Flucht und Schule: Elternarbeit ist ein wichtiger Baustein

Forschung der Uni Bielefeld

Geflüchtete Schüler*innen bringen durch ihre komplexen Biografien und Erfahrungen besondere Herausforderungen mit in die Schule. Wie Lehrkräfte, Politik und Behörden darauf reagieren sollten, erklärt Erziehungswissenschaftler Marc Grimm von der Universität Bielefeld im nds-Interview.

nds: Welche Gelingensbedingungen müssen erfüllt sein, damit geflüchtete Kinder und Jugendliche im Schulalltag zurechtkommen?

Marc Grimm: Zuerst einmal müssen wir uns ansehen, inwiefern sich die komplexen Biografien und Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund von denen anderer Kinder unterscheiden und inwiefern diese tatsächlich neue Herausforderungen für die Lehrkräfte mit sich bringen. Lehrer*innen sind ja nicht erst seit der Ankunft einer großen Anzahl von Geflüchteten im Jahr 2015 mit einer heterogenen Schüler*innenschaft konfrontiert – unter anderem hinsichtlich der Sprache, Religion und kulturellen Prägung. Es bestehen also schon Erfahrungen im Umgang mit Diversität.
Heute gibt es jedoch – anders als noch vor einigen Jahren – ein Bewusstsein dafür, dass Integration im schulischen Kontext eine Aufgabe ist, die mit spezifischen Anforderungen an alle Involvierten einhergeht und nicht etwa ohne Zutun nebenher läuft. Die Gelingensbedingungen lassen sich umreißen: Schüler*innen mit Fluchterfahrungen müssen mit ihren konkreten Biografien individuell adressiert werden. Die meisten geflüchteten Kinder haben gemeinsam, dass sie ohne Kenntnisse der deutschen Sprache an die Schulen kommen. Damit gehen Bildungseinrichtungen unterschiedlich um. Es hat sich bewährt, geflüchtete Schüler*innen nicht in eigenen Klassenverbänden zu unterrichten, sondern in Regelklassen zu integrieren. Für Schüler*innen mit geringem Sprachstand gibt es stundenweise Deutschunterricht.
Dass es für das Lehrpersonal und für die Lernsituation der Kinder besser ist, wenn die Lehrer*innen im Tandem unterrichten, versteht sich von selbst. Die Doppelbesetzung erlaubt nicht nur, näher auf einzelne Kinder einzugehen, sondern auch den Wissenstransfer und gemeinsames Lernen der Lehrer*innen. Dieser Punkt wird in der Debatte häufig vergessen, ist für die Praxis aber enorm wichtig. Unsere Forschung hat außerdem gezeigt, dass die Elternarbeit besonders relevant ist. Die Stabilität des Familienlebens, ein fester Wohnsitz und ein funktionierender Kontakt zu den Behörden sind zentrale Bedingungen dafür, dass Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung an Schulen zurechtkommen. Anstatt sich nur auf Beschulung und didaktische Konzepte zu fokussieren, wäre es angebracht, Zeit in die Kommunikation mit den Eltern zu stecken. Dass Briefe immer noch in Beamt*innendeutsch an Eltern verschickt werden, die noch kein Deutsch sprechen, ist unnötig. Stattdessen sind pragmatische Lösungen notwendig.

Inwiefern müssen also Inklusions- und Integrationskonzepte angepasst werden?

Auffällig ist erst einmal, dass die Themen Inklusion und Integration politisch aufgeblasen werden, es aber kein verbindliches integratives Konzept gibt. Zudem ist offenkundig, dass die Idee von Inklusion, individualisiertes Lernen zu ermöglichen, im offenen Widerspruch zu etablierten Strukturen und der Selektionsfunktion des Bildungswesens steht. Nimmt man den Gedanken von Inklusion einmal ernst, würde das heißen, über institutionelle, wohnräumliche und soziale Fragen zu reden, die nicht nur im Kontext Schule diskutiert werden können. Sie müssen auch auf gesellschaftlicher Ebene besprochen werden.
Begrenzt man Inklusion auf Schule, wäre viel gewonnen, wenn es Schulen gelänge, eine Kultur zu etablieren, in der Kinder ohne Angst verschieden sein können und in der sie sich willkommen fühlen. Darüber hinaus ist die Frage gelingender Inklusion auch eine Frage der Ressourcen: Dass es sich mit einer geringen Zahl von Schüler*innen pro Lehrer*in besser lernt, ist keine neue Erkenntnis. Auch was differenzierte didaktische Lernangebote betrifft, können wir in Praxis und Forschung auf Bewährtes zurückgreifen. Das Verständnis schulischer Inklusion kann um die institutionelle Dimension ergänzt werden: Wenn Schule als Teil eines institutionellen Netzwerks gedacht wird, kommen wir dem Ziel inklusiven Lernens einen Schritt näher.

 

Und wie können Lehrkräfte praktisch bei der Arbeit mit Geflüchteten unterstützt werden? Welche Rolle spielen außerschulische Netzwerke und Einrichtungen?

Die Rolle außerschulischer Netzwerke für das Gelingen des Schulbesuchs kann kaum überschätzt werden. Schule kann als Schnittstelle zwischen Eltern und Behörden funktionieren. Die Eltern geflüchteter Kinder gaben in unseren wissenschaftlichen Interviews an, dass Sozialarbeiter*innen für sie essenziell waren, die in diesem Fall über Mittel des Integrationsprojekts „Bem Vindo“ finanziert wurden. Die Fachkräfte waren Mittler*innen zwischen den Eltern und diversen Institutionen und eine Hilfe bei Unklarheiten im Kontakt mit Behörden, Stadtwerken, in Gesundheitsfragen und bei anderen basalen Alltagsproblemen. Das Problem ist ja nicht, dass es keine Angebote gibt, sondern dass das Wissen fehlt, wer bei welchen Fragen ansprechbar ist. Die verschiedenen außerschulischen Angebote sind leider kaum miteinander vernetzt. Aber wenn damit einmal den Eltern geholfen wird, sich in Deutschland zurechtzufinden, dann hat das eine stabilisierende Wirkung auf die Familienverhältnisse. Für den erfolgreichen Besuch der Schule ist das sehr förderlich. Und nicht zuletzt werden die Eltern so näher an die Schule und andere Eltern herangeführt.
Neben den vielen Aufgaben, mit denen Lehrkräfte ohnehin konfrontiert sind, bringt die jüngste Fluchtbewegung spezifisch neue Anforderungen mit sich: Kenntnisse in der Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache sind notwendig. Eine besondere Herausforderung ist und wird auch in Zukunft bleiben, dass wir nicht absehen können, wie sich der Verlust von geliebten Menschen, Geschwistern und nicht zuletzt erfahrene auch sexuelle Gewalt auf die Gesundheit und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auswirken. Diese Anforderungen sind auch für Lehrer*innen emotional belastend und sie müssen zusätzliche Zeit investieren – für Absprachen mit anderen Lehrkräften, Schulsozialarbeiter*innen und Behörden.
Eine Unterstützung wäre erst einmal die Anerkennung, dass Lehrer*innen vielfältige Aufgaben wahrnehmen und Eltern mit Informationen behilflich sind und dass diese Aufgaben dem Unterricht nach- oder untergeordnet sind. Diese Arbeit kann nicht nebenher verrichtet werden und Lehrkräfte müssen dafür an anderer Stelle entlastet sowie die Zeit bezahlt werden.

Welche bildungspolitischen Konsequenzen lassen sich daraus ableiten?

Zum einen müsste an der Ausbildung von Lehrer*innen angesetzt werden: Lehrkräfte benötigen eine bessere Vorbereitung auf die heterogene Schüler*innenschaft. Das hätte schon längst geschehen können, aber offenbar bedurfte es der jüngsten Migrationsbewegung, um das Thema Heterogenität wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Deutschland hinkt im Umgang mit Heterogenität in einigen Bereichen hinterher, etwa was den Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht angeht. Aber auch die Kenntnis von Methoden gehört hier dazu, zum Beispiel wie Deutsch als Fremdsprache vermittelt wird. Nicht zuletzt wäre es notwendig, dass Lehrer*innen einige Leitlinien für den Umgang mit traumatisierten Kindern an die Hand bekommen und psychologische Fachkräfte systematisch in Schulen eingebunden werden.
Eine bildungspolitische Konsequenz wäre, dass die Familien Klarheit über ihren Aufenthaltsstatus haben und die Planung der eigenen Zukunft in Deutschland überhaupt erst möglich wird.


Die Fragen stellte Jessica Küppers.

Fotos: iStock.com / agrobacter, privat, Weekend Images Inc.

Kommentieren
Die mit (*) gekennzeichneten Felder sind Pflichtfelder.

Kommentare (0)

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Lassen Sie es uns wissen. Wir freuen uns auf Ihr Feedback!
24
Ihre Meinung? Jetzt kommentieren