Politische Bildung: 17 Minuten Politik, 20 Sekunden Redezeit

Politikunterricht in der Sekundarstufe I in NRW

Das Smartphone macht Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft jederzeit und überall verfügbar. Die sozialen Medien sind voll von Meinungen – jede*r kann mitmachen. Damit Schüler*innen Inhalte verstehen und Meinungen bewerten können, ist politische Bildung wichtiger denn je. Erhält sie genug Raum im Unterricht? Soziolog*innen der Universität Bielefeld haben die Sekundarstufe I in NRW unter die Lupe genommen.

Verfolgt man die öffentlichen und bildungspolitischen Debatten über den Zustand und die Dringlichkeit
der politischen Bildung an Schulen, ergibt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits gehen Beobachter*innen davon aus, dass die politische Bildung an Schulen heute einigermaßen gut aufgestellt ist. Viele stellen sich vor, dass Unterricht über Politik in der deutschen Demokratie des 21. Jahrhunderts nicht nur eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Sie nehmen auch an, dass dafür hinreichend viel Lernzeit an den Schulen zur Verfügung steht.
Auf der anderen Seite steht die Sorge, dass die politische Bildung an Schulen seit Langem zu kurz kommt. Schlagworte wie Politikverdrossenheit, Demokratiedistanz, Autoritarismus, Rechtsextremismus oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit stecken das Spektrum der angesprochenen, auch an die Schule adressierten Probleme ab. Daher überrascht es nicht, dass in der jüngeren Vergangenheit wieder häufiger mehr politische Bildung an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen verlangt wird.

Studie schließt eine empirische Lücke

Aber wie ist die Situation der politischen Bildung an Schulen tatsächlich? Unter welchen Rahmenbedingungen findet dort die Auseinandersetzung mit dem großen Themenbereich Politik statt?
Wie steht es um die Themenbereiche Wirtschaft und Gesellschaft? Darüber ist bisher nur wenig bekannt. Neben das empirische Nichtwissen tritt ein weitverbreiteter Irrtum: Die Öffentlichkeit identifiziert politische Bildung meist mit dem Themenbereich Politik. Fachleute wissen aber, dass sich hinter Begriffen wie „politische Bildung“, „Politik“ oder „Politikunterricht“ tatsächlich meistens mindestens drei große Themenbereiche verbergen: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Für Nordrhein-Westfalen liegen nun aus einem größeren Forschungsprojekt der Universität Bielefeld erstmalig Daten über die Position von politischen Inhalten in den Lehrplänen der Sekundarstufe I vor. Dazu wurden die Stundentafeln und Kernlehrpläne der nordrhein-westfälischen Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien ausgewertet. Gleichzeitig analysierte das Forschungsprojekt die Position von Politik in den Kernlehrplänen der Fächer Politik an Gesamt- und Realschulen sowie Politik / Wirtschaft an Gymnasien.
So konnte der Themenbereich Politik mit dem von Gesellschaft und Wirtschaft verglichen werden.

Wenig Zeit für Politik in den Lehrplänen

Die Namen der Fächer lassen erwarten, dass Politik und politische Themen im Unterricht an der Sekundarstufe I in NRW ein erhebliches Gewicht haben. Konkreter kann man annehmen, dass der Themenbereich Politik in einem Schulfach Politik deutlich überwiegt und in einem Schulfach Politik / Wirtschaft mindestens die Hälfte der curricular definierten Inhaltsbereiche ausmacht. Empirisch werden diese Erwartungen eindeutig enttäuscht:

  • Im gesamten Unterricht der Jahrgangsstufen 5 bis 10 – beziehungsweise 5 bis 9 an Gymnasien – beschäftigen sich die Lernenden sehr selten und sehr kurz mit politischen Themen. Nur wenig mehr als ein Prozent ihrer Lernzeit steht dafür zur Verfügung (siehe Tabelle).
  • Im Durchschnitt entfallen pro Schulwoche im Unterricht bestenfalls 17 bis 20 Minuten auf politisches Lernen. Jede*r Jugendliche hat rechnerisch wöchentlich etwa 20 Sekunden Zeit, um seine politische Position in der Klasse vorzutragen und mit anderen darüber zu sprechen.
  • Auch im sozialwissenschaftlichen Lernbereich (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft) der Sekundarstufe I machen politische Themen nur ein gutes Drittel der Unterrichtszeit aus.
  • Der Anteil von Politik im gymnasialen Fach Politik / Wirtschaft liegt unter einem Drittel.
  • Der Kernlehrplan des Fachs Politik / Wirtschaft gibt wirtschaftlichen Themen ein Drittel mehr Raum als politischen.
  • Gemessen an den obligatorischen Inhaltsfeldern der curricularen Vorgaben sind die Gesamtschule
    und mit einigem Abstand auch das Gymnasium besonders wirtschaftsaffin (siehe Abbildung).
  • Der Themenbereich Gesellschaft bleibt in allen Schulformen weit hinter Wirtschaft zurück. Je nach Schulform vergibt der Kernlehrplan in Form der Inhaltsfelder 50 bis 69 Prozent mehr Unterrichtszeit
    für den Themenbereich Wirtschaft als für Gesellschaft.

Eine einzigartige Position genießen die Fächer Politik und Politik / Wirtschaft allerdings bei fachfremd erteiltem Unterricht: Es gibt in der Sekundarstufe I in NRW kein anderes Schulfach, das nur annähernd so häufig fachfremd erteilt wird. Im Schuljahr 2016 / 2017 waren es nach der Statistik des Schulministeriums an Realschulen 62,7 Prozent, an Gesamtschulen 64,7 Prozent und an Gymnasien 27,2 Prozent des Unterrichts in diesen beiden Fächern. Gegenüber den Schuljahren 2014 / 2015 und 2015 / 2016 hat sich die Lage an Realschulen und Gesamtschulen noch einmal deutlich verschlechtert; an Gymnasien nahm der fachfremde Unterricht leicht zu.

Geringer Kurswert für politische Themen

Angesichts dieser empirischen Befunde erscheint ein Gesamturteil angemessen, das eine curriculare Vernachlässigung der im engeren Sinne politischen Bildung in der nordrhein-westfälischen Sekundarstufe I durch die Bildungspolitik konstatiert. Dies gilt dann, wenn man die obligatorischen Inhaltsfelder den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zuordnet und die Anteile miteinander vergleicht.
Je größer der Umfang eines Schulfachs in der Stundentafel, desto höher ist nicht nur sein offizieller Bildungswert. Stundentafelanteile sind auch die harte Währung des Bildungssystems. Von ihnen hängt eine Vielzahl von Finanzströmen ab: Lehrer*innenstellen für entsprechende Fächerkombinationen an Schulen, Studienplätze, Professuren und Mitarbeiter*innen an den Hochschulen, Leitungsstellen in der zweiten und dritten Phase der Lehrer*innenausbildung und so weiter. Die empirische Analyse der Forscher*innen der Universität Bielefeld zeigt, dass in der Sekundarstufe I in NRW Politik und politische Themen einen vergleichsweise geringen Kurswert haben. Wie man das bewertet und ob man das angesichts der anhaltenden Herausforderungen für die politische Bildung so fortführen will, ist vor allem bildungs- und demokratiepolitisch zu diskutieren.
Gegenwärtig jedenfalls senden die geltenden Stundentafeln und Kernlehrpläne ein klares Signal an Lernende, Lehrkräfte und Öffentlichkeit: Politik und Demokratie sind für die Schule eine eher nachrangige Angelegenheit, ihre Stellung im Stundenplan und im Unterricht ist schwach. Wie daraus eine Stärkung demokratischen Denkens und Handelns von Jugendlichen hervorgehen soll, bleibt ein Geheimnis der Bildungspolitik.

Mahir Gökbudak
Lehrer im Hochschuldienst an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld
(AG „Didaktik der Sozialwissenschaften“)

Prof. Dr. Reinhold Hedtke
Professur für Wirtschaftssoziologie und Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld

Illustrationen: Bogyofunk, karetniy / shutterstock.com; Foto: iStock.com / SolStock

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