Bochumer Kongress und Bochumer Memorandum
Schlüssel passt noch nicht zum Schloss
Wer die Basis für eine erfolgreiche Zukunft schaffen will, muss die Rahmenbedingungen für Bildung langfristig verbessern. Eine Daueraufgabe für die Landesregierung, die die GEW NRW kritisch und konstruktiv begleitet. Mit dem Bochumer Memorandum formuliert sie überprüfbare Ziele, an denen sich die Bildungspolitik der Landesregierung messen lässt. Eine Bilanz anlässlich des Bochumer Kongresses.
Über zehn Jahre nachdem die GEW NRW das Bochumer Memorandum angestoßen hat, ist es nun an der Zeit, ein Fazit zu ziehen. Welche der gesetzten Ziele wurden erreicht? Bei welchen Themen gab es Bewegung, wo gab es Stillstand? Konnte das Bochumer Memorandum zu einer positiven Fortentwicklung der Schul- und Bildungspolitik beitragen? Um diese Fragen zu beantworten, lohnt es sich, auf das Entstehungsjahr des Bochumer Memorandums zurückzublicken, ins Jahr 2005.
Prüfsteine für gute Bildung
Damals erlebte Nordrhein-Westfalen einen gravierenden Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik. Für die kurz zuvor gewählte schwarz-gelbe Landesregierung unter NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers war Chancengleichheit kein erklärtes Politikziel mehr. Es ging darum, ein begabungsgerecht gegliedertes Schulsystem zu erhalten. Kurzum: Lediglich die individuelle Begabung wurde für den Bildungserfolg verantwortlich gemacht, der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsbenachteiligung spielte keine Rolle mehr. Dementsprechend setzte die schwarz-gelbe Landesregierung auf mehr Selektion, eine verbindliche Grundschulempfehlung, Kopfnoten, eine Hauptschulinitiative und das Abitur nach zwölf Jahren. Schulformen, die ein längeres gemeinsames Lernen unterstützen, wurden behindert statt gefördert.
Höchste Zeit für die Bildungsgewerkschaft, Veränderungen in der nordrhein-westfälischen Bildungspolitik anzustoßen: Das Bochumer Memorandum sollte überprüfbare Ziele formulieren, an denen sich die Bildungspolitik der Landesregierung messen lässt, und unabhängig von Legislaturperioden und Regierungskonstellationen einen Beitrag zur Versachlichung der bildungspolitischen Debatte leisten. Für das Großprojekt wurde zunächst der DGB NRW ins Boot geholt und von Anfang an wurden alle bildungspolitisch relevanten Stimmen des Landes in den Memorandumsprozess eingebunden. Im Rahmen mehrerer Veranstaltungen diskutierten GEW NRW und DGB NRW daher mit Expert*innen und Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft über die aktuellen Herausforderungen im Bildungssystem.
Ein klares Urteil fällte Prof. Dr. Franz Lehner, Präsident des Gelsenkirchener Instituts Arbeit und Technik, während des Kongresses zum Bochumer Memorandum 2010. Mit Blick auf die wirtschaftliche und soziale Zukunft Nordrhein-Westfalens bezeichnete er die schwarz-gelbe Bildungspolitik als katastrophal und forderte eine grundsätzliche Neuausrichtung. Die Abwahl der Regierung Jürgen Rüttgers‘ wenige Monate später war daher auch eine Folge des Versagens in diesem wichtigen Politikfeld.
Wende zur präventiven Bildungspolitik
Mit dem Regierungswechsel kam es zu einer strategischen Neuausrichtung. Die Minderheitsregierung von SPD und den Grünen folgte den Gewerkschaften in ihrer programmatischen Ausrichtung und bekannte sich zum Grundsatz einer präventiven Schul- und Bildungspolitik. Im Koalitionsvertrag fanden sich viele gewerkschaftliche Vorschläge wieder und offensichtliche Fehlentscheidungen der Vorgängerregierung wurden umgehend revidiert. So wurden das Kinderbildungsgesetz novelliert, das weitere Vorziehen des Einschulungsalters gestoppt und die Studiengebühren wieder abgeschafft. Nach einem Jahr Regierungsarbeit wurde der Schulkonsens gemeinsam mit der CDU vereinbart. Hier gelang es der rot-grünen Landesregierung, im Parlament einen breiten Kompromiss über die Schulstruktur in Nordrhein-Westfalen zu finden.
Indikatoren zeigen ein gemischtes Bild
Zehn Jahre später lässt sich klar sagen: Seit der Entstehung des Bochumer Memorandums hat sich in der nordrhein-westfälischen Bildungspolitik einiges bewegt. Das Memorandum hat daran mitgewirkt, die konservative, starre Programmatik der schwarz-gelben Regierung zu überwinden. Es hat wichtige Impulse für ein modernes Bildungssystem gesetzt. Der Anspruch, jedem Kind die gleichen Chancen zu gewähren, ist wieder in die Politik zurückgekehrt. Aber konnte dieser Anspruch tatsächlich umgesetzt werden? Dazu ist ein detaillierter Blick auf die einzelnen Indikatoren des Bochumer Memorandums und deren Entwicklung notwendig. Einige Indikatoren zeigen klare Erfolge. So wurde der Anteil der Sitzenbleiber*innen deutlich reduziert, und es gibt mehr Jugendliche in Nordrhein-Westfalen mit einem mittleren Schulabschluss. Die Studienabschlussquote ist stetig gestiegen, und auch die Mittel für Weiterbildung wurden deutlich erhöht. Bei anderen Indikatoren stimmt die Richtung, das Ziel wurde aber noch nicht erreicht. So ist zum Beispiel der Ausbau der U-3-Betreuung deutlich vorangekommen, der Anteil der Betreuungsplätze konnte sogar mehr als verdoppelt werden. Gleichzeitig reichen diese Anstrengungen aber bei Weitem nicht aus, um den Bedarf an frühkindlicher Betreuung annähernd zu decken. Auch die Inklusion wurde vorangetrieben und den Eltern die Wahl gelassen, ob sie ihr Kind an einer Förder- oder einer allgemeinen Schule anmelden. Die Rahmenbedingungen sind allerdings mehr als unbefriedigend. DGB NRW und GEW NRW haben immer wieder darauf hingewiesen, dass weder beim Personal noch bei den Sachmitteln ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen. Einige Indikatoren sind jedoch kaum vorangekommen. Sie beschreiben die offenen Baustellen, die eine neue Landesregierung in der nächsten Legislaturperiode dringend anpacken muss. Besonders bedenklich ist, dass der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Nordrhein-Westfalen eng verknüpft bleibt. Die wissenschaftliche Untersuchung zur Bilanz des Bochumer Memorandums zeigt, dass die Menschen zwar insgesamt ein höheres Bildungsniveau erreichen. Die Kluft innerhalb der Gesellschaft verfestigt sich aber hartnäckig. Wir brauchen endlich wirksame Konzepte, die geeignet sind, um die Qualität unserer Bildungseinrichtungen nachhaltig zu steigern. Kitas, Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen müssen wieder stärker zu Orten werden, in denen sich die verschiedenen Schichten begegnen. Gleichzeitig müssen Bildungseinrichtungen mit schwierigen sozialen Rahmenbedingungen besonders unterstützt werden. Ein weiterer offener Punkt ist die Umsetzung der Ausbildungsgarantie. Jedes Jahr bleiben etwa 24.000 junge Menschen in NRW ohne Ausbildungsplatz. Das ist zunächst nicht die Schuld der Politik, sondern der Arbeitgeber: Nur jedes fünfte Unternehmen bietet in NRW überhaupt Lehrstellen an. Wo freiwillige Vereinbarungen ins Leere laufen, muss die Politik in die Verantwortung gehen und eine gesetzliche Ausbildungsgarantie einführen. Erhalten bleibt auch das Thema Bildungsfinanzierung. Erinnert sei noch einmal an die Verabredungen des Dresdner Bildungsgipfels von 2008: Bund und Länder hatten dort beschlossen, bis 2015 die Ausgaben für Bildung und Forschung auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Obwohl dieses Ziel nicht an Relevanz verloren hat, wurde es bis heute nicht erreicht. Nordrhein-Westfalen hat zwar finanzielle Anstrengungen unternommen. So wurde ein Milliardenpaket zur Schulsanierung aufgelegt und mehr Personal eingestellt. Diese Maßnahmen reichen aber nicht aus.Das Bochumer Memorandum hat in den vergangenen zehn Jahren erfolgreich Debatten angestoßen und zahlreiche Verbesserungen bewirkt. Dennoch gibt es im Bildungssystem nach wie vor viele Probleme, die dringend angepackt werden müssen. Denn gute Bildung und Chancengleichheit bleiben der Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft.
Dorothea Schäfer
Vorsitzende der GEW NRW
Fotos: margie/photocase.de, Jan Hade/Fotolia; Illustration: DrAfter123/gettyimages.de
Leistungsziele für bessere Bildung
Indikatoren des Bochumer Memorandums
- Bildung von Anfang an – Ausbau der Betreuungsquote unter Dreijähriger: Seit August 2013 besteht ein bundesweit geltender Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Ein- und Zweijährige.
- Fördern anstelle von Sitzenbleiben: Die hohe Quote von Wiederholer*innen in den Hauptschulen sollte langfristig gesenkt werden.
- Mehr Schulabschlüsse – bessere Ausbildungsfähigkeit: Viele Schüler*innen – vor allem an Förderschulen – machen keinen Abschluss. Vor allem die Zahl der mittleren Abschlüsse soll deutlich gesteigert werden.
- Abschwächung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung: Der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Bildungsbeteiligung fiel durch die Mikrozensuserhebung auf und sollte abgeschwächt werden.
- Mehr Jugendliche mit einem Ausbildungsplatz: Jede*r Jugendliche hat ein Recht auf Berufsausbildung. Deshalb sollte die Zahl derer, die keinen erhalten, dauerhaft gesenkt werden.
- Steigerung der Studienabschlussquote: Ziel war es, den OECD-Durchschnittswert der Studienabschlüsse von 38 Prozent in NRW zu erreichen.
- Mehr Geld für Weiterbildung: Die Mittel für Weiterbildung sollen kontinuierlich angehoben werden.
- Erhöhung der Bildungsbeteiligung von Schüler*innen mit Migrationshintergrund: Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund sollen gleiche Chancen auf Bildung haben.
- Ausbau des inklusiven Schulsystems: Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf sollen auch zu allgemeinen Schulen gehen können – mittels eines Inklusionsplans.
- Schaffung einer Gestaltungs- und Steuerungsstruktur durch Verbesserung der Voraussetzungen: Rahmenbedingungen sollten geschaffen werden, sodass sich Schulen und Bildungseinrichtungen optimal entfalten können.
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