Kooperation von Kölner Schulen: Inklusion mal anders

Realschüler*innen zu Gast in der Förderschule

Lässig schlendern Lara und Celina, beide 14 Jahre alt, über den Pausenhof. Zwischen ihnen, untergehakt,
die zehnjährige Briana. Drei Mädchen von zwei Schulen, die eine Pause zusammen verbringen – nichts Besonderes eigentlich und doch ungewöhnlich: Die beiden älteren Schüler*innen von der Otto-Lilienthal-Realschule sind einmal in der Woche zu Gast an der Pestalozzischule in Köln, einer Förderschule für Geistige Entwicklung (GE). So entstehen neue Perspektiven auf Inklusion.

Während es mittlerweile üblich ist, dass Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen im Gemeinsamen Lernen inklusiv beschult werden, gehen die beiden Kölner  Schulen einen anderen Weg. Fachunterricht für die Realschüler*innen wird an der Förderschule erteilt. Die Alternative, entweder gemeinsam in der Förderschule oder eher einsam in der Regelschule unterrichtet zu werden, stellt sich damit für die Pestalozzischüler*innen nicht. Mit ihrem Konzept, das inzwischen als „umgekehrte Inklusion“ öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, durchbrechen die beiden Schulen die gängige Praxis. Johanna Kanschat, Leiterin der GE-Schule, ist überzeugt, dass Inklusion nicht nach nur einem Muster funktioniert. Sie plädiert für eine „Vielfalt von Modellen“ und den „Mut, etwas auszuprobieren“.
Wer sich an der Otto-Lilienthal-Realschule für das Wahlpflichtfach Sozialpädagogik entscheidet, kommt dazu wöchentlich zwei Stunden zur Förderschule. Die Realschüler*innen hospitieren im Unterricht, arbeiten gemeinsam mit den Förderschüler*innen oder lernen fachorientiert in ihrer eigenen Gruppe. Zweimal im Jahr bearbeiten die Schüler*innen beider Schulen gemeinsam Themen oder entwickeln Projekte. „Anfangs waren sie völlig geflasht“, erinnert sich Johanna Kanschat an die Reaktionen ihrer Schüler*innen, „inzwischen ist das Normalität“. Seit Anfang 2012 läuft diese Kooperation. Beim wöchentlichen Unterricht in der Pestalozzischule trainieren die Realschüler*innen vier Jahre lang – von der siebten bis zur zehnten Klasse – offensivere Kommunikation und erweitern ihre soziale Kompetenz. Sie lernen so ein anderes System kennen, lernen mit den Einschränkungen ihrer Mitschüler*innen umzugehen, lernen auch, dass man in der GE-Schule anders aufeinander achtet als in der Regelschule.

Ein Stück Normalität erfahren

Die GE-Schüler*innen bleiben bei den gemeinsamen Aktivitäten in ihrer vertrauten Umgebung, in der sie sich sicher fühlen. „Sie waren anfangs von der Präsenz der Realschüler*innen überfordert“, erinnert sich Johanna Kanschat. „Unsere Schüler*innen wachsen sehr isoliert auf. Sie haben wenig Kontakt zu Regelschüler*innen“, sagt die Schulleiterin. Im Umgang mit den Gleichaltrigen erfahren sie ein Stück Normalität, haben Teil an der Jugendkultur, an Musik, Mode, Themen, Trends und lernen dabei von den Realschüler*innen. Eine Win-win-Situation.
Realschülerin Lara findet es gut, mal zu sehen, „wie das an einer anderen Schule abläuft“. Der 15-jährige Luca hat die Erfahrung gemacht, dass die Förderschüler*innen „manchmal ihre Grenzen nicht kennen.
Man muss sagen, was man nicht will.“ Das hat er inzwischen gelernt. Und für die gleichaltrige Jana ist die „umgekehrte Inklusion“ Teil ihrer Philosophie. Sie interessiert, „wie es ist, mit anderen Kindern zusammen zu sein, wie die Unterricht machen“. Laras Fazit ist eindeutig: „Das ist lockerer hier, auf jeden Fall.“
Diese andere Umgebung verändert auch die Realschüler*innen, hat ihre Lehrerin Hildegard Schmidt festgestellt. Anlässe, bei denen sich ihre Schüler*innen früher zierten – etwa sich auf einer Bühne zu präsentieren oder im Chor zu singen – sind kein Problem mehr. Diese Blockaden sind passé. Die Lehrerin nimmt die Gruppe anders wahr als sonst im Unterricht: „Ihr kommt ganz anders aus euch raus“, erklärt sie ihren Schüler*innen im Sozialpädagogik-unterricht als Fazit ihrer Beobachtungen. Eindrücke, die Johanna Kanschat bestätigt. Die Realschüler *innen orientierten sich inzwischen an der Leichtigkeit und Unbekümmertheit ihrer Förderschüler*innen. „Das ist erfrischend zu sehen und das schafft Anerkennung“,
sagt die Schulleiterin.

„Biografien, die wir mitprägen“

Auch Regelschüler*innen erlebten in diesem Umfeld, dass sie mit ihren Eigenarten nicht einzig seien. Als Beispiel erzählt Johanna Kanschat von einem Schüler, der kurz davor stand, die Realschule verlassen zu müssen. Er habe für seinen Umgang mit den GE-Schüler*innen große Anerkennung erfahren und damit „erstmals positive Rückmeldungen bekommen“ – mit Folgen für seine Berufswahl: Er macht eine Ausbildung als Erzieher, mit der Option Sozialpädagogik zu studieren. Realschüler Luca möchte sein Betriebspraktikum in der Förderschule machen. Der Wunsch, „was im sozialen Bereich zu machen“, habe sich durch den Kurs in der Förderschule verstärkt. „Es gibt Biografien, die wir mitprägen“, sagt Johanna Kanschat. Dazu zählen auch Freundschaften, die sich entwickelt haben und über die Schule hinaus Bestand haben.
Sie sieht die Förderschule auch als interessanten Lernort, der kaum wahrgenommen werde, aber „viel zu bieten hat“. Unter ihren Schüler*innen gebe es kaum Mobbing. Der Umgang sei sehr sozial und es herrsche ein kooperatives Klima. Die Leiterin der Förderschule sieht die Realschüler*innen auch als Multiplikator*innen, die diese Erfahrungen weitergeben. Sie leisteten in Familien und Freundeskreisen als Inklusionsexpert*innen einen Beitrag, diese Idee zu verbreiten. Für Johanna Kanschat ist das Ziel klar:
„Das muss in der Gesellschaft ankommen.“

Seit 20 Jahren gemeinsam zum Abitur

Noch einen Schritt weiter ist man an der Anna-Freud-Schule, ebenfalls in Köln. Die Schule in Trägerschaft des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) stellt sich auf ihrer Homepage als die bis heute „einzige weiterführende Schule für Körperbehinderte im Bildungsbereich der Sekundarstufe I und II in NRW und den angrenzenden Bundesländern“ dar. In der Sekundarstufe II machen hier seit mehr als 20 Jahren körperlich behinderte und nichtbehinderte Schüler*innen gemeinsam Abitur. Seit knapp vier Jahren werden auch in der Sekundarstufe I Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet. Das Konzept sei für beide Gruppen interessant, um andere Formen des Zusammenlebens kennenzulernen, so Schulleiter Ludwig Gehlen. Den Begriff „umgekehrte Inklusion“ habe man an der Anna-Freud-Schule geprägt, betont er. Die kleinen Klassen an der Förderschule, andere Formen sozialen Lernens und ein gutes Ganztagsangebot machten die Schule auch für Regelschüler*innen interessant.
Johanna Kanschat hofft auf Nachahmer*innen des Kooperationsmodells, wie es die Pestalozzischule und die Otto-Lilienthal-Realschule pflegen. „Es gibt Schulen, die sich für das Konzept interessieren“, sagt sie. Dafür wirbt sie. Zusätzlicher Aufwand, der anfangs erforderlich sei, lohne sich, ist die Pädagogin überzeugt. Sie wünscht sich  zudem bessere Möglichkeiten der wissenschaftlichen Begleitung, um das Konzept der „umgekehrten Inklusion“ auch durch Daten untermauern zu können.

Rüdiger Kahlke
freier Journalist

Foto: jock+scott / photocase.de; R. Kahlke

 

Nachgefragt

Immer wieder Kontakte knüpfen

Claudia Zeißig ist Schulamtsdirektorin in Köln und unter anderem zuständig für die Aufsicht über Förderschulen für Geistige Entwicklung. Die nds hat mit ihr über die Kooperation der Pestalozzischule
und der Otto-Lilienthal-Realschule gesprochen.


nds: Sie unterstützen die umgekehrte Inklusion, bei der die Pestalozzischule und die Otto-Lilienthal-Realschule kooperieren. Warum?

Claudia Zeißig: Die Kooperation läuft ja nicht erst seit es die Inklusion gibt. Der Kölner Stadtteil Porz war eine Modellregion, unter anderem als Kompetenzzentrum. Die Schulen haben damals viele Freiheiten bekommen, auch um solche Dinge auszuprobieren. Da konnte sich viel entwickeln. Ich finde positiv, dass die Kooperation Berührungspunkte schafft: Es entstehen Kontakte sowohl für Regelschüler*innen als auch für Schüler*innen mit Förderbedarf und es gibt die Möglichkeit, sich kennenzulernen und Teilhabe in der Gesellschaft zu erleben. Die geistig behinderten Schüler*innen haben die Möglichkeit, Regelschüler*innen zu begegnen, sich auszutauschen, voneinander zu profitieren, gemeinsame Aktionen zu machen. Und das gilt für die Regelschüler*innen genauso. Das ist der Gewinn in so einer niedrigschwelligen Situation – immer wieder Kontakte zu knüpfen.
Ist das Modell auf andere Schulen übertragbar?
An einigen Stellen laufen ähnliche Kooperationen. Auf der anderen Rheinseite zum Beispiel, im Kolkrabenweg, gibt es eine weitere Förderschule für Geistige Entwicklung. Im selben Gebäude ist jetzt eine Grundschule. An solchen Punkten beginnt Gemeinsames Lernen – nicht strukturell, indem alle in einer Klasse sitzen, sondern über Begegnungen, über Projekte, über gemeinsames Feiern. Solche Prozesse finden auch immer über das Lehrerzimmer statt, weil die Kolleg*innen, die das begleiten, im engen Austausch sind.
Welche Voraussetzungen müssten gegeben sein, damit das Modell Nachahmer*innen finden kann?
Ich glaube gar nicht, dass es viel Widerstand gegen dieses Modell der Kooperation gibt. Ich bin der Meinung, dass es am besten funktioniert, wenn es sich situativ entwickelt. Es braucht also eine räumliche Nähe. Wenn ein Teil der Beteiligten erst eine halbe Stunde durch die Stadt fahren muss,  sind das gewiss nicht die richtigen Voraussetzungen.
Ich glaube außerdem, dass es hilfreich ist, wenn Lehrkräfte eine offene Haltung zur Inklusion – auch zum Modell der „umgekehrten Inklusion“ – entwickeln. Dann kann man zum Beispiel in Leseprojekte einsteigen, dann kann man über Sport etwas machen. Es hängt zunächst an den Menschen und an den Ideen –
nicht ausschließlich an Räumen und Ressourcen.

Die Fragen für die nds stellte Rüdiger Kahlke.

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