Handeln für Menschenrechte
Im Gespräch mit Jehan Abushihab
Die eigenen Rechte kennen und sich für die Rechte anderer einsetzen – das ist das Ziel von Menschenrechtsbildung im Unterricht. Wie das Thema Schüler*innen bestärken und begeistern kann, darüber sprach die nds mit der Düsseldorfer Lehrerin Jehan Abushihab. An ihrer Schule gehört Menschenrechtsbildung inzwischen selbstverständlich zum Alltag – auch dank einer jährlichen Kooperation mit Amnesty International im Rahmen des Briefmarathons.
nds: Das Thema Menschenrechte ist unglaublich abstrakt. Wie können Lehrer*innen es auf die Lebenswelt der Schüler*innen herunterbrechen?
Jehan Abushihab: Meist versuche ich das am Beispiel der Regeln im Klassenverband. Diese Regeln sind wichtig, um uns gegenseitig zu schützen und das Lernklima zu erhalten. Ausgehend von dieser konkreten Situation ziehe ich Analogien zum Geschehen in der Welt – auf Rechte, die über die Klasse und Schule hinausgehen. Dabei wird für die Schüler*innen sichtbar, wo ihre Rechte für sie wichtig sind. Schließlich haben die meisten Schüler*innen Menschenrechtsverletzungen nicht erfahren. Aber sie kennen das Gefühl, gestört zu werden bei dem, was für sie wichtig ist, und dadurch gelingt der Transfer sehr gut.
Gibt es dabei bestimmte Momente, die diesen Transfer begünstigen?
Viele Schüler*innen sind von Nachrichten gesättigt und es ist mitunter schwierig, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Allerdings ändert sich das schlagartig, wenn es um einzelne konkrete Fälle geht, um Personen mit individuellen Lebensgeschichten. Diese Einzelfälle, wie etwa der des zu Stockhieben verurteilten saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, sind für die Schüler*innen viel greifbarer als abstrakte Themen wie Meinungsfreiheit oder Demonstrationsrecht.
Wie gehen die Schüler*innen mit solchen drastischen Fällen um?
Die Schüler*innen rüttelt das sehr auf. Raif Badawi ist zu 1.000 Stockhieben, zehn Jahren Haft und einer Geldstrafe von etwa 240.000,- Euro verurteilt worden, weil er die Webseite der „Saudi-Arabischen Liberalen“ gegründet hat. Er war einer der Fälle des Amnesty-Briefmarathons im Jahr 2014. Im Rahmen dieser Aktion wählt Amnesty jedes Jahr etwa ein Dutzend Einzelfälle aus und wirbt verstärkt darum, die Verantwortlichen mit Briefen zu adressieren oder sich mit den Betroffenen zu solidarisieren.
Für mich als Lehrerin ist der Briefmarathon eine riesige Chance, um zu zeigen, welche Menschenrechtsverletzungen auf der Welt passieren: Viele der Fälle lassen sich ähnlich der tagespolitischen Agenda in den Unterricht integrieren, und Amnesty liefert dazu viele passende Unterrichtsmaterialien. Ich lasse den Schüler*innen zunächst Raum, um Empfindungen auszudrücken und Position zu beziehen. Der Briefmarathon bietet dann die Option, aktiv zu werden. Schüler*innen können die jeweilige Menschenrechtsverletzung öffentlich machen, einen Protestbrief an die Verantwortlichen schreiben, in dem sie ihre Kritik, ihre Emotionen sowie ihre Gedanken selbst formulieren. Neben der Wissensebene kommt damit auch eine Bewusstseins- und Handlungsebene ins Spiel, die für Menschenrechtsbildung konzeptuell von elementarer Bedeutung ist.
Welche Aspekte aus dem vielschichtigen Themenfeld Menschenrechte lassen sich darüber hinaus gut in den Schulalltag einbinden?
Ich gehe von zentralen Fragestellungen aus: Was ist eine Demokratie und welche Möglichkeiten bieten sich zur Partizipation? Wie schützt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die Demokratie? Was bedeutet individuelle Freiheit? Was bedeutet soziale Gerechtigkeit oder auch gesellschaftliche Ungleichheit? Was hat es mit Urheberrechten und Datenschutz oder auch Zensurmaßnahmen auf sich?
Sie sind Politiklehrerin. In welchen anderen Fächern könnten Menschenrechte ein Thema sein?
Die Themen Datenschutz und Recht auf Privatsphäre könnte sich gut für den EDV-Unterricht eignen. Die Frage, was es bedeutet, wenn der Staat tötet, bietet sich im Philosophieunterricht oder auch in den Fächern Religion und Geschichte an. Anknüpfungspunkte gibt es viele bis hin zum Fach Personalwirtschaft, in dem es möglich ist, sich mit dem Recht auf Arbeit zu beschäftigen.
Warum ist Menschenrechtsbildung an Schulen wichtig?
Jede*r Einzelne ist verpflichtet, die Würde und die Rechte anderer Personen zu achten. Gleichzeitig sollte er oder sie die eigenen Rechte auch wahrnehmen – und das ohne die Rechte anderer zu beschneiden. Das gilt für das Schulleben wie für den gesellschaftlichen Alltag. Und ich sehe die Aufgabe der Lehrer*innen darin, aufzuzeigen, dass Schüler*innen für sich und andere verantwortlich sind, im Sinne der Solidarität und eines toleranten Miteinanders. Das setzt Problembewusstsein für andere genauso voraus wie die Anerkennung der Menschenrechte für das eigene Leben. Menschenrechte weisen damit auch einen zentralen Bezug zum politischen Handeln auf. Es ist nicht möglich, das politische Geschehen zu durchdringen, ohne sich mit Menschenrechten und deren Verletzung auseinanderzusetzen. Heranwachsende dahingehend zu sensibilisieren ist wichtig, damit sie sich am politischen Geschehen adäquat beteiligen können.
Machen Rahmenlehrpläne Menschenrechtsbildung zum festen Bestandteil des Unterrichts?
Die Rahmenlehrpläne unterscheiden sich je nach Bildungsgang. Die zuvor genannten Themen tauchen in den Curricula auf und bieten die Möglichkeit, zum Thema Menschenrechte zu arbeiten – ausgehend von Zielformulierungen, die Menschenrechte implizit beinhalten. Ich wünsche mir, dass Menschenrechtsbildung eine zentralere Rolle einnimmt und an verschiedenen Stellen immer wieder Ausgangspunkt und Basis für Unterricht ist.
Welche aktuellen Anknüpfungspunkte bieten sich für Menschenrechtsbildung im Unterricht?
Flucht und Migration oder auch Rassismus sind aktuelle Themen, die sich im Grunde nicht getrennt von Menschenrechten behandeln lassen. Inzwischen besuchen viele geflüchtete Schüler*innen unsere Schule. Dadurch spielen Flucht und Asyl auch im alltäglichen Austausch eine große Rolle, wenn etwa Schüler*innen auf dem Schulhof oder im Unterricht über ihre eigenen Fluchterfahrungen sprechen. Dabei entsteht eine emotionale Nähe, die sonst nicht aufbringbar ist. Und auch dem Thema Rassismus kommt eine enorme Relevanz zu – wenn ankommenden Geflüchteten in Deutschland neben den erfreulich vielen Willkommensrufen auch mit Hass und Gewalt begegnet wird.
Gibt es abseits des Unterrichts Möglichkeiten, sich dem Thema Menschenrechte zu widmen?
Während des Amnesty-Briefmarathons gibt es an meiner Schule seit drei Jahren einen Projekttag: Das Lehrer*innenkollegium, die Schulleitung und die sehr aktive Amnesty-Jugendgruppe engagieren sich mit sehr großer Leidenschaft. 500 bis 600 Schüler*innen machen jährlich mit und schreiben über 1.000 Briefe gegen konkrete Fälle von Menschenrechtsverletzungen. Immer wieder fragen sie – teils Wochen und Monate später – ,was aus den Personen wurde, für die sie sich eingesetzt haben. Und auch Erfolge werden dann richtig gefeiert, wie die Freilassung des jungen Nigerianers Moses Akatugba oder die jüngste Begnadigung der US-Amerikanerin Chelsea Manning.
Die Fragen für die nds stellte Andreas Koob.
Jehan Abushihab
ist Lehrerin, unterrichtet am Düsseldorfer Leo-Statz-Berufskolleg die Fächer Politik, Wirtschaftswissenschaften und Personalwirtschaft und ist Mitglied bei Amnesty International. Sie wünscht sich, dass Menschenrechtsbildung eine zentralere Rolle an Schulen einnimmt.
Fotos: zettberlin / photocase.de, privat
Amnesty-Briefmarathon
Schüler*innen schreiben Briefe gegen Unrecht
Etwa ein Dutzend Fälle von Menschenrechtsverletzungen werden jedes Jahr im Rahmen des weltweiten Briefmarathons der Organisation Amnesty International vorgestellt. Mit dem Projekt soll auf das Unrecht aufmerksam gemacht und für Unterstützung geworben werden.
Hunderttausende Menschen schreiben rund um den internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember Briefe an Regierungen. Gemeinsam mit Amnesty International setzen sie sich so dafür ein, gewaltlose politische Gefangene freizulassen und Unrecht zu beenden. Im vergangenen Jahr sind im Rahmen der Aktion „Briefmarathon“ allein in Deutschland 331.395 Briefe zusammen gekommen – ein neuer Rekord. Knapp 70.000 Briefe haben Schüler*innen gemeinsam mit ihren Lehrer*innen geschrieben. Das waren doppelt so viele wie im Jahr 2015. Bundesweit haben sich 546 Schulen beteiligt. Die Aktion findet schon seit vielen Jahren an Schulen in ganz Deutschland statt, um mehr über das Thema Menschenrechte zu lernen und zugleich selbst aktiv zu werden.
Die Teilnahme am Briefmarathon ist für Lehrer*innen ganz leicht: Verschiedene fächerspezifische Unterrichtsvorschläge für die Jahrgangsstufen 7 bis 13 stehen online unter briefmarathon.de/schule bereit. Das kostenfreie Angebot umfasst auch Hintergrundinformationen zu den Einzelfällen, Ländern und Themen.
Andreas Koob
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