Zweiter Bildungsweg: Die zweite Chance

Weiterbildungskollegs in Nordrhein-Westfalen

Der Zweite Bildungsweg hat in Deutschland eine fast hundertjährige Tradition: Bereits seit den 1920er Jahren wird Erwachsenen die Möglichkeit geboten, an staatlichen und privaten Institutionen Schulabschlüsse bis hin zum Abitur nachträglich zu erwerben. Diese bildungspolitisch unverzichtbare Funktion erfüllen Weiterbildungskollegs bis heute.

In der jüngeren Vergangenheit wurde der Zweite Bildungsweg zwar von einigen Landesregierungen teils drastischen Kürzungen unterworfen, in NRW konnte seine vielfältige Angebotsstruktur jedoch erhalten werden. Diese Vielfalt spiegelt sich auch
in den zahlreichen Schulformen wider, die dem Zweiten Bildungsweg zugeordnet werden: Abendgymnasien, Kollegs, Abendrealschulen und Volkshochschulen. Die ersten drei Schultypen werden in NRW unter der Bezeichnung „Weiterbildungskolleg“ zusammengefasst. Volkshochschulen unterscheiden sich in zahlreichen Aspekten von Weiterbildungskollegs, etwa hinsichtlich der personellen Ausstattung und der Organisation der Bildungsgänge.
Während Abendrealschulen in zwei bis vier Semestern den Weg zum Hauptschulabschluss
und zur Fachoberschulreife eröffnen, können an Abendgymnasien und Kollegs der schulische Teil der Fachhochschulreife in vier Semestern und die allgemeine Hochschulreife in sechs Semestern erworben werden.

Bildung mit Vielfalt: Heterogene Studierendenschaft

Doch wer lernt an Weiterbildungskollegs? Wer gehört zur Zielgruppe? Die beiden folgenden fiktiven Studierenden zum Beispiel wären im Zweiten Bildungsweg goldrichtig: Ein berufserfahrener Krankenpfleger möchte sich weiterqualifizieren. Er beabsichtigt, das Abitur nachzuholen und anschließend Medizin zu studieren. Eine Technikerin erkennt die Chancen eines Ingenieurstudiums und beschließt, einen berufsbegleitenden Bildungsgang zum Erwerb der Fachhochschulreife zu belegen.
Zugleich transportieren diese Beispiele ein historisch gewachsenes Bild der Studierendenschaft im Zweiten Bildungsweg, das der Gegenwart nur teilweise entspricht. Die berufs- und lebenserfahrenen Studierenden, die motiviert von der Aussicht auf berufliche oder persönliche Weiterentwicklung berufsbegleitend das Abendgymnasium oder nicht berufsbegleitend das Kolleg besuchen, sind zwar eine klassische Klientel des Zweiten Bildungswegs. Über die vergangenen Jahrzehnte haben jedoch andere Studierendengruppen zunehmend an Bedeutung gewonnen: So bieten die Weiterbildungskollegs jenen Erwachsenen mit Migrationserfahrung eine Chance auf Bildung, deren Bildungsabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden oder die in ihrer Heimat keine mit deutschen Abschlüssen vergleichbare Qualifikation erwerben konnten.
Weitere Zielgruppen sind Erwachsene, deren schulische Laufbahn im Ersten Bildungsweg aufgrund von Krankheit, wegen familiärer oder anderer Probleme unterbrochen wurde, ebenso wie Erwachsene, die mit einem höheren, weiterqualifizierenden Schulabschluss mangelnden beruflichen Perspektiven entgegentreten möchten. Andere Studierende lassen sich keiner dieser Kategorien zuordnen, etwa geflüchtete Erwachsene ohne arbeitsmarktadäquate Schulbildung oder Kinder von beruflich Reisenden
aus der Schausteller*innenbranche.

Bildung nach Maß: Lernmodelle und Abschlüsse

All diesen Studierenden wird ein schulisches Umfeld geboten, das sich in mehreren Aspekten vom Ersten Bildungsweg unterscheidet. Insbesondere Abendgymnasien und Kollegs betonen das erwachsenengemäße Lernen, das nicht nur ein hohes Maß an Eigenverantwortung seitens der Lernenden voraussetzt. Es wird auch von Lehrenden geprägt, die den äußerst heterogenen Bildungsbiografien der Studierenden sensibel
zu begegnen und diese als wertvolle Ressource zu nutzen wissen. Darüber hinaus umfasst der Fächerkanon des Zweiten Bildungswegs einige Unterrichtsfächer, die an anderen Schulformen nicht zu finden sind, jedoch den Interessenlagen der Studierenden entgegenkommen, etwa Soziologie und Volkswirtschaftslehre.
Besonders wichtig ist für viele Studierende, zwischen verschiedenen Bildungsgängen mit spezifischen Unterrichtszeiten wählen zu können: Während das Kolleg als Vollzeitmodell ohne parallele Berufsausübung konzipiert ist, sind die Bildungsgänge der Abendrealschule und des Abendgymnasiums in Teilzeit zu belegen. Entgegen der historisch gewachsenen Bezeichnungen „Abendrealschule“ und „Abendgymnasium“ werden diese Bildungsgänge, je nach Weiterbildungskolleg, auch vormittags, nachmittags oder wechselweise vormittags und abends angeboten. Einen Spezialfall stellt der abendgymnasiale Bildungsgang
abitur-online.nrw dar: Zehn Stunden Präsenzunterricht verteilen sich hier auf zwei Tage pro Woche. Ergänzt werden sie durch Distanzphasen vergleichbaren Umfangs, unterstützt durch Lernplattformen wie Moodle.
Auch wenn das Lernen im Zweiten Bildungsweg in vielerlei Hinsicht anders organisiert ist, sind die von den Weiterbildungskollegs angestrebten Kompetenzniveaus mit denjenigen des Ersten Bildungswegs vergleichbar. Die Abendrealschulen nehmen an den Zentralen Prüfungen am Ende der Klasse 10 teil, während die Abendgymnasien und Kollegs am zentralen Abiturverfahren teilnehmen. Da viele Weiter-
bildungskollegs die Studienaufnahme auch zum Sommersemester ermöglichen, findet ein zusätzliches zentrales Abiturverfahren im Herbst statt – natürlich mit denselben Kompetenzanforderungen. Analog dazu finden an Abendrealschulen die zentralen Prüfungen am Ende der Klasse 10 auch im Herbst statt.

Bildung als Herausforderung: Lernen unter besonderen Bedingungen

Obwohl die Prüfungsaufgaben des Ersten und Zweiten Bildungswegs weitgehend identisch sind, ist das erfolgreiche Absolvieren des Bildungsgangs für Studierende des Zweiten Bildungswegs häufig eine größere Hürde: Viele von ihnen haben vor Studienbeginn längere Zeit keine allgemeinbildende Schule besucht. Für zahlreiche Studierende in Teilzeit besteht zudem die Notwendigkeit, die Anforderungen ihres Berufs mit denen ihres Studiums zu vereinbaren. Ähnlich schwer haben es alleinerziehende Eltern und Studierende, die sich der Pflege von Angehörigen widmen. Zwar erhält ein Teil der Studierenden Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), dies gewährleistet jedoch in vielen Fällen keine ausreichende Finanzierung des Lebensunterhalts, insbesondere bei Studierenden mit Familie oder hohen Schulden. Sie werden zur Aufnahme geringfügiger Beschäftigungen gezwungen und verlieren somit wertvolle zeitliche Ressourcen.Hinzu kommt eine vergleichsweise große Zahl an Studierenden mit psychischen Problemen sowie – insbesondere an Abendrealschulen – mit migrationsbedingt geringen Deutschkenntnissen.
Die Weiterbildungskollegs begegnen diesen Problemlagen durch zahlreiche systemische Maßnahmen,
etwa Vorkurse für Studierende mit unzureichenden Vorkenntnissen, Verfügungsstunden (Klassenlehrer*innenstunden) oder umfassende Beratungsangebote durch speziell ausgebildete Lehrkräfte und Sozialpädagog*innen (Individual- und Gruppenberatung). Dennoch sind Lehrkräfte täglich herausgefordert, den Fehlzeiten der Studierenden durch eine vorausschauende Unterrichtsplanung zu begegnen und den heterogenen Lerngruppen durch Binnendifferenzierung gerecht zu werden.

Bildung für gerechte Chancen: Sozialer Selektion entgegentreten

Quantitativ haben die Weiterbildungskollegs eine geringere Bedeutung als etwa Gymnasien oder Gesamtschulen. Dennoch ist ihre Rolle in der nordrhein-westfälischen Bildungslandschaft unverzichtbar, da sie als Korrektiv eines in Teilen sozial selektierenden Bildungssystems fungieren. Schüler*innen, die ihren Bildungsgang im Ersten Bildungsweg abbrechen mussten, wird allzu häufig die Möglichkeit verwehrt, diesen Bildungsgang erfolgreich fortzusetzen. Als Studierende des Zweiten Bildungswegs erhalten sie dagegen nicht nur die Chance, dieses Versäumnis wettzumachen, sondern werden gerade wegen ihrer oft windungsreichen Biografien besonders geschätzt.
Eine weitere wichtige Legitimation erhalten die Weiterbildungskollegs durch die Beschulung erwachsener Geflüchteter: Während sich die Schulen des Ersten Bildungswegs minderjähriger Geflüchteter annehmen, können allein die Schulen des Zweiten Bildungswegs älteren Geflüchteten einen vorwiegend auf Allgemeinbildung ausgerichteten und damit polyvalenten Abschluss verschaffen. Ein solcher Abschluss mag zwar marktökonomischen Rufen nach baldiger Berufsausbildung der Geflüchteten widersprechen, eröffnet den teilweise hochqualifizierten Geflüchteten allerdings das große Feld akademischer Studien.
Es ist daher zweifellos im gesamtgesellschaftlichen Interesse, die vielfältigen Angebote des Zweiten Bildungswegs zu erhalten und auch zukünftig die dafür notwendigen Mittel bereitzustellen.


Dr. Jörg Erik Kinner
Lehrer am Westfalen-Kolleg Dortmund und Mitglied der Fachgruppe Erwachsenenbildung der GEW NRW

Fotos: stop-sells, thomasfuer, nurmalso / photocase.de

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