Zweiter Bildungsweg: Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen

Inseln der Glückseligkeit?

Sind die Weiterbildungskollegs in NRW jene „Inseln der Glückseligkeit“, als die der frühere Kultusminister Hans Schwier die Abendgymnasien und Kollegs einmal ironisch bezeichnete? Oder haben sie eher etwas von Verschleißeinrichtungen, die die Kolleg*innen häufig an den Rand des Burn-out bringen und munter wichtige gesundheitspolitische Arbeitszeitrichtwerte unterlaufen? In beiden Annahmen steckt etwas Wahres.

Es muss einen Hintergrund haben, dass Beschwerden über unerträgliche Arbeitsverdichtung und Belastungsdruck aus Weiterbildungskollegs in Personalräten bekannt sind. Bei Schulbesuchen werden mitunter extreme individuelle Stresssituationen gemeldet, die die Betroffenen nicht zu Papier und in die Behörden bringen mögen. Und ebenso richtig ist es, dass die spezifischen Arbeitsbedingungen im Zweiten Bildungsweg   offenbar auch große Vorteile wie Freiräume, Lernbeziehungen auf Augenhöhe und ganz besondere Sinnerfahrungen beinhalten, die viele Kolleg*innen nicht missen möchten und unter keinen Umständen gegen geregeltere Strukturen im Ersten Bildungsweg eintauschen wollen. Wie sonst ist zu erklären, dass nur sehr wenige Kolleg*innen freiwillig den Arbeitsplatz Weiterbildungskolleg räumen wollen?

Belastungsprofile am Arbeitsplatz Weiterbildungskolleg

Fakt ist: Das Land als Arbeitgeber erlegt Lehrkräften an Schulen der Erwachsenenbildung grundsätzlich weniger Wochenunterrichsstunden auf als ihren Kolleg*innen an Realschule, Gymnasium und Gesamtschule, je nach Bildungsgang unterschiedlich. Für diese Reduktion gibt es handfeste Begründungen, nämlich die im Folgenden beschriebenen Belastungsmomente, die im Schulministerium bekannt sind und vom Arbeitgeber Landesregierung nie ernsthaft infrage gestellt, wenngleich in Auseinandersetzungen gern als Druckmittel ins Spiel gebracht wurden. Die wichtigsten Belastungsmomente an Weiterbildungskollegs in NRW sind zum Beispiel:

  • Die Unterrichtszeit an zahlreichen Institutionen reicht von 8.00 bis 22.00 Uhr.
  • Nicht selten betreiben Weiterbildungskollegs Außenstellen und Dependancen, die ohne Lehrerzimmer, Sammlungen und Medienräume vor Ort auskommen müssen.
  • Viele Weiterbildungskollegs bieten zusätzlich den Bildungsgang abitur-online.nrw an.
  • Unterrichtsmaterialien müssen zu einem großen Teil von den Lehrkräften selbst entwickelt werden –
    auch wenn es durch die schulform-übergreifenden Kernlehrpläne inzwischen mehr gemeinsam nutzbare Lehrwerke gibt.
  • An den allermeisten Weiterbildungskollegs sieht der Semesterbetrieb halbjährliche Aufnahmen und Abschlussprüfungen vor. Das führt auch zu einer Verdoppelung der Nachschreibtermine, die in der Erwachsenenbildung stets eine hohe Zahl erreichen, weil viele Studierende durch eine parallele Berufstätigkeit doppelt belastet sind.
  • Einen besonders hohen Kräfteeinsatz seitens der Lehrkräfte erfordert die individuelle Förderung der extrem heterogenen Lerngruppen im Zweiten Bildungsweg: Die Altersstruktur der Studierenden reicht von unter 20 bis über 70 Jahre; ihre kulturellen, ethnischen und sozialen Hintergründe sind ebenso unterschiedlich wie ihre psychische Belastbarkeit und schließlich ihre Vorkenntnisse.

Als Folge dieser Belastungsmomente herrscht in den Kollegien des Zweiten Bildungswegs eine schleichende Erschöpfung. Dass die gesellschaftspolitische Notwendigkeit des Zweiten Bildungswegs und die Zukunft der Weiterbildungskollegs immer wieder infrage gestellt werden, demotiviert die Kolleg*innen zudem. Auch das hinterlässt Spuren und gehört auf die Liste der kräftezehrenden Faktoren.

Zentrale Prüfungen: Spezialfall und Belastungsspitze

Hinzugekommen sind in den vergangenen Jahren die Zentralen Prüfungen als Arbeitsgenerator – sicherlich nicht grundsätzlich anders als an Schulen des Ersten Bildungswegs, aber an den Weiterbildungskollegs mit besonderen Belastungsspitzen versehen, denn die Weiterbildungskollegs als kleinere Institutionen mit ihren über Jahrzehnte gewachsenen pädagogischen und inhaltlichen Traditionen wurden schlichtweg an die großen Jugendsysteme angeglichen. Es blieb den Kolleg*innen selbst überlassen, wie die jugendschulisch geprägten Inhalte im Kontext von Erwachsenenpädagogik zu vermitteln waren.
Gleichzeitig führt die geringe Zahl der Beschäftigten an Weiterbildungskollegs dazu, dass pro Prüfungsjahrgang im Verhältnis zu den entsprechenden Jugendschulen erheblich mehr Kolleg*innen mit der Entwicklung von Prüfungsaufgaben beauftragt werden – für den ersten und zweiten Termin sowie für die Nachschreib- und Wiederholungstermine im Herbst.

Gute Ressourcenplanung: Die Quadratur des Kreises

Natürlich hat nicht jedes Weiterbildungskolleg eine Vielzahl von Außenstellen und bietet gleichzeitig einen Abendbereich, abitur-online.nrw und eine halbjährliche Studienaufnahme an. Dennoch kann man die zersplitterte Struktur unzweifelhaft als typischstes Merkmal der Weiterbildungskollegs kennzeichnen. Dies sorgt aus gewerkschaftlicher Sicht für Problemstellungen, die in erster Linie zulasten der Beschäftigten gehen.
 Lehrer*innenkollegien und Fachkonferenzen haben es schwer, eine hinreichende und für die Arbeit notwendige Beratungsstruktur zu pflegen, und die Bedingungen für gewerkschaftliche Diskussion sind erst recht schwierig: Auch GEW-Kolleg*innen an Weiterbildungskollegs sind ständig „on the run“ von Außenstelle A zu Lerngruppe B und bewegen sich kräftemäßig im roten Bereich.
Das Bestreben der Weiterbildungskollegs, den Studierenden ein attraktives, zukunftsweisendes Fächerangebot zu machen, geht bei der dünnen personellen Decke klar an die Substanz der Ressource Lehrer*innenarbeit. Stundenpläne an Weiterbildungskollegs sind angesichts der Vielfalt an Bildungsgängen, der Lernorte und der notwendigen Fächerblockungen nicht gerecht hinzubekommen. Fortbildungen und externe Verpflichtungen von Lehrkräften müssen erschwerend hinzugerechnet werden, sodass man getrost die Metapher von der Quadratur des Kreises bemühen kann, wenn „gute Pläne“ erwartet werden. Sind sie gut im Sinne der Studierenden? Das geht dann vermutlich für die Lehrkräfte ins Auge. Sind sie gut im Sinne der Kolleg*innen? Dann stimmen die Studierenden mit den Füßen ab, weil sie vermutlich eine höhere Zahl an Springstunden in Kauf nehmen müssen.

Verdiente Wertschätzung und politische Rückendeckung: Schön wär‘s!

Die pädagogische Arbeit der Kolleg*innen an den Weiterbildungskollegs ist immer wieder mit Respekt hervorgehoben worden. Nicht nur zeigen die Abiturstatistiken trotz Zentralabitur Werte, auf die die Kolleg*innen des Zweiten Bildungswegs stolz sein dürfen. Anerkennung verdient auch die hohe Zahl und Qualität von kulturellen und politischen Aktivitäten, zum Beispiel in Form von Schulpartnerschaften und Schüler*innenaustauschen, die die Weiterbildungskollegs in NRW immer wieder auf die Beine stellen, obgleich die reduzierte Lernzeit in der Erwachsenenbildung dafür eigentlich keinen Raum lässt. Auch im Zweiten Bildungsweg   gibt es etliche Einrichtungen, die sich „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ nennen und sich dafür einsetzen, diesem Namen gerecht zu werden. Und nicht zu vergessen: Viele Weiterbildungskollegs bieten ihren Studierenden umfassende Beratung und sozialpädagogische Betreuung.
Dass durch solche Initiativen auch die Belastungsspirale weiter hochgedreht wird, nehmen die Kolleg*innen vor Ort gern in Kauf. Das Land NRW wäre sehr schlecht beraten, wenn es die wertvolle Ressource, die es in den Abendgymnasien, Kollegs und Abendrealschulen besitzt, nicht konsequent stützte, weiterentwickelte und ausbaute.
Gleichzeitig hat die auf Vielfalt und Rationalisierung setzende Struktur der Weiterbildungskollegs ihren Preis. Stundenpläne im Zweiten Bildungsweg kennen zum Beispiel individuelle Tagesunterrichtszeiten von mehr als zwölf Unterrichtsstunden mit großen Springstundenblöcken: Das ist extrem familienfeindlich und geht an die gesundheitliche Substanz. Ein echtes systemisches Problem stellt schließlich die sichtbar zunehmende Vereinzelung und Erschöpfung unter den Lehrkräften an den einzelnen Schulen dar – durchaus eine tickende Zeitbombe. Auch hier ist die Landesregierung als Arbeitgeberin gefordert. Und die GEW NRW als Sprachrohr der Beschäftigten.


Gabriele Fleischauer-Niemann
Mitglied der Fachgruppe Erwachsenenbildung der GEW NRW

Fotos: adzicnatasa / Fotolia; Airene / photocase.de

 

Digitalisierung im Zweiten Bildungsweg

Flexible Lösungen für individuelles Lernen

Digitalisierung prägt das Lernen und Lehren im Zweiten Bildungsweg stärker als in den meisten anderen Schulformen. Wo Studierende neben ihrem Beruf das Abitur nachholen und Menschen mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen gemeinsam lernen, sind flexible Lösungen gefragt.
Das sogenannte Blended Learning ermöglicht das Lernen im eigenen Tempo – und genau darauf kommt es in den für den Zweiten Bildungsweg typischen heterogenen Lerngruppen an. Wer beruflich sehr eingespannt ist, lernt zuhause, um zeitlich flexibel zu sein. Wer Stoff nachholen muss, kann das zuhause tun, um den Anschluss nicht zu verlieren. Wer zusätzliche Herausforderungen sucht, kann zuhause Zusatzaufgaben lösen, um sich nicht zu langweilen.
Seit 2002 gibt es abitur-online.nrw: ein flexibles Lernangebot der Weiterbildungskollegs, das Lernphasen in der Schule und digitales Lernen zuhause verbindet. Die Studierenden können so das Abitur oder die Fachhochschulreife nachholen und müssen dafür nur an zwei Tagen pro Woche in der Schule sein. Das Lernen zuhause organisieren sie mithilfe einer webbasierten Lernplattform, die Materialien bereitstellt und den Austausch mit Lehrkräften sowie anderen Studierenden ermöglicht. Mittlerweile bieten 19 Weiterbildungskollegs in NRW abitur-online.nrw an.  
Lehrkräfte werden im digitalen Lernen zu Coaches für individuelle Lernprozesse – eine neue Rolle, die in der Regel herausfordernder ist als die Beherrschung der Technik. Gleichzeitig müssen Lehrer*innen bei der Reihenplanung genau im Blick haben, welche Inhalte sich für Distanzphasen eigenen und welche Präsenzunterricht erfordern. Sie müssen entscheiden, welche der verfügbaren digitalen Tools das Lernen ideal unterstützen. Um diesen technischen und didaktisch-methodischen Anforderungen gewachsen zu sein, durchlaufen künftige abitur-online.nrw-Lehrkräfte zunächst eine Qualifizierung durch QUA-LiS –
übrigens im Blended Learning über Moodle.

nds-Redaktion

Mehr unter www.tinyurl.com/zbw-digital

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