Gelebte Vielfalt und Integration
Zu Besuch in der Hufelandschule in Bochum
2008 rief die Kanzlerin die „Bildungsrepublik“ aus. Zugleich legt der vom Bundesministerium für Forschung und Bildung vorgestellte Bericht „Bildung in Deutschland 2016“ dar: Nicht jedes Kind hat die gleichen Chancen. Die soziale Herkunft entscheidet über den Bildungserfolg von deutschen sowie zugewanderten und geflüchteten Kindern. Die Hufelandschule, eine Gemeinschaftsgrundschule in Bochum, will dieses Schema aufbrechen und lebt Integration.
In der Hustadt, am südöstlichen Stadtrand von Bochum, leben 3.000 Menschen aus über 40 Nationen. 1965 wurde die Hustadt als Modellstadtteil gebaut, um Wohnraum für akademische und nicht akademische Beschäftigte der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum sowie für Mitarbeiter*innen des Autobauers Opel zu schaffen. So entstanden unter dem Leitbild „Urbanität durch Dichte“ 1.100 große und helle Wohnungen, schöne Außenanlagen mit Spielplätzen für die Kinder und Sitzgelegenheiten für die Erwachsenen. Das Wohnen hier war attraktiv. Aber im Laufe der Jahrzehnte zogen viele Universitätsangehörige und Besserverdienende weg. Die Bevölkerungsstruktur veränderte sich und brachte zunehmend Probleme in die Hustadt: Es gab viele Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger*innen, Menschen ohne Berufsausbildung und ohne Perspektive. Jugendliche fielen durch Respektlosigkeit und Kriminalität auf. Es wurde nichts mehr investiert: Die Gebäude und die Grünflächen verfielen und Angsträume entstanden. Es musste etwas geschehen.
Bunte Hustadt, bunte Schule
2008 übernahm die Stadt Bochum im Zuge der Quartiersentwicklung die Sanierung der Hustadt. Heute ist sie bunt und abends leuchtet sie den Heimkehrenden bereits von der A 43 mit Lichtinstallationen entgegen. Und das Zusammenleben im bunt gemischten Viertel? Seit neun Jahren engagiert sich eine Nachbarschaftsinitiative für die Hustadt und das Querenburger Netzwerk organisiert Nachbarschafts- und Flüchtlingshilfe. Auch die Bildungseinrichtungen vor Ort spielen eine zentrale Rolle für die Lebensqualität, gerade wenn es darum geht, neu Zugewanderte und Geflüchtete in die Gemeinschaft aufzunehmen. Gabriele Danz ist Leiterin der Hufelandschule, einer Gemeinschaftsgrundschule mitten in der Hustadt. Gemeinsam mit ihrer Stellvertreterin Kerstin Weimann und dem gesamten Kollegium hat sie eine Schulkultur geschaffen, in der Vielfalt und Integration täglich gelebt werden.
Soziales Lernen ist die Basis
Nach den Sommerferien 2015 mussten in der Hufelandschule zusätzlich 32 Flüchtlingskinder beschult werden. Die Kinder brachten unterschiedliche Voraussetzungen mit und aufgrund ihrer Fluchterfahrung waren manche von ihnen traumatisiert. Ihnen fehlte die Sprache, aber die Schule entschied, keine Sprachförderklassen einzurichten, sondern jedes Kind in eine Klasse aufzunehmen und täglich mit zwei zusätzlichen Stunden „Deutsch als Zweitsprache“ in Kleingruppen zu fördern. Jedes Kind sollte zunächst Sicherheit in einer festen Gruppe finden und sich nicht auf wechselnde Gruppen einstellen müssen. Das soziale Lernen, das Miteinander hatten zunächst Vorrang. Die geflüchteten Kinder sollten Vertrauen entwickeln und auf dieser Basis sollten das Deutschlernen, die Alphabetisierung, der Aufbau des Grundwortschatzes sowie die Einübung von Satzstrukturen und das fachliche Lernen gelingen.
Die Situation war für die Schule nicht neu. In der Hustadt gibt es viele zugewanderte und geflüchtete Kinder. So wurden etwa in den 1990er Jahren geflüchtete Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien beschult. Die Erfahrung lehrte, dass Kinder schnell auch ohne Sprache Kontakt zueinander finden. Sie spielen miteinander, sie toben in der Pause miteinander. Sie leben Normalität.
Vorbehalte überwinden
85 Prozent der Schüler*innen der Hufelandschule haben einen Migrationshintergrund. Es gibt Vorurteile und Vorbehalte gegen die Schule. „Deutsche Eltern entscheiden sich oft für eine andere Schule“, stellt Schulleiterin Gabriele Danz fest. „Aber wir haben nicht nur problematische Familien. Wir haben viele tolle Kinder mit ganz unterschiedlichen Hintergründen.“
Einer, der begeistert ist von der pädagogischen Arbeit der Schule, ist Prof. Dr. Gereon Wolters, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht der Ruhr-Universität, der mit seiner Familie im Stadtteil Querenburg am Rande der Hustadt wohnt. Auch er kennt die Vorbehalte, denen die Hufelandschule oft gegenübersteht. „Als unser Erstgeborener eingeschult wurde, waren wir gerade erst aus dem beschaulichen Kiel nach Bochum gezogen“, erzählt er. „So haben wir uns natürlich angesichts einiger Stimmen, die uns wegen des angeblich schwierigen sozialen Umfelds andere Schulen empfohlen haben, durchaus gefragt, ob es richtig ist, der Hufelandschule das Vertrauen zu schenken.“
Gereon Wolters und seine Frau haben ihre vier Söhne in die Hufelandschule geschickt. Seit 2008 ist er Schulpflegschaftsvorsitzender. Warum engagiert er sich so sehr für diese Schule? „Unsere vierfache Entscheidung für die Hufelandschule war goldrichtig“, resümiert er rückblickend. „Sie zeichnet sich durch eine wunderbare Vielfalt, durch ein friedliches Miteinander aus, sie ist höchst lebendig und im besten Sinne bunt. Das Kollegium ist vorbildlich engagiert, alle Lehrerinnen gehen auf den individuellen Bedarf eines jeden Kindes ein, die Schulleiterinnen sind den Kindern immer zugewandt und für Eltern und ihre Sorgen stets ansprechbar.“ Das kulturelle Miteinander, einschließlich der damit gelegentlich verbundenen Reibungen, bereichere nicht nur jedes Kind, sondern auch die Eltern ganz unterschiedlicher Herkünfte, meint Gereon Wolters. Es lehre alle, dass Toleranz auf Gegenseitigkeit beruht. „Und für manche nicht zu glauben: Dabei werden die Kinder auch musterhaft auf die weiterführenden Schulen vorbereitet“, fügt er hinzu.
Integration ist eine Aufgabe für alle
Um die Hustadt herum gibt es einen durchgrünten Gürtel mit Eigentumswohnungen und Eigenheimen, in denen Universitätsangehörige und Besserverdienende wohnen. Würden alle dort lebenden Familien ihre Kinder zur Hufelandschule schicken, könnte der Anteil der Kinder, die Deutsch als Muttersprache sprechen, deutlich höher sein. Viele deutsche Eltern entscheiden sich aber gegen den Grundsatz „Kurze Beine, kurze Wege“. Viele Eltern der angestammten Mehrheitsgesellschaft fahren ihr Kind stattdessen mit dem Auto in die nächste Grundschule. Sie haben Angst vor dem schlechten Ruf der Hustadt. Sie haben Bedenken, dass ihr Kind in einer Klasse mit vielen Kindern aus armen Familien mit Migrationshintergrund, in denen nicht Deutsch gesprochen wird, nicht die Grundlagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn bekommen wird.
So fehlt in der Hufelandschule die soziale Mischung und Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, fehlen die Vorbilder, an denen sie sich sprachlich und kulturell orientieren können. Deutschen Kindern ohne Migrationshintergrund wiederum fehlt die Erfahrung, dass Kinder aus anderen Kulturen wunderbare Freund*innen sein können und genauso motiviert lernen wollen wie sie selbst. Schulleiterin Gabriele Danz wünscht sich ein offeneres Wahlverhalten deutscher Eltern, sieht aber auch die Politik in der Verantwortung: „Die Aufhebung der Schulbezirksgrenzen hat die Segregation verstärkt. Aber Integration kann nicht an einige wenige delegiert werden. Die muss die Gesellschaft gemeinschaftlich tragen.“
Bedarfsgerechtes Budget schaffen
Das Gebäude der Hufelandschule ist in einem guten, komplett sanierten Zustand. Die Außenanlagen sind ansprechend kindgerecht gestaltet und gepflegt. Hier arbeitet ein hoch engagiertes Kollegium. Es gibt viele Probleme und die täglichen, immer neuen Anforderungen an die Klassenlehrer*innen sind enorm. Viele Eltern kommen spontan und wollen Rat und Hilfe. Das Vertrauen in die Schule ist groß, der Gesprächsbedarf ist hoch. Wann sollen die Kolleg*innen das aber alles leisten? Und wann geht ihnen die Puste aus?
Die Schule ist auf dem Papier mit Personal gut ausgestattet. Die ausgewiesenen 1,6 Integrationsstellen für die Beschulung der Geflüchteten würden helfen, aber aufgrund von Erkrankungen und Elternzeiten stehen diese Stunden der Schule nicht immer wie vorgesehen zur Verfügung. Eine Sonderpädagogin ist bereits fester Bestandteil des Kollegiums. Zudem gibt es eine Sozialpädagogin, die an zwei Schulen eingesetzt ist. Das ist ein guter Ansatz, aber eine halbe Stelle an der Hufelandschule wird dem Bedarf nicht gerecht. Von einem multiprofessionellen Team, zu dem daneben auch Heilpädagog*innen und Ergotherapeut*innen gehören und das eine große Unterstützung für die Schüler*innen wäre, ist die Hufelandschule damit noch weit entfernt. Das entsprechende Budget fehlt der Schule jedoch.
Im Bundesdurchschnitt geben die Länder pro Schüler*in 900,- Euro mehr aus als NRW. Dieses zusätzliche Geld würde nordrhein-westfälischen Schulen enorm weiterhelfen. Aber auch ein kleineres, angemessenes Budget, über das Gabriele Danz mit ihrem Kollegium bedarfsgerecht verfügen könnte, würde die Bildungschancen ihrer Schüler*innen verbessern. Und das wäre nicht so umständlich zu handhaben wie Zuschüsse aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.
Offensive Öffentlichkeits- oder Lobbyarbeit, die für die Gesellschaft hoch bedeutsamen Leistungen und Forderungen der Hufelandschule auch in die Politik zu transportieren, stehen jedoch nicht an erster Stelle für die Schulleiterin: „Unsere Kraft geht in die tägliche Arbeit und das Kind und nicht in die Außendarstellung.“ Bewundernswert. Und eine Aufforderung an die Bildungsgewerkschaft, sich weiterhin dafür einzusetzen, dass Schulen durch konkrete Maßnahmen wie kleinere Klassen, die bedarfsgerechte Fortentwicklung des Sozialindexes, gesetzliche Mindeststandards und auskömmliche Finanzierung der Offenen Ganztagsschule in die Lage versetzt werden, ihre Schüler*innen besser zu fördern. Wie sonst sollen Integration, Inklusion und gesellschaftlicher Zusammenhalt gelingen?
Barbara Sendlak-Brandt
Mitglied im Referat J (Jugendhilfe und Sozialarbeit) der GEW NRW
Fotos: ohneski/photocase.de, flo-flash/photocase.de; Illustration: DrAfter123/gettyimages.de
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