Ungleiche Behandlung für mehr Gerechtigkeit

Sozialindex als Mittel zur bedarfsgerechten Ressourcenverteilung

Der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft ist in Deutschland sehr stark ausgeprägt – das ist spätestens seit PISA bekannt. Kitas und Schulen stehen vor extrem ungleichen Ausgangsbedingungen, da die soziale und ethnische Spaltung in den Zusammensetzungen der Bildungseinrichtungen enorm ist. Sie offenbart die ungleichen Bedarfe an Ressourcenausstattungen, bei denen ein Sozialindex weiterhelfen kann.

Die sozial bedingten Unterschiede in den Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen sind 2012 zwar nicht mehr ganz so stark ausgeprägt wie noch im Jahr 2000. Gleichwohl stehen Kitas und Schulen – gerade in den Großstädten – vor extrem ungleichen Ausgangsbedingungen. Kinder und Jugendliche aus sozial stark privilegierten und aus sozial extrem benachteiligten Umfeldern bleiben häufig unter sich. 

Datengestützter Sozialindex ermöglicht gerechte Verteilung

Mithilfe eines Sozialindex können die Rahmen-bedingungen ermittelt werden, unter denen Bildung stattfindet. Die soziale Herkunft der Kinder und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen wird mit Daten gemessen, sie ist somit quantifizierbar. Eine Aussage über den Erfolg von Bildungseinrichtungen kann – schon alleine aus methodischen Gründen – auf Grundlage eines Sozialindex nicht getroffen werden. Ein datengestützter Sozialindex wird derzeit vor allem für zwei Anwendungsgebiete genutzt: Zum einen ist er die Basis einer bedarfsgerechten Verteilung von Ressourcen, die es ermöglicht, Ungleiches ungleich zu behandeln. Zum anderen dient ein Sozialindex den Schulen, um faire Vergleiche von Schulleistungstests durchführen zu können. Damit ist er ein Teil der Qualitätsentwicklung an Schulen.

Ressourcenverteilung von Land und Kommunen in NRW

In Nordrhein-Westfalen wird die Verteilung von Ressourcen im Schulbereich sowohl vom Land als auch von den Kommunen als Schulträger wahrgenommen. Während das Land die Lehrerstellen sowie sonstiges pädagogisches und sozialpädagogisches Personal finanziert, tragen die Kommunen nach dem Schulgesetz die Kosten für die Schulgebäude, die Lehrmittel, das Verwaltungspersonal sowie für die allgemeine Sachausstattung.
Darüber hinaus werden Schulsozialarbeiter*innen und Schulpsycholog*innen eingesetzt sowie Freizeitaktivitäten wie Sport, Musik oder Kultur an und von Schulen angeboten. Ressourcen gibt es demnach reichlich zu verteilen –bislang oft mit der Gießkanne. Die Kommunen als Schulträger – die auch knapp 29 Prozent der Kitaplätze in NRW zur Verfügung stellen – haben ebenso wie das Land einen Bedarf an einem genauen und einrichtungsscharfen Sozialindex, wenn Ungleiches ungleich behandelt werden soll.

Der sozialräumliche Index ist veraltet

Mit einem vom Ministerium für Schule und Weiterbildung im Jahr 2006 entwickelten Sozialindex für die Schulaufsichtsbezirke werden aktuell 1.000 Stellen für die Grund- sowie 620 Stellen für die Hauptschulen verteilt. Dies entsprach im Schuljahr 2014 / 2015 etwa 3,6 Prozent der Vollzeitlehrereinheiten an den Grund- und etwa 5,8 Prozent an den Hauptschulen. Für die konkrete Verteilung der Stellen an die einzelnen Schulen ist die jeweilige Schulaufsicht zuständig, die in der Regel nicht über objektive Daten für eine quantifizierbare bedarfsgerechte Verteilung verfügt.
Eine bedarfsgerechte Verteilung von Lehrerstellen an weitere benachteiligte Schulen wie beispielsweise Real-, Gesamt- oder Berufsschulen sowie Gymnasien gibt es derzeit nicht. Dieser vorwiegend sozialräumliche Index für die sehr allgemeine Ebene der Schulaufsichtsbezirke ist in die Jahre gekommen und entspricht nicht mehr dem Stand der Forschung und der Möglichkeiten.

Soziale Belastung als entscheidender Faktor

Für faire Vergleiche der Schulleistungstests VERA 3 und 8 wird seit 2011 ein wesentlich aufwändigerer schulscharfer Sozialindex für alle Schulen gebildet, der dem sozialräumlichen Index weit überlegen ist. Dieser neue Sozialindex basiert auf einer landesweiten Berechnung der sozialen Belastungen und wird um Informationen zum Zuwanderungshintergrund aus der Schulstatistik für jede Schule ergänzt. Die Berechnung der sozialen Belastung wird vom Statistischen Landesamt (IT.NRW) kleinräumig auf der Ebene von Rasterzellen vorgenommen, basierend auf der Basis von SGB-II-Empfängerdaten der Bundesagentur für Arbeit.
Aufgrund der derzeitigen Datenverfügbarkeit sowie der rechtlichen Möglichkeiten können nur die Schulstandorte, nicht die Wohnorte der Kinder betrachtet werden. Exemplarisch kann gezeigt werden, dass die Verwendung von Schüler*innenadressen das Ergebnis verbessern würde. Dieser adressbasierte Ansatz liefert vor allem für weiterführende Schulen gute Ergebnisse, da insbesondere im Sekundarbereich die Kinder häufig nicht im direkten Umfeld der Schulen wohnen. Ebenso löst sich die ehemals enge Kopplung im Grundschulbereich im Zuge der seit 2008 freien Grundschulwahl zunehmend auf.
Im Kitabereich werden seit 2014 jährlich Landeszuschüsse in Höhe von 45 Millionen Euro von den Jugendämtern an Kitas vergeben, die einen besonderen Unterstützungsbedarf aufweisen. Die Auswahl der Einrichtungen erfolgt im Dialog mit den Kitaträgern und soll von Daten gestützt sein. Da jedoch die Datenlage in den nordrhein-westfälischen Kreisen und kreisfreien Städten sehr unterschiedlich ist, kommen bislang keine einheitlichen Kriterien zur Anwendung.

Ungleiche Behandlung für mehr Gerechtigkeit

Sozialindex von und für Kommunen: Mülheim an der Ruhr macht es vor

Die Stadt Mülheim an der Ruhr hat sich 2011 auf den Weg gemacht und im Rahmen der Schulentwicklungsplanung erstmals alle Grund- und weiterführenden Schulen mithilfe von Informationen der Schuleingangsuntersuchung und der Schulstatistik in sozialer Hinsicht profiliert. Dieser Ansatz wurde weiterentwickelt, aktualisiert und auf alle Kitas übertragen. Die Einrichtungsprofile sind sehr detailliert. Sie umfassen neben dem sozialen, ethnischen und familiären Hintergrund der Kinder auch frühkindliche Förderbemühungen sowie die zum Schulstart ermittelten Kompetenzen verschiedener Bereiche. Damit ist ein differenzierter Blick auf den Kontext möglich, in dem sich die Bildungsarbeit an den Kitas und Schulen abspielt.
Die verwendeten Informationen liegen in vielen Kommunen in NRW regelmäßig jährlich vor oder könnten erfasst werden. Viele andere Kommunen erfassen ebenso wie Mülheim die besuchten Kitas sowie die angemeldeten Grundschulen, sodass dieser Ansatz prinzipiell übertragbar ist.

Kommunale Verwendung: Sozialindex in zahlreichen Bereichen nutzen

Mülheim an der Ruhr nutzt den Sozialindex sowohl als Hintergrundinformation für die Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung als auch für die konkrete Ressourcenverteilung, zum Beispiel bei der Schulsozialarbeit. Ebenso wird er zur Auswahl von Einrichtungen für Sportprojekte oder bei der Priorisierung von Investitionen in die Schulinfrastruktur herangezogen.
Hamburg nutzt bereits seit 1996 einen Sozialindex für den Schulbereich. Derzeit werden dort jedoch auch indexbasiert Mittel für Sekretariatsstellen, für die Sprachstandsfeststellung und Sprachförderung, für die Ganztagsbetreuung und die Inklusion von Kindern verteilt sowie die Klassenfrequenzrichtwerte benachteiligter Grundschulen abgesenkt. Auch die aktuelle Flüchtlingssituation, die viele Seiteneinsteiger*innen mit sich bringt, sowie die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Inklusion sind Themen, für deren erfolgreiche Bewältigung ein Sozialindex hilfreich wäre.

Mehr Verteilungsgerechtigkeit: Umverteilung bestehender Ressourcen

Die Stadtstaaten und einzelne Kommunen in NRW machen es vor: Ein Sozialindex für alle Bildungseinrichtungen ist möglich und hilfreich bei der Umsetzung von mehr Bildungsgerechtigkeit. Nötig ist dafür allerdings auch ein breiter politischer und gesellschaftlicher Wille, die sozialen Unterschiede transparent aufzuzeigen, um Ungleiches auch begründet ungleich zu behandeln. Dies könnte zukünftig auch bedeuten, dass es zu einer Umverteilung von bestehenden Ressourcen kommt – und nicht wie bisher lediglich zu einer ungleichen Verteilung zusätzlicher Mittel.

Thomas Groos
Dipl.-Geograf, freiberuflicher Wissenschaftler und ehemals in der Begleitforschung
zu „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“

Fotos (v. o. n. u.): Alex Bramwell, Knorre, imbro / istockphoto.com

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