Gaming: Spielen ist Lernen – und noch mehr

Computer- und Videolernspiele in Schule

Computerspiele kommen im Unterricht kaum zum Einsatz, obwohl sie für viele Schüler*innen und Lehrkräfte längst zum privaten Alltag gehören. Bislang fehlen vor allem schulische Konzepte, um das große Potenzial der digitalen Spiele für die Wissensvermittlung auszuschöpfen.

„Das Gegenteil von Spiel ist nicht Ernst, sondern Realität. Das Spiel bewirkt eine Verflüssigung der bedrohlich gewordenen oder bedrohlich erlebten Realität und führt zurück zu nun spielerisch gestalteter Potentialität”, schreibt Autor Donald W. Winnicott in seinem Buch „Vom Spiel zur Kreativität“. Potentialität im Spiel ist gleichzusetzen mit Entwicklungsfähigkeit und berührt noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten der*s Spieler*in. Die Suche nach den noch nicht ausgeschöpften Potenzialen von digitalen Spielen ist in der lehr- und lerntechnologischen Forschung in vollem Gange. So prognostizierte der New Media Consortium Horizon Report 2014, wie wichtig Games und Gamifizierung in den nächsten Jahren für den Hochschulbereich werden. Wann sich diese Prognose auch auf schulische Bildungsbereiche übertragen lässt, ist nur eine Frage der Zeit.

Lerntheorien sind Grundlagen für digitale Spiele

Kaum eine spielpädagogische Betrachtung verzichtet auf den Hinweis, dass Spielen immer auch Lernen ist. Alle gängigen lerntheoretischen Ansätze finden sich zu Teilen auch in digitalen Spielen. Dabei macht die richtige Gewichtung zwischen Herausforderung und Erfolg viel aus. Games passen sich gerne den Fähigkeiten der Spieler*innen an und ermöglichen so individuelles Lernen. Im Spiel lernen sie vor allem, die Regeln gut zu beherrschen. Spielen ist zudem ein freiwilliger und intrinsisch motivierter Akt; eine Tatsache, die beim schulischen Lernen manchmal fehlt.
In der schulischen Bildung mittels klassischer Methoden oder in medial vermittelten Formen steht zuerst der ernsthafte Erwerb von Wissen im Vordergrund. Die Frage, inwieweit spielerische Kontexte Einfluss auf den beabsichtigten Lerneffekt haben, ist noch nicht erforscht. Doch wie weit sind schulische Bildung und Games auseinander?

Erinnerungskultur als Spielerlebnis

In der Diskussion stand während der diesjährigen Gamescom das Spiel „Through the Darkest of Times“ von Paintbucket Games, weil es im historischen Setting Hakenkreuze und Hitlergrüße zeigt. Als erstes Spiel in Deutschland bekam es mit Hilfe einer sogenannten Sozialadäquanzklausel (§ 86 Absatz 3 Strafgesetzbuch) die Alterseinstufung „ab 12 Jahre“ durch die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK). Die Sozialadäquanzklausel erlaubt das Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole in den Bereichen der Wissenschaft und Lehre, der Kunst oder der staatsbürgerlichen Aufklärung.
In „Through the Darkest of Times“ organisiert die*der Spieler*in eine Widerstandsgruppe in Berlin nach der Machtergreifung der Nazis 1933. In einer Mischung aus Strategie und Adventure wird man innerhalb der erzählten Geschichte vor moralische Entscheidungen gestellt. Entscheiden wir uns zum Beispiel trotz Schwangerschaft Teil der Widerstandgruppe zu bleiben?  „Through the Darkest of Times“ ist ein feinfühliges Spiel, das den schwierigen Spagat schafft, Erinnerungskultur, die Shoah und die Verfolgung von Minderheiten in einer Diktatur mit Spielelementen zu verbinden. Durch die direkte Einflussnahme der*des Spieler*in nutzt es dabei ein Mittel, das weder im Film noch in der Literatur verwendet werden kann und schafft es dadurch, Geschichte auf eine eigene und sehr persönliche Art erfahrbar zu machen.
Ein weiteres Spiel mit einer ähnlichen Thematik macht die Erinnerungskultur und förderliches Lernen im Spiel noch sichtbarer. In dem preisgekrönten tschechischen Computerspiel „Attentat 1942” werden die willkürliche Verhaftung von tausenden Menschen und Hinrichtung ganzer Dörfer nach dem erfolgreichen Anschlag auf den SS-Offizier Reinhard Heydrich durch tschechische Widerstandskämpfer*innen thematisiert. Gemeinsam mit der Prager Karls-Universität und der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik entwickelten die Macher*innen ein Computerspiel, das eine packende Story erzählt, ohne die Schrecken der Ereignisse zu verharmlosen. Das geschieht mit Hilfe eines atmosphärisch dichten Comicstils, Filmaufnahmen fiktiver Zeitzeugen und originalen Archivaufnahmen.
Das Spiel zwingt nicht zur direkten Auseinandersetzung mit dem heiklen Thema, indem es vordergründige didaktisch aufbereitete Erklärungen beinhaltet, sondern setzt zunächst auf das Spielerlebnis. Wahrscheinlich würden diese Inhalte auch eher als störend empfunden werden. Stattdessen haben die Spielemacher*innen ein ausführliches Lexikon eingearbeitet. Dass man dieses Spiel beziehungsweise diese Form der Erinnerungskultur – ausgerechnet im Volk der Täter*innen – wegen der Symbolik zuerst nicht zeigen durfte, wurde kritisch hinterfragt. Nach dem Präzedenzfall „Through the Darkest of Times“ hat inzwischen auch „Attentat 1942” eine USK-Einstufung „ab 12 Jahre“ bekommen und ist für deutsche Spieler*innen zugänglich.

 

Spielen fördert Informationsbedürfnis

Lernprozesse bleiben im Spiel schwer messbar. Lediglich der Vergleich einer bestimmten Ausgangsvoraussetzung mit dem Wissensstand nach dem Spiel könnte objektiv feststellen, dass Lernen stattgefunden hat. Das wäre ein Wissenstransfer, den Spieler*innen in der beruflichen Praxis immer wieder hervorheben und der für sie offensichtlich ist.
In vielen Beispielen zeigt sich auch, dass sich Spieleentwickler*innen dieser hohen Verantwortung für die inhaltliche Qualität durchaus bewusst sind und dass sie Bildungsprozesse spielerisch erfahrbar machen wollen. Dabei arbeiten sie oft langfristig mit Didaktiker*innen aus unterschiedlichen Bereichen zusammen.
Ein intensives Erlebnis im Spiel fördert das  sachbezogene Bedürfnis nach mehr Information. Das geschieht meist über Foren, Youtube und in Gemeinschaften mit anderen Gamer*innen. Hier kann sich Schule durchaus mehr engagieren, denn ist es nicht das Ideal jeder Didaktik, den sogenannten Motivation Crowding Effect, also die Überschneidung externer und intrinsischer Motivation, für Bildungsprozesse zu nutzen?
Das kann, muss aber nicht nur durch eine vordergründige Thematisierung der Inhalte des Spiels geschehen. Ebenso wäre schulisches Lernen durch eine kluge Aufbereitung des Spielerlebens möglich. Die moralischen Entscheidungen in den genannten Spielen bilden zum Beispiel eine hervorragende Grundlage zur Auseinandersetzung mit dem Thema. Dazu müssen Konzepte entwickelt werden, die Chancen der digitalen Spiele sachgerecht und kritisch zur Kenntnis nehmen und über den Rahmen der bisherigen schulischen Praxis hinausdenken. Ein spielpädagogisches Grundwissen über die Kultur, die Funktionen und Struktur der Spiele – auch der digitalen Spiele – ist für Lehrkräfte dabei von Vorteil und eröffnet neue Horizonte. Zumindest können Games die Türöffner für schulisches Lernen in vielen Bereichen sein. Die Beispiele betreffen die Fächer Geschichte beziehungsweise Sozialkunde und politische Bildung. Qualitativ hochwertige Games finden sich auch in den Bereichen Sprachen, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik oder Kunst.

Warum das Computerspiel so erfolgreich ist

In einer ungewissen, zur digitalen Umgestaltung tendierenden und globalisierten Umwelt mit vielen ungelösten Fragen stellen wir uns dem Konflikt mit einer natürlichen Antwort:  dem digitalen Spiel. Jede Gesellschaft erstellt abstrakte symbolische Modelle ihrer wichtigsten und immer wiederkehrenden Probleme. Sich der Digitalisierung spielerisch anzunähern, wäre nur folgerichtig. Weitere Theorien stellen die Funktionslust, die Selbstwirksamkeitserfahrung, die verdrängten Wünsche der Spieler*innen, den Wunsch nach Entspannung oder Spaß in den Mittelpunkt. Sicher berührt jede dieser Theorien einen Punkt, der zum Erfolg der Computerspiele führte. Aber so unterschiedlich die Spiele sind, so unterschiedlich sind auch die Spieler*innen.
Das Spiel geht weit über den Rahmen eines ernsthaften Lernszenarios hinaus, es weicht von der reinen Wissensvermittlung ab. Es schafft durch seine Möglichkeiten der Erweiterung von Verhaltens-, Erfahrungs - und Erlebnisräumen die Vorausetzungen für eigene weitere Lernprozesse. Dabei scheinen Computerspiele neben diesen wichtigen Metakompetenzen bezüglich des Lernens und Behaltens von intendiertem Wissen nicht schlechter zu sein als die herkömmlichen Medien. Ein Spiel ist aber immer ein außerordentlich vielseitiges Phänomen und nicht nur ein Mittel zum Zweck des Lernens.


Dirk Poerschke
Experte des LVR-Zentrums für Medien und Bildung

Foto: iStock.com / izusek; przemekklos / photocase.de

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