Waldgruppe Oberhausen: Kleine Forscher*innen an der frischen Luft

Lernraum Kita

Bei Wind und Wetter sind die rund 20 Kinder der Natur- und Waldgruppe des Kinder- und Familienzentrums der AWO in Oberhausen im nahegelegenen Generationengarten unterwegs. Nur bei extremen Witterungsverhältnissen suchen sie Unterschlupf in einem kleinen Fachwerkhäuschen oder in der Einrichtung. Wie wirkt sich dieser spezielle Lernraum auf die Kinder und Erzieher*innen aus? Und wie organisieren sie ihren Gruppenalltag? Ein Kurzbesuch im Wald.

Klassische Lern- und Bewegungsräume bieten oft wenig Freiraum für Lernende und Lehrende. Das Kinder- und Familienzentrum der AWO in Oberhausen betreibt seit 2013 im sogenannten Generationengarten eine Natur- und Waldgruppe, die für Kinder von drei bis sechs Jahren geöffnet ist. Das Konzept der Waldgruppe entspricht dem des dazugehörigen Regelkindergartens in der Friesenstraße, unterscheidet sich aber insofern, als dass der größte Teil des Alltags in der Natur stattfindet und die Lernkonzepte daran angebunden sind.
Schon vom Eingang des Gartens aus ist ein kleines Fachwerkhäuschen sichtbar: Hier ist Treffpunkt der rund 20 Waldkinder und ihrer drei Betreuer*innen. Es ist neblig, aber die Sonne kämpft sich durch den diesigen Himmel. Die Wärme des kommenden Tages ist schon zu spüren. Als der Generationengarten 2005 geschaffen wurde, unterhielt der Kindergarten dort nur ein Beet, da aber Betreuungsplätze für Kinder ab drei Jahren fehlten, kam die Idee auf, eine Natur- und Waldgruppe zu errichten. Nach der morgendlichen Begrüßungsrunde besprechen die Kinder mit Erzieher Robin Focke das Datum, den Wochentag und die aktuelle Wetterlage, das klappt auch schon sehr gut bei den vier Neuzugängen, die seit einer Woche eingewöhnt werden. Die Gruppe hat es sich dazu auf Sitzmatten vor dem Häuschen bequem gemacht. Dazwischen kräht ein Hahn, die Sonnenblumen wiegen ihre schweren Köpfe im Wind und die Sonne bricht endlich durch die Wolken. Die ersten Kinder werden ihre Jacken los.

Frühstück in Ruhe und unter freiem Himmel

Das Fachwerkhäuschen ist der einzige „feste“ Unterschlupf der Gruppe. Hier lagert unter anderem die wetterfeste Ausrüstung der Kinder. Der Innenbereich der Hütte bietet verschiedene Spielmöglichkeiten, mit denen sich die Kinder während der Abholzeiten beschäftigen können. Die Erzieher*innen verteilen die Dienste: Vier Jungen sind verantwortlich für die morgendliche Handwaschzeremonie vor dem Frühstück. Sie verteilen die „Seife“ und Trockentücher, bedienen den Wasserkanister oder halten die Mülltüte auf. Um die Umwelt zu schonen, waschen sich alle die Hände mit flüssiger Lava-Erde, die gefahrlos im Boden versickern kann.
Dann machen sich die Kinder und ihre Erzieher*innen über ihre Essensboxen her, die hier etwas größer ausfallen, weil sie Frühstücks- und Mittagsportionen beinhalten. „Ich genieße unser gemeinschaftliches Essen sehr“, sagt Erzieherin Nicole Quade. In der Waldgruppe lassen sie sich Zeit: Gegessen wird langsam und so lange, bis alle fertig sind. „Die Erzieher*innen müssen sich hier anders strukturieren“, sagt Einrichtungsleiterin Tanja Leve. In der regulären Kindertageseinrichtung ist der Ablauf wegen der unterschiedlichen Projektangebote individueller organisiert, außerdem werden die ersten Kinder um 12 Uhr wieder abgeholt.

Erste-Hilfe-Set im Bollerwagen

Nach dem Frühstück legen die Kinder selbstständig ihre Sitzmatten in den Bollerwagen, der die Ausrüstung für den Tag beinhaltet. Mit dabei auch eine kleine Auswahl an Wechselkleidung sowie manchmal Windeln und Feuchttücher für die Kleinsten, weil nicht die gesamte Ausrüstung für jedes Kind mitgenommen werden kann. Gewindelt wird übrigens im Stehen. „Das wichtigste Utensil sind allerdings die Kühlelemente aus dem Erste-Hilfe-Set“, sagt die Erzieherin. Während einer zweitägigen Fortbildung im Wald lernten sie und ihre Kolleg*innen, mit einfachen Dreieckstüchern Verletzungen zu schienen, aber auch Mandalas aus Naturmaterialien zu legen oder eine Schaukel aus zwei Karabinerhaken, einem Seil und einem Ast zu bauen.
Das Mutterhaus der Einrichtung, das die Gruppe aber nur in wetterbedingten Notfällen aufsucht, liegt rund sieben Autominuten vom Generationengarten entfernt. Die Waldkinder werden 35 Stunden pro Woche, täglich in der Zeit von 7.30 Uhr bis 14.30 Uhr, von zwei Vollzeitkräften und einer 20-Stunden-Kraft betreut. „Für eine Gruppe Drei-bis Sechsjähriger ist das Luxus, hier aber nötig. Diese Möglichkeit haben wir in der Einrichtung nicht zur Verfügung“, sagt Tanja Leve.

Lernen im Rhythmus der Natur

In der Waldgruppe liegt der Fokus auf Bewegung und Wertschätzung der Natur: Läuft der Gruppe ein Igel über den Weg, dann ist der Igel das Thema. Spielen die Kinder auf der Apfelwiese, wird das Thema Apfel besprochen. Senior*innen und Kleingartenvereine helfen beim Gemüseanbau und säen zusammen mit den Kindern Blumen im gruppeneigenen Beet aus. Im Generationengarten erleben die Kinder Tiere und deren Wachstumszyklen hautnah: Vogelvolieren, Kaninchen- und Hühnerställe sowie Bienenstöcke laden zur Erkundung ein. „Wir geben den Kindern die Möglichkeit, selbstständig zu forschen und sich aktiv mit Problemen und Fragestellungen in der Natur auseinanderzusetzen sowie Wirkungszusammenhänge zu entdecken“, erklärt Tanja Leve. Dazu zähle auch, die Lebenszyklen in der Natur und Umwelt zu beobachten und den sorgsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen und Lebewesen einzuüben. „Aber die Waldkinder leihen sich auch manchmal ‚Spielzeug‘ wie Roller und Dreiräder aus der Haupteinrichtung aus und besuchen ebenfalls die Bücherei und die Feuerwehr“, erzählt sie weiter.
Mittlerweile brennt die Sonne ziemlich im Nacken. Die Kinder stellen sich am Bollerwagen in Zweiergruppen auf, die alten Hasen nehmen die Neuzugänge an die Hand. Bis sich alle sortiert haben, dauert es ein wenig. Durch den angrenzenden Kaisergarten läuft die Gruppe Richtung Waldplatz. Sportler*innen und Spaziergänger*innen kreuzen den Weg, man kennt sich oder fragt interessiert nach. „Die Waldgruppe funktioniert wie Freiluftwerbung für die Kita“, sagt Tanja Leve lachend. Die schwülwarme Stadtluft verwandelt sich schnell in angenehm kühle Waldluft. Auf dem Platz angekommen, lassen die Kinder ihre Rucksäcke neben den Bollerwagen plumpsen und strömen aus.
Der Waldplatz bietet unterschiedliche Spielbereiche: Noah legt sich in ein Bett aus Baumrinde und blickt versonnen in die Baumkronen. Zwei dreijährige Mädchen fliegen auf einem geschwungen Baumstamm davon. Eine andere Gruppe reißt das aus Holzstämmen gebaute Tipi ab und errichtet am nächstgelegenen Baum eine Raumstation daraus. Vorher war hier der Kletterbaum. Kleine Kinder hantieren mit sehr großen Ästen, sie fallen mit Schmackes auf den feuchten Waldboden und stehen wieder auf, als wäre nichts gewesen. „Komischerweise gibt es mit den Ästen nie Unfälle, eher verletzen sie sich an einer kleinen Nähnadel“, sagt Nicole Quade.

Wenig Spielzeug, viel Fantasie

„Wir müssen hier nicht ständig Spielmaterial austauschen wie in der regulären Einrichtung. Die Waldkinder entwickeln auch aus Rindenmulch eine Spielidee, und das bei fast jeder Wetterlage“, sagt Tanja Leve. Es sei denn, draußen herrschen minus zehn Grad und den Kindern schmerzen die Finger, dann sammelt sich die Gruppe in der Hütte vor dem Ofen. Neben dem Waldplatz darf die Gruppe auch andere Orte im Kaisergarten nutzen: Frühstück gibt es meist am sogenannten Märchenbaum, im Winter rodeln sie am nahegelegenen Ottoberg und auch auf den Freiflächen des Kaisergartens ist die Gruppe unterwegs. Neben dem Spielen, Forschen und Erkunden im Wald finden auch unterschiedliche Projekte, wie zum Beispiel Brandschutzerziehung, Verkehrserziehung, Sprachförder- und Ernährungsprojekte statt: „In Kleingruppen erarbeiten wir gemeinsam mit den Kindern diese Projekte“, sagt Nicole Quade. Die tägliche Freispielzeit endet um kurz vor 12 Uhr, dann folgt ein Spielkreis auf dem selbstgebauten Waldsofa, sodass die Kinder für das folgende Mittagessen zur Ruhe kommen. Kurz nach 13 Uhr zieht der Waldtross zurück in Richtung Fachwerkhäuschen.

Übergang in die Schule: Können die Kinder still sitzen?

Auch die Rückmeldungen der Lehrer*innen sind beim Übergang in die Schule durchweg positiv: Die Kinder sind ausgeglichener und konzentrierter, können besser Konflikte lösen, und trotzdem mit Stift oder Schere umgehen. „Der Wechsel meiner Tochter in die Schule verlief problemlos. Das finde ich bemerkenswert, nach all der Bewegung im Kindergarten. Es scheint, als hätte sie sich in den drei Jahren ausgetobt“, bestätigt auch Nina Urbanski, die als eine der ersten Mütter ihre Tochter in der Waldgruppe betreuen ließ. Nicht alle Kinder haben von Anfang an einen starken Bezug zur Natur und auch die Einstellung der Eltern muss stimmen. Wer als Elternteil die Erzieher*innen bittet, sie mögen aufpassen, dass das Kind sich nicht beschmutzt, ist in der falschen Gruppe. „Auch privat sollten die Eltern das Konzept ansatzweise leben“, sagt Nicole Quade. Das gilt auch für die Betreuer*innen.
Auch Kolleg*innen aus der Einrichtung, die ab und zu im Wald aushelfen, sind angetan von der Ruhe: Kein Telefonklingeln, kein Türschlagen und kein permanenter Lärmpegel stören die Arbeit im Freien. In den Pausenzeiten verlassen die Erzieher*innen die Gruppe und ruhen sich aus, bei Sonnenschein unter anderem auf Holzliegen im Kaisergarten. Im Winter steht ein Aufenthaltsraum im angrenzenden Ausbildungs-Zentrum (ZAQ) zur Verfügung.
Der vielleicht einzige Nachteil der Waldgruppe aus Sicht der Eltern: Die Mehrkosten für mehrere Monturen hochwertigerer Funktionskleidung.  „Nur mit Matschsachen vom Discounter kommen wir nicht durchs Jahr“, sagt Nicole Quade. Ein großer Vorteil hingegen ist: Sowohl die Kinder als auch die Erzieher*innen haben deutlich weniger Infekte und ein stärkeres Immunsystem. Außerdem verinnerlichen sie Gruppenrituale zügiger und werden schneller selbständig.


Roma Hering
freie Journalistin

Fotos: A. Etges

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