Kinderarmut: Mit viel Herzblut und Durchhaltevermögen

Lehrkräfte an Brennpunktschulen

Ein warmes Mittagessen, neue Schulbücher, die Mitgliedschaft im Sportverein – für Kinder, die in Armut aufwachsen, sind diese Dinge nicht alltäglich. Vor allem einige Städte im Ruhrgebiet sind von Kinderarmut stark betroffen. Gerade Schulen stehen vor der immensen Herausforderung, Bildung dort zu vermitteln, wo es schon am Nötigsten fehlt.

Carola Richardt ist Lehrerin an der Grundschule Sandstraße in Duisburg-Marxloh. Fast 300 Schüler*innen besuchen die Schule, 97 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund. 23 Kinder sind in der jahrgangsübergreifenden Klasse 1 bis 4, die Carola Richardt unterrichtet. Mit dem Thema Kinderarmut wird sie täglich konfrontiert. „Mindestens die Hälfte meiner Schülerschaft bekommt Gelder aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, Hartz IV oder Arbeitslosengeld II. Zudem habe ich zwei Familien, die weder das eine noch das andere erhalten. Diese betroffenen Kinder haben nicht einmal eine Krankenversicherung. Sie leben vom Kindergeld und erhalten von unserer Schule – beispielsweise bei einer Klassenfahrt – unterstützende Hilfen“, erklärt die Grundschullehrerin.

Bildungsarmut ist ein großes Problem

Im Klartext heißt das: Es fehlt an allem, was es braucht, um vernünftig lernen zu können. Deshalb engagiert sich Carola Richardt privat für ihre Schützlinge: „Ich besorge Hefte, Stifte, neue Schulbücher – und bezahle sie aus eigener Tasche. In diesen Fällen ist nämlich nicht nur die finanzielle Armut ein Problem, sondern vor allem die Bildungsarmut spielt eine große Rolle. Hallenschuhe für den Sportunterricht? Dinge wie diese finden in einigen Familien einfach keine Beachtung beziehungsweise es fehlen die finanziellen Möglichkeiten. Doch was soll ich machen? Das Kind vom Unterricht ausschließen? Sicher ist es auch nicht immer richtig, so unter die Arme zu greifen und man muss natürlich deutlich machen, dass an der Schule bestimmte Regeln gelten. Aber ich habe nur die Kinder im Blick – und wenn ich sehe, dass sie lernen wollen, dann unterstütze ich sie auch im Rahmen meiner Möglichkeiten.“
Generell sieht Carola Richardt die Kommunikation mit den Eltern als eines der großen Probleme an: „Es ist in vielen Fällen unglaublich schwer, die Eltern zu erreichen und einen Kontakt zur Schule herzustellen. Selbst wenn sie zum Gespräch erscheinen – es fehlt an einem grundlegenden Verständnis für Bildung. Bei einem Elternabend kann ich froh sein, wenn überhaupt fünf Eltern zusammenkommen.“ In diesem Zusammenhang ergibt sich ein weiteres Problem, dem die Lehrerin gegenübersteht: „Das soziale Verhalten vieler Kinder ist sehr problematisch. Machohaftes, rüpeliges Gehabe ist hier oft an der Tagesordnung, da brauche ich wirklich Nerven. Viele Kinder kennen es von zu Hause nicht anders.“

Mehr als Basisarbeit ist an der Grundschule nicht drin

Für Lehrer*innen wie Carola Richardt bedeuten Situationen wie diese und der von ihr beschriebene Arbeitsalltag eine andauernde und extrem belastende Herausforderung. „Unsere eigentliche Aufgabe, grundlegende Lern-, Arbeits- und Sozialformen sowie Mathematik, Deutsch oder Sachkunde zu vermitteln, können wir nicht zufriedenstellend erfüllen“, sagt die Lehrerin, die seit 22 Jahren an der Grundschule Sandstraße unterrichtet. „Wir leisten hier erzieherische Arbeit, die in anderen Stadtteilen von Eltern und Kindertagesstätten übernommen wird. Die Vermittlung von Bildung steht immer wieder hinten an. Nur wenige Schüler*innen erreichen den für den Übergang in die Sekundarstufe notwendigen Lernstand Klasse 4.“
Michael Schulte, Geschäftsführer der GEW NRW, bringt es auf den Punkt: „Die Lehrer*innen bemühen sich gegenzusteuern mit den unzureichenden Möglichkeiten, die sie in Kita und Schule haben, und engagieren sich in zahlreichen Fällen über das erforderliche Maß hinaus. Doch es gibt einfach Grenzen. Deshalb wollen wir als GEW NRW, dass das Thema politisch stärker in den Fokus rückt und die Ursachen angegangen werden. Mit unseren gesellschaftspolitischen Forderungen zur Grundsicherung, zur Ablösung von Hartz IV, zum Bildungs- und Teilhabepaket oder zur Steuerpolitik haben wir immer auch den Kampf gegen Armut und Kinderarmut im Blick.“

Kinderarmut hängt stark von der Berufstätigkeit der Mutter ab

Doch wo genau liegen die Ursachen von Kinderarmut? Sie sind vielseitig und werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst. So lassen sich bestimmte Risikogruppen feststellen, in denen Kinderarmut besonders häufig vorkommt. Eine im Juni erschienene Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder vor allem dann in ärmeren Verhältnissen aufwachsen, wenn ihre Mutter nicht arbeitet. Dieses Ergebnis bezieht sich nicht nur auf alleinerziehende Mütter – auch Paare, bei denen nur ein Elternteil arbeitet, können ihre Familie meist nicht finanziell absichern. Ein Gehalt allein reicht nicht mehr aus. „Kinderarmut hängt maßgeblich an der Erwerbstätigkeit von Frauen“, erklärt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. Arbeitet eine alleinerziehende Mutter nicht, wachsen ihre Kinder laut der Studie zu 96 Prozent in anhaltender Armut auf. Geht die Mutter einer regelmäßigen Teilzeitbeschäftigung nach, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf 20 Prozent. Doch auch Kinder aus intakten Familien erleben zu 32 Prozent dauerhaft oder wiederkehrende Armut, wenn die Mutter nicht arbeitet und 30 Prozent der Kinder erleben zumindest kurzzeitige finanzielle Einschränkungen. In der Studie wird daher gefordert, dass es Müttern erleichtert werden muss, arbeiten zu gehen.
Als arm gelten in der Studie Kinder, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens auskommen müssen oder staatliche Grundsicherungsleistungen wie Hartz IV beziehen. Armut in Deutschland bedeute in der Regel nicht, obdachlos oder hungrig zu sein, erklärt die Stiftung. Die Kinder erleben jedoch materielle Entbehrungen und weniger soziale Teilhabe. Von Kindern und Jugendlichen aus finanziell abgesicherten Haushalten sind rund 75 Prozent in Vereinen aktiv. Bei Kindern aus ärmeren Familien sind es mit 40 Prozent nur halb so viele. Doppelt so viele Kinder aus ärmeren Familien als aus finanziell abgesicherten Familien könnten nach eigenen Angaben nicht an Freizeitaktivitäten ihrer Wahl teilnehmen.

Dreistufiges Konzept als Lösungsansatz

Als Lösungsansatz stellt die Studie ein dreistufiges Konzept vor, mit dem Kinder unabhängig von ihren Familien so unterstützt werden, dass sie nicht vom gesellschaftlichen Leben abgekoppelt sind: Erstens braucht es eine belastbare Faktengrundlage – eine sogenannte Bedarfserhebung – darüber, was junge Menschen brauchen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Zweitens soll ein Teilhabegeld diese Bedarfe für alle Kinder sichern. Es ersetzt und bündelt das Kindergeld, den Kinderzuschlag, den SGB-II-Regelsatz für Kinder und einige Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets (BuT). Damit gezielt Familien in Armut unterstützt werden, müsste das Teilhabegeld mit steigendem Einkommen der Eltern verringert werden. Drittens sind gute ganztägige Schulen und Kitas nötig sowie vor Ort einfach erreichbare Anlaufstellen für Eltern und ein Kinder- und Jugendbüro, an das sich junge Menschen mit ihren Fragen und Problemen direkt wenden können.

Bildungs- und Teilhabepaket: Zu viel Bürokratie

„Die Studie stellt ganz klar einige Ursachen heraus, die angegangen werden müssen“, sagt Michael Schulte. Zwar gibt es das BuT, mit dem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus Familien mit geringem Einkommen gefördert und unterstützt werden sollen. Das BuT besteht aus sechs Komponenten: Förderung von Schulausflügen und mehrtägigen Klassenfahrten, Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf, Schüler*innenbeförderung, schulische Angebote ergänzende Lernförderung, Teilnahme an gemeinschaftlicher Mittagsverpflegung und Bedarfe zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft wie Vereinsmitgliedschaften. Doch nicht alle Kinder, die es bräuchten, profitieren von diesem Paket – was vor allem an der Bürokratie liegt. Zudem sind einzelne Leistungen viel zu niedrig und willkürlich festgesetzt.

Ursachen politisch angehen, Lehrer*innen vor Ort unterstützen

„Das BuT ist kein geeignetes Instrument, um wirkliche Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. Um Kinderarmut nachhaltig zu bekämpfen und allen Kindern gute Bildungschancen zu bieten, braucht es grundlegende Maßnahmen wie beispielsweise eine andere Steuerpolitik, um arme Familien und Alleinerziehende stärker zu entlasten“, betont Michael Schulte. „Das ist das eine. Auf der anderen Seite muss auf der praktischen Ebene etwas passieren. Wir sagen ganz klar: Von Armut betroffene Kinder brauchen sinnvoll strukturierte Ganztagsschulen und ein vernünftiges staatliches Angebot, kein kompliziertes Gutscheinsystem in einem Paket. Armut konzentriert sich gerade hier in NRW in bestimmten Städten und Stadtteilen und in diesen muss eine andere Bildung vorgehalten werden als in gut situierten Orten. Man kann Ungleiches nicht gleich behandeln!“
Dem kann sich Carola Richardt nur anschließen: „Uns fehlt es an vielem, was unsere Arbeit erleichtern würde: mehr Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen und Dolmetscher*innen, bessere Räumlichkeiten, mehr Verständnis und Wertschätzung für die Arbeit an Brennpunktschulen. Gerade für meine jungen Kolleg*innen wünsche ich mir eine andere Perspektive und auch eine angemessene Entlohnung. Denn man muss diese Arbeit schon mit viel Herzblut machen, um sie durchzuhalten.“ Sie selbst hat noch knapp zwei Jahre bis zu ihrer Rente: „Bis dahin gebe ich weiterhin alle Kraft für ,meine‘ Kinder, um ihnen trotz aller Widrigkeiten, Bildung zu ermöglichen.“


Denise Heidenreich
freie Journalistin

Fotos (v.o.n.u.): iStock.com / serdjophoto, Jovanmandic, StockPlanets; suschaa / photocase.de

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