Die unsichtbare Arbeitszeit
Wenn es nur Biertischparolen wären, könnten wir LehrerInnen die Rede vom Halbtagsjob und von den traumhaft langen Ferien überhören. Obwohl das Gerede schon nervt, wenn man abends wieder zu lange am Schreibtisch sitzt, die Ruhepause unterbricht, um einem dringenden Gesprächswunsch von Eltern nachzukommen, oder wenn sich am Wochenende die Korrekturen in die Länge ziehen. Wenn Ferien gebraucht werden, um die Korrekturen endlich zu schaffen und Fachliteratur wartet, in die Hand genommen zu werden. Wenn wir spüren, wie dringend wir kollegiale Beratungen und Koordinierungen benötigen, und uns zugleich die Zeit dafür fehlt. Wir wissen, dass für uns die 40-Stunden-Woche nicht gilt und dass unsere Arbeit in Spitzenwochen auch 50 Wochenstunden überschreitet – eindeutig gesundheitsgefährdend. Wir brauchen eine reduzierte Unterrichtsverpflichtung, um mehr Zeit für unsere unsichtbare Arbeit zu haben.
Oberverwaltungsgericht Lüneburg: Schluss mit Willkür
Alles, was LehrerInnen vor und nach dem Unterricht tun, war nach der jahrzehntelang geltenden Rechtsprechung der juristischen Überprüfung entzogen. Dies nutzten die Landesregierungen bislang, um die Unterrichtsverpflichtung nach Bedarf anzuheben. Sie argumentierten, die Gesamtarbeitszeit werde nicht verlängert, sondern die Arbeit intern anders verteilt. So konnten Lehrkräften immer neue Aufgaben zugewiesen werden, ohne dass die Unterrichtsverpflichtung entsprechend gesenkt wurde. Gegen diese Rechtsauffassung steht nun ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Lüneburg – erstritten durch die GEW. Und: Die große Arbeitszeituntersuchung der GEW Niedersachsen macht die unsichtbare Arbeit differenziert empirisch sichtbar – auch für die Betroffenen selbst.
„Mit dem Urteil des OVG Lüneburg vom 9. Juni 2015 wird die Arbeitszeit der Lehrkräfte dem Gutdünken des Regierungshandelns entzogen“, betont Rechtsanwalt Dr. Ralph Heiermann, der die klagenden GEW-KollegInnen vertrat. Die außerunterrichtlichen Tätigkeiten müssen, so das OVG, vom Verordnungsgeber mit angemessenen Mitteln empirisch erfasst werden, wenn er die Unterrichtsverpflichtung festlegt. Weil die niedersächsische Landesregierung diesen prozeduralen Anforderungen nicht entsprochen hat, wurde die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung für Gymnasiallehrkräfte von 23,5 auf 24,5 Wochenstunden für rechtswidrig erklärt. Das OVG hält „Selbstaufschreibungen“ einer repräsentativen Gruppe von Lehrkräften über ein Schuljahr für ein angemessenes Verfahren, um die tatsächliche Arbeitszeit realitätsgerecht zu ermitteln. Schließlich beruhe auch das bundeseinheitliche Personalbedarfsberechnungssystem der Gerichte und Staatsanwälte auf Zeitaufschreibungen.
Empirische Befunde durch minutengenaue Zeiterfassung
Nachdem die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen die Unterrichtsverpflichtung für die Gymnasiallehrkräfte heraufgesetzt hatte, beschloss die GEW, WissenschaftlerInnen der Universität Göttingen mit einer Arbeitszeituntersuchung zu beauftragen. 250 Kollegien mit zusammen mehr als 3.000 Lehrkräften notieren ein Jahr lang, noch bis Ostern 2016, minutengenau ihre Tätigkeiten mittels Smartphone oder PC. Die Untersuchung wird für wichtige Schulformen repräsentative Daten gewinnen. Am 1. August 2016 werden die zentralen Befunde veröffentlicht. Aus ihnen wird die GEW Niedersachsen ihre Forderungen zur Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung und zur Erweiterung von Anrechnungsstunden ableiten. So wird eine neue Runde der politischen und notfalls auch juristischen Auseinandersetzung um den Abbau der Belastungen der LehrerInnen an allen Schulformen eingeläutet werden.
Eberhard Brandt
Vorsitzender der GEW Niedersachsen
Foto: cydonna / photocase.de
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