Prävention gegen gewaltbereiten Salafismus

Pädagog*innen fit machen, Jugendliche stärken

Extremistischer Salafismus beschäftigt nicht nur die Sicherheitsbehörden, sondern auch Bildungseinrichtungen in Deutschland. Denn häufig sind es Jugendliche, die mit der salafistischen Szene sympathisieren und gezielt angeworben werden. Umso wichtiger sind Projekte, die Jugendliche stärken und Pädagog*innen das richtige Handwerkszeug vermitteln, um sie zu unterstützen.

Deutsche Sicherheitsbehörden schätzen, dass rund 300 deutsche Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern in Kampfgebiete wie Syrien oder Irak gezogen sind oder dort geboren wurden, wo sie islamistisch salafistischen Einflüssen ausgetzt sind. Neben rund 100 Familien, die inzwischen wieder als  sogenannte Rückkehrer*innen in der Bundesrepublik leben und im Visier des Verfassungsschutzes stehen, warten noch einige Frauen mit ihren Kindern an unterschiedlichen Grenzen auf ihre Ausreise nach Deutschland. Voraussichtlich wird es insgesamt mehr als 100 minderjährige Rückkehrer*innen geben. Konkrete Zahlen sind schwer zu ermitteln, da unter anderem aus datenschutzrechtlichen Gründen Kinder unter 14 Jahren nicht erfasst und beobachtet werden dürfen.
Hinzu kommen Kinder und Jugendliche, die in islamistisch-salafistischen Familien aufwachsen. Auch wenn nicht reflexartig angenommen werden darf, dass alle Rückkehrer*innen und Kinder aus islamistisch-salafistischen Familien radikalisiert und ideologisiert sind, stellt das Thema nicht nur die Sicherheitsbehörden, sondern auch Jugendämter, Sozialarbeit, Schulen, Kitas und andere Bildungseinrichtungen vor große Herausforderungen.

Pädagog*innen müssen erkennen: Ist das Religion oder etwas anderes?

Gegenwärtig ist viel zu wenig über zurückkehrende Kinder und Kinder in islamistisch-salafistischen Familien bekannt. Einige Bundesländer fordern, dass auch Kinder unter 14 Jahren beobachtet und ihre Daten erfasst werden sollen. Ebenso wird kontrovers diskutiert, ob es sich bei einer islamistisch-salafistischen Erziehung um eine Kindeswohlgefährdung nach § 8a des Sozialgesetzbuches handelt. Auch wenn die Merkmale für eine Kindeswohlgefährdung gesetzlich klar formuliert sind, reicht eine radikal religiöse Überzeugung der Eltern oft nicht aus. Eine Kindeswohlgefährdung liegt zum Beispiel vor, wenn die körperliche, seelische oder geistige Entwicklung des Kindes nachweislich durch die Lebensführung der Erziehungsberechtigten beeinträchtigt wird. Dazu könnten etwa eine starke gesellschaftliche Isolation, die Pflicht der Abgrenzung von Andersgläubigen oder Einschränkungen der kindlichen Autonomie zählen. An dieser Stelle werden interessanterweise schnell Parallelen zum Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in rechtsextremen Familien deutlich. Der Islamismus ist jedoch im Vergleich zum Rechtsextremismus medial viel präsenter und als Problem noch recht jung.
Schule und Kita sind wichtige Ansatzpunkte, um betroffene Kinder aufzufangen. Sie können einen erheblichen Beitrag zu alternativen Einflüssen außerhalb des Elternhauses leisten und gegebenenfalls Auffälligkeiten wahrnehmen. Doch Salafismus zu erkennen und mit ihm umzugehen, ist für viele Bildungseinrichtungen noch extrem herausfordernd, was auch die Beratungsstelle „Wegweiser“ im Kreis Wesel bestätigt. Das Präventionsprogramm gegen gewaltbereiten Salafismus wird vom nordrhein-westfälischen Ministerium des Innern koordiniert und finanziert und hat aktuell 17 Anlaufstellen in NRW. Ein Mitarbeiter der Beratungsstelle berichtet, dass „gerade im Kontext Schule das Thema Islamismus irritierend und überfordernd wirken kann. Oft stellen sich Lehrkräfte oder Erzieher*innen in der jeweiligen Situation die Frage, ob es sich hier um Religion oder um etwas anderes handelt. Zum Beispiel wenn Schüler*innen eine Möglichkeit für das Gebet in der Schule einfordern. Hier haben Schulen scheinbar noch Schwierigkeiten, eine klare Position zu entwickeln.“

Erzieher*innen brauchen Fachwissen und Handwerkszeug

Die Situation richtig einzuschätzen, vorurteilsfrei zu agieren und nicht zu pauschalisieren – mit dieser Gratwanderung haben Erzieher*innen und Lehrkräfte vor Ort meist zu kämpfen. Manchmal stehen aber auch die persönliche Haltung, Überforderung oder schlichtweg Unwissenheit einem verantwortungsbewussten Handeln im Weg. Wenn eine Schülerin das Kopftuch trägt oder ein Schüler immer wieder betont, der Islam sei die beste Religion von allen, sind das nicht immer gleich Indizien für eine islamistische Radikalisierung. Nicht selten steckt dahinter der Wunsch nach Zugehörigkeit, Identität und Stärke – gerade bei Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte, die häufig von sozialer und kultureller Marginalisierung betroffen sind. In der alltäglichen pädagogischen Arbeit geht es vor allem darum, Situationen richtig einschätzen zu können und dementsprechend zu handeln. Denn natürlich können religiöse Aussagen oder Handlungen ein Ausdruck islamistischer Ideologie sein.   
„Wegweiser“ im Kreis Wesel plädiert deshalb dafür, dass Schulen zunächst durch Fortbildungs-angebote in diesem Themenfeld fachkundig ausgebildet werden. Gleichzeitig müssen sie für den Übergang in die Praxis eine langfristige Strategie sowie Handlungsansätze und -routinen entwickeln. „Es reicht nicht aus, punktuelle Veranstaltungen anzubieten, in denen abstrakt über das Thema referiert wird. Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter*innen brauchen eine Handreichung, um darüber hinaus in konkreten Situationen agieren zu können“, weiß der Mitarbeiter der Beratungsstelle. „Da die Schule ein schnelllebiger Mikrokosmos ist, ist es immens wichtig, aktuelle Entwicklungen und Lagebilder innerhalb der Schüler*innenschaft zu erfassen. Das gelingt am ehesten durch eine fest implementierte und regelmäßig agierende Struktur, die den Gedanken des Case Management verfolgt. Das funktioniert zum Beispiel, indem sich Beratungslehrkräfte und Schulsozialarbeiter*innen zu einer Präventions-AG zusammenschließen.“

Zivilgesellschaftliche Akteure eröffnen Kontakt zum liberalen Islam

In diesem Setting sind insbesondere die zivilgesellschaftlichen Akteure gefragt. Behördliche Maßnahmen allein, die an der Wahrung von Sicherheit interessiert sind und auf Grundlage von Gesetzen agieren, reichen nicht aus. In der pädagogischen Umsetzung präventiver Ansätze geht es hingegen um das Individuum und dessen Entwicklung. Zivilgesellschaftliche Akteure können auch Vertreter*innen muslimischer Migrant*innenorganisationen oder Imame der Moscheen sein, die in die Präventionsarbeit eingebunden werden. Welche Moscheevereine den liberalen Islam vertreten, wissen in der Regel die Kommunalen Integrationszentren oder die städtischen Integrationsbeauftragten. Die Einbindung von liberalen Vertreter*innen des Islam zeigt zugleich Wertschätzung und Akzeptanz gegenüber den muslimischen Kindern, Jugendlichen und Eltern, aber auch gegenüber muslimischen Vereinen. Gerade weil zum Islam so viele unterschiedliche Strömungen und Lebensformen gehören, ist es umso wichtiger, sich mit den Lebenswelten muslimischer Kinder und Jugendlicher auseinanderzusetzen. Diskutiert eine Bildungseinrichtung zum Beispiel kritisch über den Wunsch nach einem Gebetsraum oder über das Fasten im Ramadan, wird ihr nicht selten vorgeworfen, gegen den Islam zu sein. Die Reaktion ist oft mit Trotz und verhärteten Fronten verbunden, was wiederum den Zugang erschwert.
Ratsam ist zudem eine engere Zusammenarbeit von Schulen, Sozialarbeit, und Kitas mit den örtlichen Jugendämtern.  Bei einer möglichen Gefährdung und einem entsprechenden Verdacht können sie effektiver reagieren, den Bildungseinrichtungen beratend zur Seite stehen und gegebenenfalls Maßnahmen einleiten. 

Primäre Prävention braucht keinen Anlass

Auch wenn es in der pädagogischen Arbeit um Akzeptanz und Wertschätzung verschiedener Religionen geht, müssen selbstverständlich Grenzen gesetzt werden, wenn demokratiefeindliche, gewaltbereite und menschenverachtende Aussagen oder Handlungen ins Spiel kommen. Mittlerweile unterstützen zahlreiche Handreichungen Lehrkräfte dabei, Unterrichtseinheiten zu Islamismus, Salafismus oder Extremismus zu planen, um die Schüler*innen zu sensibilisieren.
Schulen können Prävention auch als Chance und Gelegenheit sehen, um Schüler*innen zu fördern. Präventionsarbeit erfordert nicht immer eine situative Problematik und einen konkreten Interventionsbedarf. Gerade primäre Prävention im Sinne von Wertevermittlung und Demokratiepädagogik wirkt als allgemeine Immunisierung und macht Schüler*innen stark gegen diverse problematische Tendenzen und Denkmuster. Denn primäre Prävention braucht keinen Anlass.


Senol Keser
freier Journalist und Mitglied im Leitungsteam des Landesausschusses Migration, Diversitiy und Antidiskriminierung der GEW NRW

Fotos: Foxi66, Chad / photocase.de

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