Bochumer Initiative: Geflüchtete laden ein zum Dialog

Bochumer Initiative „Neu in Deutschland“

Wie erleben geflüchtete Menschen Deutschland? Wie erinnern sie sich an ihre Heimat? Wie blicken sie auf Flucht und Integration? Die Bochumer Initiative „Neu in Deutschland“ versteht sich als eine Plattform für Begegnungen und demokratische Debatten auf Augenhöhe. Geflüchtete Frauen und Männer schreiben für ihre eigene Zeitschrift, lernen die deutsche Sprache und knüpfen wertvolle Kontakte – auch in Schulen.

Beim Projekttag zu Europa, den das Louis-Baare-Berufskolleg in Bochum im Frühjahr 2018 organisiert hat, wird es auf einmal ganz persönlich: „Europa ist für mich die Hoffnung, überleben zu können“, erzählt Mahmoud Aldalati den Schüler*innen, die ihm rund eine Stunde lang aufmerksam zuhören. Der 25-Jährige ist 2015 aus dem Kriegsland Syrien nach Europa gekommen. Anlässlich des Projekttags hat das Bochumer Berufskolleg ihn eingeladen, über seine Sicht auf Europa und die Demokratie zu sprechen. „Es ist nicht selbstverständlich, in einem friedlichen Land zu leben“, betont er. „Mein Land habe ich an den Krieg verloren.“ Den Schüler*innen legt er ans Herz: „Wenn wir hier in Frieden und in einer Demokratie leben wollen, dann müssen wir uns dafür einsetzen.“
Mahmoud Aldalati ist neu in Deutschland. Wie viele andere geflüchtete Menschen bringt er neue Perspektiven in die deutsche Gesellschaft ein, vor dem Hintergrund eigener Erfahrungswelten. In Bochum engagiert er sich zusammen mit rund 20 anderen geflüchteten Frauen und Männern für die Initiative „Neu in Deutschland. Zeitung über Flucht, Liebe und das Leben“ (kurz: nid), deren Ziel es ist, unterschiedliche Perspektiven in der deutschen Gesellschaft wahrnehmbar zu machen.

Kontakte knüpfen, Sprache lernen und Erfahrungen verarbeiten

Seit 2016 veröffentlicht die mehrfach ausgezeichnete Initiative vierteljährlich eine gedruckte Zeitung mit deutschsprachigen Texten. Darin schreiben Menschen unterschiedlicher beruflicher, sozialer und kultureller Prägungen über Alltagserfahrungen, Kunst, Arbeit, Verlust und Hoffnung. Zugleich ist nid eine Plattform für Begegnungen und demokratische Debatten auf Augenhöhe. Die redaktionelle Arbeit schafft Gelegenheiten, aus denen sich auch berufliche Perspektiven für die Geflüchteten ergeben: Mehrere Praktikumsplätze konnten vermittelt werden, zwei Arbeitsverhältnisse sind über die Zeitung entstanden. „Unserer zweiten Mutter Deutschland haben wir viel zu verdanken, aber auch viel zu geben“, lautet das Motto der nid-Redaktion.
„Als wir mit unserer Zeitung anfingen, ging es den meisten von uns vor allem darum, Kontakte zur deutschen Bevölkerung zu bekommen und unsere Sprache zu verbessern“, berichtet Khaled Al Rifai, der 2015 nach Deutschland kam und für die Zeitung viele Texte aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt hat. Mittlerweile schreiben die meisten im Team auf Deutsch. Khaled Al Rifai macht eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Er hat weniger freie Zeit als in den ersten Monaten nach seiner Ankunft. Aber für die Zeitung schreibt er weiterhin: „Schreiben ist für mich zu einem neuen, wichtigen Instrument geworden, um meine Erfahrungen zu verarbeiten. Ich bin nicht mehr neu in Deutschland, aber so ganz angekommen bin ich in der deutschen Gesellschaft auch noch nicht.“
„Was die Medien über uns und unser Heimatland schreiben, finde ich nicht immer ganz richtig“, sagt Omar Alnabulsi. „In unserer Zeitung schreiben wir über unsere eigenen Erlebnisse und Sichtweisen.“ Der 34-jährige Agrarwissenschaftler aus Damaskus erinnert in seinen Texten gerne daran, dass es in Syrien auch ein Leben vor dem Krieg gab. „Wir wollen nicht immer nur von traurigen Dingen sprechen.“ In der Zeitung sind auch heitere Texte zu finden. Unter dem Titel „Lieber Genitiv“ schrieb Alnabulsi über seinen persönlichen Kampf mit der deutschen Sprache.

Die Arbeit der nid-Redaktion ist Dialog auf Augenhöhe

Weil das nid-Team im ersten Jahr fast ausschließlich aus Männern bestand, wurde 2017 eine Frauen-Redaktion gegründet, die sich zunächst separat traf und heute zum festen Kern des Teams gehört. „Es interessiert mich sehr, wie Frauen in Deutschland leben und denken“, sagt Lamia Hassow. Die Englischlehrerin, die für verschiedene soziale Organisationen im Irak und in Deutschland gearbeitet hat, ist in einem kurdischen Dorf im Norden Syriens aufgewachsen. „Ich komme aus einer sehr konservativen Region, in der die Frauen weniger Rechte haben. In unserer Zeitung schreibe ich über meine Erfahrungen in Syrien, aber auch über mein Leben in Deutschland.“ Die 23-jährige Laila Ammi verbrachte auf ihrer Flucht aus Syrien drei Jahre in der Türkei und spricht deshalb auch Türkisch. Ihre Texte schreibt sie meist, wenn sie nicht schlafen kann. „Wenn ich nachts in den Himmel schaue, sehe ich nur Schwarz, darum sind auch meine Texte oft düster.“ Tagsüber ist sie eine strahlende junge Frau. An einer Schule in Herne veranstaltete sie kürzlich mit anderen aus dem nid-Team einen eigenen Schreibworkshop.
Zu Redaktionssitzungen kommt das nid-Team einmal in der Woche im Bochumer Stadtteilzentrum Q1 zusammen. Auf Deutsch wird diskutiert und geschrieben; regelmäßig werden auch Gäste zum Gespräch eingeladen. Organisiert werden die Treffen von einer muttersprachlich deutschen Journalistin, die auch die Texte redigiert und lektoriert. Außerdem gibt sie Hinweise darauf, welche der vorgebrachten Themen für deutsche Leser*innen interessant sein könnten, wo Fettnäpfchen stehen und welche Missverständnisse lauern. Texte, die auf Arabisch, Kurdisch oder in anderen Sprachen entstehen, werden untereinander übersetzt – im engen Dialog mit der deutschen Journalistin. Diese Arbeit, das gemeinsame Übersetzen und Redigieren, gehört für das Team zu den spannendsten Aufgaben, weil dabei die unterschiedlichen sprachlichen und begrifflichen Welten und Wahrnehmungen zutage treten.

Workshops, Lesungen, Begegnungen: nid ist mehr als eine gedruckte Zeitung

Die schreibenden Frauen und Männer präsentieren ihre Texte auch in Theatern und auf Festivals, in Workshops und bei Tagungen, an Schulen und in anderen Bildungseinrichtungen. Im vergangenen Jahr organisierte der WDR eine Lesung aus der nid-Zeitung. In diesem Jahr las das Team vor Mitarbeiter*innen des Bochumer Jobcenters. Ziel ist es, unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen. „Es ist interessant zu sehen, wie die Menschen auf unsere Worte reagieren“, so Mahmoud Aldalati. Häufig folgen auf die Lesungen Gespräche über persönliche Erlebnisse und Wahrnehmungen. „In diesen Momenten habe ich das Gefühl, dass ich die deutsche Gesellschaft jedes Mal ein Stück weit besser verstehe.“
Wie nimmt jemand, der in Syrien aufgewachsen ist, ein deutsches Theaterstück, europäische Kunst oder eine öffentlich-rechtliche Talkshow wahr? Welche Rolle spielen Geflüchtete in den deutschen Debatten um Flucht und Integration? „Ich finde es wichtig, dass wir uns begegnen und uns darüber austauschen, wie wir unsere Gesellschaft und unsere Zukunft gestalten wollen“, sagt Issam Alnajm. Der 34-jährige Elektrotechniker hat bereits in Syrien Kurzgeschichten und Gedichte verfasst und begegnete der europäischen Gesellschaft zunächst über die Literatur und die Musik. Die deutsche Sprache lernt er, seit er 2016 nach Deutschland kam. Mit seinen Gedichten, die er nun auf Deutsch schreibt, konnte er sich in Bochum einen Namen machen. Regelmäßig wird er zu Lesungen eingeladen. Seine Gedichte setzt er aber auch an anderen Orten ein – als Türöffner für Gespräche über Demokratie, Respekt und Meinungsfreiheit. „Diese Gespräche müssen wir auch mit jungen Menschen führen“, sagt Issam Alnajm. „Denn sie sind wesentlich daran beteiligt, wie wir unsere Gesellschaft gestalten.“

Vielfalt und Demokratie leben

In der nid-Redaktion treffen unterschiedliche politische und religiöse Überzeugungen zusammen. Die Vielfalt ist ein Grundstein der gemeinsamen Arbeit und stellt die Beteiligten zugleich immer wieder vor Herausforderungen. Um diese zu bewältigen, entwickelte das Team im vergangenen Jahr ein eigenes Manifest. Darin heißt es: „Unsere gemeinsame politische Basis besteht darin, dass wir in einer friedlichen, demokratischen Gesellschaft ohne Rassismus leben möchten. In fast allen anderen Dingen sind wir unterschiedlicher Meinung.“ So hält die Redaktion es auch im Dialog mit sogenannten besorgten Bürger*innen. Jede friedliche Meinung wird respektiert. Denn eine demokratische Grundhaltung gebietet es, die Würde aller Menschen zu respektieren und andere Überzeugungen auszuhalten.


Dorte Huneke-Nollmann
Herausgeberin „Neu in Deutschland. Zeitung über Flucht, Liebe und das Leben“

Fotos: iStock.com / DMEPhotography; J. Eickei

 

Ausgezeichnet: Bestellen Sie die nid!

Als Flüchtlingsprojekt gestartet, wurde die Zeitung „Neu in Deutschland“ (nid) in den vergangenen zweieinhalb Jahren zunehmend zu einem Projekt für Demokratie. Und weil geflüchtete Frauen und Männer in den Debatten um Flucht und Gesellschaft weniger zu hören sind als andere, möchte die nid sie in besonderer Weise wahrnehmbar machen – in all ihrer Vielfalt und Stärke. 2016 wurde das Zeitungsprojekt dafür mit dem Deutschen Lesepreis ausgezeichnet und 2018 für den Nationalen Integrationspreis der Bundeskanzlerin nominiert.
Die nid erscheint vierteljährlich und wird auf Bestellung kostenlos in Deutschland per Post verschickt. Bestellungen: redaktion@nid-zeitung.de

 

 

nid in Schule und Unterricht

Die meist kurzen Texte der nid eignen sich als Unterrichtsmaterial, um Diskussionen über Flucht, Toleranz und Demokratie anzuregen.
Im Schuljahr 2018 / 2019 sucht das nid-Team darüber hinaus verstärkt den unmittelbaren Dialog mit Schulen und anderen Bildungseinrichtungen in NRW. Die Zeitungsmacher*innen präsentieren sich über ihre Texte, initiieren Debatten, Workshops und andere interaktive Formate. Reisekosten und Aufwandsentschädigungen sind durch eine entsprechende Projektförderung abgedeckt. Kontakt: redaktion@nid-zeitung.de



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