an der gleichen Schule. In dieser Zeit nehmen die Schüler*innen nicht am regulären Unterricht teil, was den Übergang zusätzlich erschwert. In diesem Fall verstärken Vorbereitungsklassen Segregationstendenzen und stehen einer gelingenden Integration entgegen.
Schulen brauchen Gestaltungsspielräume für Integration
Die Eingliederung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher in Schulen sollte auf deren Bedarfe und Bedürfnisse ausgerichtet sein. Das beinhaltet den Besuch einer Regelschule von Beginn des Aufenthalts in Deutschland an, die Beschulung in der adäquaten Schulform und Altersstufe, zusätzlichen Deutschunterricht und bei Bedarf weitere unterstützende Angebote. Dafür müssen ausreichend Kapazitäten – unter anderem personelle – zur Verfügung gestellt werden. Die Schulen haben wertvolle Erfahrungen gesammelt, wie schulische Integration von Flüchtlingskindern gelingen kann. Statt einheitliche Maßgaben aufzustellen, sollte Raum für Diversität bestehen, damit Schulen den Weg beschreiten können, der vor Ort am meisten Erfolg verspricht.
Birgit Naujoks
Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Nordrhein-Westfalen e. V.
Fotos: napri, Good Mood/photocase.de
Kommentare (0)
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Lassen Sie es uns wissen. Wir freuen uns auf Ihr Feedback!