Sprachenlernen braucht individuelle Rezepte

Neu zugewanderte Kinder in Kita und Schule

Die erfolgreiche Integration von neu zugewanderten Kindern erfordert die Aneignung der deutschen Sprache in kurzer Zeit, durch die Pädagog*innen vor große Herausforderungen gestellt werden. Studien der Technischen Universität Dortmund zeigen, dass sowohl die Kinder als auch die Lehrkräfte meist hoch motiviert sind, sich dieser Herausforderung zu stellen. Aber wie kann es gelingen?

Sprachenlernen braucht individuelle Rezepte

Die größte Herausforderung liegt darin, dass es kein allgemeingültiges Rezept geben kann. Die Lebens- und Lernerfahrungen neu zugewanderter Kinder sind weit heterogener als die der deutschstämmigen Kinder und können auch erheblich von unseren Gewohnheiten abweichen. Hinzu kommen traumatische Erfahrungen, über die viele dieser Kinder nicht sprechen können. Pädagog*innen müssen deshalb bei jedem einzelnen Kind zunächst die Voraussetzungen für das Lernen prüfen und Vertrauen wecken. Gleichzeitig müssen wir uns mit gewohnten Bewertungsmustern zurückhalten und stattdessen genau hinsehen und hinhören, um die gebotene Sensibilität und Offenheit im Umgang mit den Kindern entwickeln zu können.

Mehrsprachigkeit als Ressource

Die betroffenen Kinder kommen vor allem aus dem arabischen Raum oder sind EU-Binnenflüchtlinge. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die deutsche Sprache als zweite, dritte oder vierte Sprache möglichst schnell erlernen müssen und zwar so gut, dass sie dadurch in die Lage versetzt werden, das (vor-)schulische Bildungs-angebot bestmöglich zu nutzen. Wichtig ist dabei, Mehrsprachigkeit nicht als Problem zu betrachten. Die aktuelle Forschung zeigt, dass Mehrsprachigkeit als Ressource genutzt werden kann, wie die kanadische Psychologin Prof. Dr. Ellen Bialystock 2009 belegen konnte: Nicht nur wird dadurch Kommunikation in verschiedenen Sprachen ermöglicht, sondern die metasprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder, beispielsweise exekutive Funktionen, profitieren. Im Alter scheinen diese Kinder sogar besser gegen Demenz geschützt zu sein als Menschen, die einsprachig aufgewachsen sind.

Sprache durch Kommunikation lernen

Wie lernen Kinder weitere Sprachen? Kinder, die mit anderen Kindern täglich in Kontakt kommen, suchen nach Kommunikation und Austausch mit ihren Peers und neuen Bezugspersonen. Die meisten Kinder sind mit ihren impliziten Sprachlernstrategien so gut auf neue Sprachen und Kommunikationssituationen vorbereitet, dass sie bei ausreichend gutem Input sowie stabilen, wohlwollenden Beziehungen und Bindungen weitere Sprachen schnell und mühelos erlernen werden. Für Kleinkinder gelingt dies meist mühelos, aber auch Vorschulkinder sind in der Regel nicht überfordert. Für Schulkinder entsteht eine anspruchsvollere Lernsituation: Zum einen, weil die Bildung zumeist ausschließlich in der neu zu erwerbenden Sprache stattfindet. Zum anderen, weil die Kinder in der Schule nicht mit Umgangssprache, sondern mit einer deutlich komplexeren und abstrakteren Bildungs- oder Fachsprache konfrontiert sind. Wichtig ist, dass Lehrkräfte den Kindern informelle Gesprächsräume lassen, sie in ihrer gesamten – mehrsprachigen – Kompetenz sehen und nicht mit einsprachigen Kindern vergleichen. Zugewanderte Kinder benötigen neben dem intensiven sprachlichen Input Anerkennung und Zeit sowie die Möglichkeit, sich in ihren Herzenssprachen auszudrücken – also in den Sprachen, mit denen sie sich identifizieren. Sollten Kinder vor dem Schulbesuch nicht die sprachlichen Kompetenzen erwerben, die in der Schule und im Unterricht vorausgesetzt werden, müssen sich diese Voraussetzungen in der Schule ändern, wenn Schule ein angemessener Lernort für diese Kinder sein soll. Das bedeutet: Unterricht muss an die sprachlichen Kompetenzen der Kinder angepasst werden.

Institutionelle Sprachlernsituationen

Wie die besondere Sprachlernsituation von kürzlich zugewanderten Kindern in Kita und Schule ist, hängt davon ab, welche Situationen Pädagog*innen ihnen schaffen. In Kitas werden neuzugewanderte Kinder häufig sofort in eine bereits bestehende Gruppe integriert. Ob eine Eingewöhnung dabei gelingt, hängt davon ab, wie die pädagogische Fachkraft und die anderen Kinder auf das neue Kind eingehen. Dabei spielt die Sprachbarriere durchaus eine Rolle, aber insbesondere Kinder sind Meister*innen darin, andere Kommunikationswege zu finden, um sich verständlich zu machen. Erzieher*innen empfinden diesen Umstand häufig als besondere Herausforderung, aber: Jede Begegnung ist zuallererst Aufbau von Beziehung und letztlich Bindung; und das geht auch ohne verbale Kommunikation mit Hilfe von Blickkontakt, Gesten und Bildkärtchen oder kleinen Bildwörterbüchern für die Hosentasche.
In Schulen hingegen werden unterschiedliche Wege praktiziert, um neu zugewanderte Kinder in den Schulalltag zu integrieren. Da der Regelunterricht häufig so konzipiert ist, dass eher homogene Lernniveaus gemeinsam unterrichtet werden, wird es oft als unmöglich angesehen, Kinder direkt in Regelklassen zu unterrichten. Deshalb werden viele zunächst in separat und in eigens für sie eröffneten Vorbereitungsklassen unterrichtet. Hier sollen Kinder vor allem Deutsch und das schulische Lernen lernen, bevor sie dann in dem Regelunterricht überführt werden. Derzeit haben die Schüler*innen in diesen Klassen ein bis zwei Jahre Zeit, bevor sie das B2-Sprachniveau erreicht haben und damit als regelschulfähig gelten. Positiv an diesem Modell wird empfunden, dass die Kinder sich in einem geschützten Rahmen aufhalten. Dem steht entgegen, dass Kinder immer lernen und auch neue Sprachen beim Lernen nebenbei und ganz selbstverständlich mitlernen. Modelle, die einzelne Kinder unmittelbar in Regelklassen einschulen, kommen der kindlichen Lernweise deshalb deutlich mehr entgegen. Lernpatenschaften können hier eine Einbindung ins Unterrichtsgeschehen unterstützen. Möglich sind zudem Kombinationen aus Regelbeschulung mit getrennten Angeboten in Vorbereitungsklassen, bei denen die Vorteile beider Systeme genutzt werden. Solange sich Unterricht als Beschulung homogen gedachter Lerngruppen versteht, scheint das der beste Weg zu sein. Sollte sich die Einsicht durchsetzen, dass homogene Lernklassen allen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit nicht gerecht werden können, könnte das Modell der unmittelbaren Integration in eine Regelklasse der inklusive Königsweg werden.

Medien in der Sprachförderung

Medien können sowohl in der Kita als auch in der Schule eine unterstützende Rolle spielen, weil sie den Kindern einen interessanten sprachlichen Input anbieten, bei Hörmedien oder Apps sogar wiederholbar. Auch zugewanderte Kinder verfügen bereits über eine hohe Medienkompetenz und können digitale Angebote intuitiv nutzen. Leider sind die bisher verfügbaren Apps noch nicht attraktiv genug, um auch nachhaltige Wirkung entfalten zu können.

Überwinden des monolingualen Habitus

Der Erwerb der Landessprache ist ein wichtiger Schritt zur gesellschaftlichen Teilhabe.  Kommunikationsräume für die eigene Herkunftssprache zu nutzen bedeutet, seine eigene Identität zu bewahren, so Prof. Dr. Anja Wildemann und Dr. Mahzad Hoodgarzadeh von der Universität Koblenz-Landau. Zudem kann die Herkunftssprache den Erwerb der neuen Sprache explizit unterstützen, wenn Erwachsene oder Peers in der entsprechenden Herkunftssprache mit dem Kind quersprachig kommunizieren, vermitteln oder erklären. Das belegen Untersuchungen der Freigburger Mehrsprachigkeitsforscherin Prof. Dr. Katharina Brizic aus dem Jahr 2009 sowie von Prof. Dr. Ofelia García und Prof. Dr. Li Wei von der City University of New York aus 2014. Das Kind nutzt sein Wissen aus der Herkunftssprache auch, um sich das Deutsche anzueignen und profitiert davon, wenn es mit anderen in dieser Sprache kommunizieren kann. Nicht nur Prof. Dr. Dr. Ingrid Gogolin, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Hamburg, fordert deshalb: Institutionen sollten ihren monolingualen Habitus ablegen. Würde sich das Bildungssystem mehrsprachigen Erwerbswegen deutlich mehr öffnen und Migrant*innensprachen mehr Beachtung in Lernprozessen geschenkt werden, würden mehrsprachige Kitas, mehrsprachiger Unterricht, mehrsprachige Pädagog*innen deutlich mehr gefördert, könnten Kinder ihren Sprachkompetenzen gemäß angemessener betreut, begleitet und unterrichtet werden. Das hätte einen doppelten Vorteil: Kinder könnten ihre Sprachkompetenzen in der Herkunfts- und in der Landessprache ausbauen. Zugleich würde ihre kognitive und sozio-emotionale Entwicklung neben der Sprachaneignung bestmöglich unterstützt.

Prof. Dr. Ute Ritterfeld
Leiterin des Fachgebietes Sprache und Kommunikation der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dortmund

Prof. Dr. Sandra Niebuhr-Siebert
Studiengangsleiterin Sprache und Sprachförderung in Sozialer Arbeit an der Fachhochschule Clara Hoffbauer in Potsdam

Fotos: suschaa, suze / photocase.de

 

Erlasslage zur Beschulung Geflüchteter

Integration vor Ort ermöglichen

Seit August 2016 gelten die Erlasse „Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler“ und „Herkunftssprachlicher Unterricht (HSU)“. Der Landesausschuss für Migration, Diversity und Antidiskriminierung (LAMDA) der GEW NRW sieht Nachbesserungsbedarf.
Die schulische Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen kann nur gelingen, wenn die Sprachkenntnisse vermittelt werden, die sie für eine erfolgreiche Teilnahme am regulären Unterricht brauchen. Da neu zugewanderte Schüler*innen bezüglich ihrer Sprachkenntnisse und ihrer persönlichen Lebenssituation eine extrem heterogene Gruppe bilden, können ihnen speziell gebildete Klassen den Einstieg in das deutsche Schulsystem erleichtern. Diese Klassen sollten nicht an gesonderten Schulstandorten eingerichtet werden und die Klassenfrequenzrichtwerte müssen wie in Inklusionsklassen abgesenkt werden. Auch Klassenbildungen mit ausschließlich neu zugewanderten Schüler*innen müssen möglich sein.
Die Betreuung neu zugewanderter Schüler*innen kann nur erfolgreich sein, wenn genügend Lehrkräfte dafür zur Verfügung stehen. Deshalb fordert der LAMDA die Erhöhung der Stellenzuweisung für die Seiteneinsteigergruppen. Für alle Lehrkräfte sind außerdem Fortbildungsangebote im Bereich der interkulturellen Bildung notwendig.
Der LAMDA kritisiert die Befristung der Einstellung von HSU-Lehrer*innen mit ausländischer Lehramtsprüfung oder ausländischem Hochschulabschluss und plädiert für unbefristete Verträge für alle HSU-Lehrkräfte, die bereit sind, an einer didaktischen und methodischen Fortbildung teilzunehmen. Außerdem kritisiert der LAMDA die Zulassung und Erteilung von Konsulatsunterricht, da eine Einflussnahme auf die Schüler*innen seitens der ausländischen Regierungen nicht ausreichend ausgeschlossen werden kann.

Gabriella Lorusso
Leitungsteam des LAMDA der GEW NRW

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