Zur Zukunft des Gymnasiums: Vorsicht vor falschen Freund*innen

Kommentar: Eine nostalgische Reform schadet dem Gymnasium

Im Koalitionsvertrag trifft die neue Landesregierung die Leitentscheidung, ab dem Schuljahr 2019 / 2020 an den Gymnasien den neunjährigen Bildungsgang (G9) einzuführen. Über seine künftige Ausgestaltung sagt das noch nichts. Die Gefahr ist groß, dass die nostalgische Suche der konservativen Gymnasiallobby nach Alleinstellungsmerkmalen dem Gymnasium massiv schadet. Es gibt andere Wege.

Inzwischen ist klar, dass einer schlanken Schulgesetznovelle eine Überarbeitung der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen folgen soll. Zu einem ersten Meinungsaustausch hat das Schulministerium Vertretungen der Lehrkräfte, kommunale Spitzenverbände, Elternverbände und -initiativen sowie Schüler*innenvertretungen zu getrennten Gesprächen eingeladen. Einigkeit bestand über den Katalog der zu klärenden Fragen. Die Antworten variierten stark.

Leitentscheidung oder Dauerstreit?

Die Schulkonferenzen dürfen zunächst einmalig von Herbst 2018 bis Januar 2019 mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, bei G8 zu bleiben. Als Folge eines G8-Beschlusses wird der Schulträger einbezogen und es braucht schließlich eine Genehmigung durch die zuständige Bezirksregierung. Öffentliche oder private Schulträger sollen jedoch auch später weiterhin G8-Gymnasien gründen können. Das bestärkt die GEW NRW in ihrer Forderung nach einer klaren Entscheidung für den neunjährigen Bildungsgang für alle Gymnasien – so wie es alle Beteiligten am runden Tisch G8 / G9 in der letzten Legislaturperiode gesehen haben. Wenn Philologenverband (PhV) und Rheinische Direktorenvereinigung (RhDV) das Vorgehen der Landesregierung nun gutheißen, haben sie offensichtlich ihre eigenen Voten vergessen. In einem Papier von Dezember 2016 hatte die RhDV noch formuliert: „Aus unserer Sicht ist wichtig und unverzichtbar, dass die Entscheidung zentral für unser Land getroffen wird und nicht jede Schule oder der jeweilige Schulträger selbst entscheiden kann.“

Zurück in die Zukunft?

Damit das Gymnasium in NRW zukunftsfähig bleibt, braucht es jetzt die richtige Reform. Die Positionen von PhV und RhDV muten jedoch eher wie ein Rückschritt an, wie die nostalgische Sehnsucht nach einer exklusiven Schulform.
Die Argumente, mit denen die konservativen Verbände mehr Möglichkeiten für Schulleitungen fordern, „Kinder, die nicht ans Gymnasium gehören“, beim Übergang in die Sekundarstufe I abweisen zu können, klingen wie der Ruf nach dem ehemals propagierten Prognoseunterricht. Mehr Vertrauen in die Kompetenz der Lehrer*innen an Grundschulen wäre hier angebracht.  
Da es in allen Schulformen bei einer Stundentafel mit 188 Stunden bleiben soll – 180 plus acht Ergänzungsstunden–, fordert die GEW NRW diese Stundenzahl auch für die Schüler*innen am Gymnasium. Für den PhV sind 180 Stunden genug – also keine zusätzliche Förderung durch Ergänzungsstunden wie an den anderen Schulformen. Schüler*innen am Gymnasium brauchen sie nicht, so die These.
Die zweite Fremdsprache sollte aus Sicht der GEW NRW erst in Klasse 7 beginnen. Dann könnte auch an den anderen Schulformen die einheitliche Orientierungsstufe wiederhergestellt werden und eine Aufteilung der Schüler*innen müsste nicht bereits in Klasse 6 erfolgen. PhV und RhDV halten am Beginn der zweiten Fremdsprache in Klasse 6 fest. Wer das nicht schaffe, sei eben nicht fürs Gymnasium geeignet.
Für die zentrale Prüfung in Klasse 10 fordert die GEW NRW eine einheitliche Regelung für alle Schüler*innen. Die zentrale Klausur in der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe könnte dann entfallen. Für den PhV brauchen Schüler*innen des Gymnasiums für den mittleren Schulabschluss diese zentrale Prüfung an der Langzeitschulform Gymnasium nicht. Mit der Versetzung in die gymnasiale Oberstufe solle am Gymnasium auch der mittlere Schulabschluss vergeben werden.
Wer stets betont, G8 und G9 müssten am Halbtagsgymnasium möglich sein, ignoriert Erkenntnisse der vergangenen Jahre. Auch die Gymnasien brauchen einen weiteren systematischen Ausbau des Ganztags. Hier geht es nicht um bloße Betreuung, sondern um Bildungschancen.
Die GEW NRW hält daran fest, dass durch eine flexiblere gymnasiale Oberstufe auch eine individuelle Verkürzung oder Verlängerung der Schulzeit am Gymnasium möglich sein muss. Dazu braucht es keinen eigenständigen Bildungs-gang eines Gymnasiums „Typ G8“. Mit dem „Abitur im eigenen Takt“ können vielmehr unterschiedliche Voraussetzungen ausgeglichen und unterschiedliche Lerntempi gewürdigt werden.

Unfall mit Fahrerflucht?

Die Positionen von PhV und RhDV in diesen Fragen folgen in der Summe einem Leitmotiv: der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen für das Gymnasium. Wer so agiert, schadet dem Gymnasium und ignoriert jahrelange Schulentwicklung. Das Gymnasium ist zu wichtig, es dieser Lobby zu überlassen. Andernfalls wird die Reform der gymnasialen Schulzeit erneut ein Unfall mit Fahrerflucht.


Dorothea Schäfer
Vorsitzende der GEW NRW

Foto: Marie Maerz / photocase.de

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