Bildungsungerechtigkeit: Eine Mär?

Begriffsklärung und empirische Fakten

In kaum einem anderen Industrieland hängen die Bildungschancen so stark von der familiären Herkunft ab wie in Deutschland. Die PISA-Studie belegt es. Und dennoch mehren sich Stimmen, die die soziale Benachteiligung im deutschen Schulsystem für eine Erfindung halten. Höchste Zeit für eine Klarstellung.

Zweifel an der sozialen Benachteiligung im deutschen Schulsystem – den einschlägigen Befunden der Bildungsforschung – kommen vorrangig aus dem Lager der Befürworter*innen eines selektiven, gegliederten Schulsystems. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Mai 2018 spricht Bildungsforscher Rainer Bölling von der „Mär der sozialen Ungerechtigkeit“ im deutschen Schulsystem. Er beruft sich auf die aktuelle PISA-Sonderauswertung aus dem Jahr 2015, die zeigt, dass Deutschland erhebliche Fortschritte im Bereich der Resilienz gemacht hat. Gemeint ist hier die Fähigkeit von Schüler*innen, trotz sozialer Nachteile in allen PISA-Testfeldern mindestens die dritte von sechs Kompetenzstufen zu erreichen und damit die Voraussetzung für eine aktive gesellschaftliche Teilhabe und lebenslanges Lernen zu erwerben. Die OECD habe trotz aller Fortschritte bekräftigt, dass der statistische Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft noch immer sehr ausgeprägt sei, kritisiert Rainer Bölling. Das sei aber gar kein Ergebnis dieser Studie. Zweifellos: Deutschland hat Fortschritte gemacht beim Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Rainer Bölling klammert in seiner Argumentation gegen die vermeintlich tendenziöse Darstellung der OECD aber völlig aus, dass nach wie vor erhebliche soziale Disparitäten im deutschen Schulsystem existieren – auch im Bereich der Resilienz.
Für Bildungsforscher Rainer Dollase ist die Abhängigkeit der Bildungschancen von der familiären Herkunft nicht mehr als eine „vermeintliche“ Ungerechtigkeit, wie sein ironischer, teils zynischer Kommentar auf news4teachers.de belegt. Den Befürworter*innen von mehr Bildungsgerechtigkeit wirft Rainer Dollase hysterische Empörungsfreude über „greisenhafte empirische Befunde“ und einen „niedlichen Gestus von Weltverbesserung“ vor. Ernst zu nehmende Befunde zu den Ursachen von Bildungsungleichheit tut er als Weisheiten der „Stammtische“ ab – während er selbst ganz unverhohlen die Stammtische des Bildungsbürgertums bedient: „Kompensatorische Förderung kann und wird nicht gelingen („Förderillusion“)“, heißt es in seinem Beitrag zum Beispiel. Und an anderer Stelle: „Länger gemeinsam lernen ist keine Lösung. Gemeinsames Lernen ersetzt bloß die Institutionen-Diskriminierung durch schulklasseninterne Diskriminierung.“ Belege für diese Aussagen sucht man vergebens. Wenn es sich auch um einen Kommentar und nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung handelt, so ist es doch erschreckend, in welchem Duktus hier von einem herausragenden Befürworter des selektiven Schulsystems ernsthafte Bemühungen um mehr Bildungsgerechtigkeit verunglimpft werden.
Beide Autoren negieren auf Basis singulärer Befunde oder ideologischer Positionen, dass Bildungsungerechtigkeit im Schulsystem existiert. Völlig offen bleibt zudem, welches Verständnis von Bildungsgerechtigkeit ihren Argumentatio-nen zugrunde liegt. Seriöse Beweisführung sieht anders aus.

Was ist Bildungsgerechtigkeit?

Am Anfang einer differenzierten Auseinandersetzung muss die Frage stehen: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Bildungsgerechtigkeit sprechen? Nach dem Humboldtschen Bildungsideal ist Bildung mehr als die reine Aneignung von Wissen und Kompetenzen und dessen, was sich zum Beispiel mit PISA messen lässt. Individualität und Persönlichkeit sowie die Entwicklung von Talenten spielen eine ebenso große Rolle. Als Bildungsziel wird ein reflektiertes Verhältnis zu sich und zur Welt angestrebt und (praktische) Fähigkeiten werden ebenso einbezogen wie personale und soziale Kompetenzen.
Während diese Definition des Bildungs-begriffs weitgehend Konsens ist, wird Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Bildung unterschiedlich konnotiert. Die zahlreichen philosophischen Gerechtigkeitskonzepte lassen sich bezogen auf den Bildungsbereich einigermaßen systematisch ordnen, wenn man sie in drei Kategorien einteilt, die auf Prinzipien der Gleichheit (Verteilungsgerechtigkeit), der Menschenwürde (Teilhabegerechtigkeit) und der wechselseitigen Anerkennung (Anerkennungsgerechtigkeit) basieren. Der Begriff der Bildungsgerechtigkeit umfasst nach diesen drei Kategorien teils sich ergänzende, teils konkurrierende Gerechtigkeitsvorstellungen (siehe Infokasten).
Empirische Befunde belegen zwar, dass nach dem PISA-Schock in den vergangenen Jahren positive Entwicklungen stattgefunden haben: Die Betreuungsquoten im Kita- und Krippenbereich haben sich deutlich verbessert, der Ganztag wurde weiter ausgebaut und immer mehr junge Menschen nehmen ein Studium auf. Doch trotz Bildungsreformen und Bildungsexpansion ist eines der dringlichsten Probleme nach wie vor ungelöst: das Gerechtigkeitsproblem. Auch das belegen die empirischen Befunde, wie deutlich wird, wenn alle drei Gerechtigkeitsperspektiven einbezogen werden.

Verteilungsgerechtigkeit: System verstärkt soziale Disparitäten

Der Bildungserfolg ist in Deutschland stärker als in vielen anderen Ländern nach wie vor vom Bildungsstand und vom Geldbeutel der Eltern abhängig. Beispielsweise erhalten Kinder aus unteren Sozialschichten bei gleicher Leistung mitunter schlechtere Noten als andere oder seltener eine Übergangsempfehlung für einen Bildungsgang zum Abitur. Sie haben erheblich geringere Chancen, ein Gymnasium zu besuchen oder ein Studium aufzunehmen. Nach wie vor erreichen Schüler*innen aus schwierigen sozialen Lagen und mit Migrationshintergrund niedrigere Bildungsabschlüsse. Das selektive Schulsystem ist weder leistungs- noch begabungsgerecht, wie hohe Leistungsüberlappungen zwischen den Schulformen zeigen. Da es nach wie vor nicht genug gebundene Ganztagsschulen gibt, kommt unser Schulsystem weiterhin nicht ohne privaten Nachhilfeunterricht aus. Kinder aus armen Familien werden dadurch benachteiligt. Soziale Disparitäten werden von der Kita über die Grundschule bis zum Studium oder zur Berufsausbildung nicht nur weitertransportiert, sie verstärken sich sogar von Bildungsstufe zu Bildungsstufe durch differenzielle Entwicklungsmilieus in den verschiedenen Schulformen.

Teilhabegerechtigkeit: Fehlende Ressourcen, unerreichte Mindeststandards 

Trotz leichter Verbesserungen erreicht immer noch ein hoher Anteil von Kindern nicht die Mindeststandards, die für eine erfolgreiche Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben notwendig sind. Es gibt nur marginale zusätzliche Ressourcen für Schulen und Kinder aus benachteiligten Familien, die nicht ausreichen, damit alle Kinder die Mindeststandards erreichen. Eine sozialindizierte Ressourcensteuerung anhand eines schulscharfen Sozialindexes ist immer noch nicht in Angriff genommen worden. Stattdessen etabliert die Landesregierung in NRW fragwürdige Talentschulen.

Anerkennungsgerechtigkeit: Selektion und Exklusion sind Alltag

Unser Schulsystem weigert sich weiterhin, Schulstrukturen aus dem vorletzten Jahrhundert infrage zu stellen, und hält an der frühen Selektion nach der Grundschule fest. An den Gelenkstellen des Systems findet so weiterhin sozial gekoppelte Sortierung statt. Klassenwiederholungen und Abschulungen auf niedrigere Schulformen werden weiterhin praktiziert. Die damit verbundenen Verletzungen der Schüler*innen werden in Kauf genommen, obwohl die Wirkung dieser Maßnahmen zweifelhaft ist. Die Inklusion von Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf stagniert und wird durch den Erhalt auch kleiner Förderschulen in NRW sogar zurück-gedrängt. Die Frage der Schulstruktur wird als Handlungsfeld schulischer Qualitätssicherung und -weiterentwicklung ausgeklammert. Selbst die „Gemeinsamen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung“ von 2008 sparen das Thema aus.

Die Mär von der Mär

Die Brisanz dieser Befunde liegt auf der Hand: Schließlich hat Bildung großen Einfluss auf Lebenschancen – auf den Zugang zum Arbeitsmarkt, auf die Verteilung materieller Ressourcen, auf Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe oder auf die Art und Weise der Lebensführung. Bildungserfolg und soziale Herkunft zu entkoppeln, soziale Selektivität zu verringern und die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems zu erhöhen, bleiben zentrale Herausforderungen für Politik, Administration und Praxis. Die „Mär von der Bildungsungerechtigkeit“ ist eine ideologische Mär.


Gerd Möller
Mitherausgeber der Zeitschrift „Schulverwaltung NRW“ und Mitarbeiter im Schulministerium a. D.

Foto: iStock.com / kevron2001

 

 

Drei Gerechtigkeitskonzepte

Verteilungsgerechtigkeit
Dem US-amerikanischen Philosoph John Rawls zufolge können soziale und ökonomische Ungleichheiten nur gerechtfertigt werden, wenn sie zwei Bedingungen erfüllen: „Sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und sie müssen den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).“
Übertragen auf den Bildungsbereich bedeutet das: Institutionelle Regelungen in Bildungseinrichtungen sind fair, wenn sie keine Nachteile für bestimmte Gruppen mit sich bringen. Sie sind hingegen ungerecht, wenn sie Kriterien berücksichtigen, die über die individuelle Leistung hinausgehen – zum Beispiel das Geschlecht, die Herkunft, das Alter oder die Region. Bildungs-institutionen verstoßen also gegen die Forderungen der Verteilungsgerechtigkeit, wenn Menschen trotz gleicher kognitiver Ausgangsvoraussetzungen nicht die gleichen Chancen haben, ein entsprechend hohes Kompetenzniveau zu erreichen. Das Gerechtigkeitsprinzip wird ebenso verletzt, wenn ein Bildungssystem Unterschiede in den Ausgangsvoraussetzungen nicht so weit wie möglich ausgleicht.

Teilhabegerechtigkeit
Der indische Philosoph Amartya Sen und die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum konzentrieren sich für ihr Gerechtigkeitskonzept nicht auf institutionelle Regeln, sondern auf die erfolgreiche Vermittlung von Teilhabefähigkeiten. Eine gerechte Schule ermöglicht demnach allen Schüler*innen, Grundfähigkeiten auszubilden, die zu einer menschenwürdigen Lebensführung und zur gesellschaftlichen wie politischen Partizipation befähigen. Ein Bildungssystem ist ungerecht, wenn etwa sozial benachteiligte Kinder elementare Bildungsziele nicht erreichen. Sie können beispielsweise nicht richtig lesen und bleiben bezogen auf diese und andere Kompetenzen unterhalb einer Schwelle, die ein gutes Leben in unserer Gesellschaft ermöglicht. Prekäre Lebenssituationen werden auf diese Weise vererbt.

Anerkennungsgerechtigkeit
Der Gerechtigkeitsansatz des deutschen Sozialphilosophen Axel Honneth fokussiert auf die Interaktionen in den Bildungsinstitutionen und die damit verbundenen Anerkennungsprozesse.  Eine gerechte Schule begegnet demzufolge allen Schüler*innen mit Empathie, Respekt und sozialer Wertschätzung – unabhängig von deren persönlichen Voraussetzungen und Zielen. Die Einsortierung in verschiedene Schultypen nach Klasse 4, schulische Selektion durch Klassenwiederholungen oder Abschulungen sowie der Ausschluss von Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf aus dem allgemeinbildenden Schulsystem müssen aus Perspektive der Anerkennungsgerechtigkeit als Missachtung gegenüber den Betroffenen gedeutet und kritisiert werden.

 

2 Comments
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Kommentare (2)

  • Rainer Bölling Es ist schon bemerkenswert, wie gegen meinen Artikel die ideologische Keule geschwungen wird, ohne sein zentrales Anliegen, nämlich den internationalen Vergleich auf Basis der PISA-Daten 2015, auch nur zu erwähnen. Die dort aufgeführten empirischen Daten hätten wohl das Weltbild des Verfassers allzu sehr erschüttert. Damit selbstständig denkende Leser sich selbst ein Bild machen können, hier der Link auf den Artikel: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/bildung-und-statistik-die-maer-von-der-sozialen-ungerechtigkeit-15613597.html
    • Gerd Möller Sehr geehrter Herr Bölling,
      ich werde mich am „ideologischen Keuleschwingen" nicht beteiligen. Was mich an Ihrem Artikel in der FAZ stört, ist das isolierte Herauspicken von empirischen Befunden und gleichzeitig wichtige Ergänzungen für den Kontext durch die OECD anzuprangern. Als ehemaliges Mitglied der deutschen PISA-Expertengruppe in Mathematik sind mir die umfassenden PISA-Daten bekannt, sie stören mein Weltbild keineswegs, im Gegenteil. Völlig offen bleibt bei Ihrer Kernaussage „Soziale Ungerechtigkeit ist eine Mär" vor allem, woran Sie dies eigentlich festmachen. Hier reicht es nicht auf einen Ländervergleich hinzuweisen und die Befunde für Deutschland als „schwach (!) signifikant über dem OECD-Durchschnitt" zu bezeichnen und auf Länder zu verweisen mit höherer Varianzaufklärung. Was mir aber vor allem fehlt, ist, welche Begrifflichkeiten Sie eigentlich in Ihrem Artikel bezüglich der Bildungs(un)gerechtigkeit verwenden. Das habe ich im nds-Artikel auch für Sie nachgeholt.
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