Mehrsprachigkeit: Europaweit denken

Sprachkompetenzen in der Europäischen Union (EU) gelten seit den Barcelona-Vereinbarungen von 2002 als wesentliche Fähigkeiten für eine wissensbasierte, wettbewerbsorientierte Gesellschaft. In der globalen Welt gehört die Beherrschung mehrerer Sprachen zu allen anspruchsvollen Berufen. Fremdsprachen sind eine wichtige, individuelle Ressource, um soziale und wirtschaftliche Vorteile zu gewinnen. In der EU wird Mehrsprachigkeit angestrebt. Expert*innen und Politiker*innen gehen dabei von einer Formel „1 + 2“ aus: Zur Erstsprache kommen bestenfalls zwei weitere Sprachen hinzu.
Gleichzeitig wird die alltägliche Sprachenvielfalt im heutigen Deutschland immer größer. Fast 60 Jahre Migrationsgeschichte sorgen in Deutschland in allen gesellschaftlichen Bereichen für eine mehrsprachige Lebensrealität. Wirtschaftsunternehmen versuchen, sich ökonomische Vorteile durch mehrsprachige Angebote zu sichern. Für die Dienstleistungsbranche, Behörden oder Krankenkassen ist mehrsprachige Kommunikation unverzichtbar. Wie greift Schule diese mehrsprachige gesellschaftliche Realität auf?

Schulentwicklung: Institutionelle Weichen für Mehrsprachigkeit stellen

Die Bildungsinstitution Schule muss sich und die Lernenden auf diese veränderte Gesellschaft vorbereiten. In der Lehrer*innenausbildung wird Mehrsprachigkeit seit dem reformierten Lehrerausbildungsgesetz von 2009, das zum Wintersemester 2011 / 2012 in Kraft getreten ist, als fester Bestandteil berücksichtigt: Angehende Lehrer*innen erhalten seitdem während ihres Studiums eine theoretische Ausbildung in Deutsch als Zweitsprache. Erst seit kurzer Zeit wird auch in der zweiten Ausbildungsphase – während des Referendariats – darauf geachtet, dass sprachsensibler Unterricht stattfindet. Hierzu werden zum Beispiel in NRW an ausgewählten Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) Fachleiter*innen für den gymnasialen Bereich qualifiziert. In Zukunft soll flächendeckend in den ZfsL für alle Schulformen die Ausbildung für sprachsensibles Unterrichten etabliert werden. Dies sind wichtige Meilensteile, um Lehramtsstudierende auf die Förderung mehrsprachiger Schüler*innen vorzubereiten, aber sie reichen noch nicht aus, um die Inklusion der Mehrsprachigkeit an deutschen Schulen zu gewährleisten. Denn auch die Lehrkräfte, die ihre Ausbildung längst abgeschlossen haben und bereits unterrichten, benötigen wissenschaftlich fundierte Unterstützung. Es gibt in NRW viele Universitäten, etwa die Technische Universität Dortmund, die für Lehrkräfte Weiterbildung anbieten. Ein stetig wachsendes Arbeitspensum erschwert vielen Lehrer*innen jedoch den Zugang.

Perspektivenwechsel für Lehrer*innen: Sprachenlernen selbst erfahren

Unter dem Aspekt der Diversität und des institutionellen Wandels durch Zuwanderung verändern sich die Aufgaben von Lehrkräften und Schulsozialarbeiter*innen immer mehr. In der Institution Schule ist es immer wichtiger, in multiprofessionellen Teams zu arbeiten, um diese spezielle Schüler*innengruppe zu unterstützen. Damit diese an unseren Schulen erfolgreich sein kann, sollte die Didaktik deren Lernbedürfnissen angepasst werden. Um ein besseres Verständnis für Sprachlernprozesse zu bekommen, ist es für Lehrkräfte nicht nur wichtig, den aktuellen Stand der Zweitspracherwerbsforschung zu kennen. Ein großer Gewinn ist auch, die Struktur einer Migrant*innensprache zu kennen. Lehrer*innen müssen dafür nicht die Sprache vollständig erlernen, aber sie müssen lernen, die Schwierigkeiten ihrer Schüler*innen beim Erwerb der neuen Sprache zu verstehen und passende Hilfestellungen zu geben.
Schulen und Universitäten müssen auf die mehrsprachige Gesellschaft reagieren, wenn sie allen Schüler*innen realistische Bildungswege und höhere Bildungsabschlüsse ermöglichen und sie sprachlich und kulturell in die deutsche und europäische Gemeinschaft einbinden möchten. Schließlich werden genau diese Schüler*innen die Zukunft in Deutschland und Europa mitgestalten.

Prof. Dr. Yüksel Ekinci-Kocks
Professorin für den Bildungsbereich Sprache im Fach-bereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld

Foto: davorey /photocase.de

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