Klassenrat und Vollversammlung: Demokratie lernen und leben

Klassenrat und Jahrgangsvollversammlung in Schulen

Mitbestimmung steht auf der Prioritätenliste der Gesamtschule Essen-Holsterhausen ganz oben. Schüler*innen und Lehrkräfte treffen sich mehrmals im Monat, um aktuelle Themen zu diskutieren und die eigene Meinung zu sagen. Ruheständlerin Barbara Sendlak-Brandt hat von 1992 bis 2012 dort gearbeitet. Sie gehörte zum Gründungsteam und berichtet von den pädagogischen Möglichkeiten der Demokratieerziehung.

Kinder haben Rechte. In der UN-Kinderrechtskonvention sind die Grundrechte aller Kinder festgehalten. Artikel 5 besagt, dass Kinder das Recht haben, bei allen Fragen, die sie betreffen, mitzubestimmen und zu sagen, was sie denken. Artikel 7 besagt, dass Kinder das Recht haben, sich alle Informationen zu beschaffen, die sie brauchen, um ihre eigene Meinung zu verbreiten.
Die städtische Gesamtschule in Essen-Holsterhausen fühlt sich den Kinderrechten und der AGENDA 21, die Bildung als Grundlage für nachhaltiges Handeln festschreibt, in besonderer Weise verpflichtet. Wir, das Gründungskollegium, wollten ein „Haus des Lernens“ gestalten, in dem alle willkommen sind, und schafften mit einem Klassenrat und einer Jahr-gangsvollversammlung den Rahmen, um demokratisches Miteinander einzuüben. Somit können die Schüler*innen der Klassen 5 bis 10 in 240 Stunden pro Jahr mitbestimmen.

Klassenrat einmal in der Woche

Um die Selbst- und Mitbestimmung in der Schule zu fördern, führten wir den Klassenrat (KLARA) ein. So findet an jedem Freitag in allen Klassen der Sekundarstufe I in der ersten Stunde ein Treffen statt – mit einer festen Struktur:

  • Der KLARA wird gleichberechtigt jeweils von einem Mädchen und einem Jungen geleitet. Jede*r kommt in alphabetischer Reihenfolge dran.
  • Tagesordnungspunkte werden während der Woche am Schwarzen Brett gesammelt. Die Tagesordnung wird abgestimmt.
  • Unterstützend gibt es eine*n Zeitwächte-r*in, eine*n Ordnungsrufer*in und eine*n Protokollant*in.

Zu Beginn jedes KLARA werden die Einhaltung und die Wirksamkeit der Beschlüsse überprüft.
Wir haben über alles diskutiert: über Regeln des Umgangs miteinander, Sitzordnung, Gestaltung des Klassenraums, Mensaessen, Tagesausflüge und Klassenfahrten. Es gab Beschwerden über Kinder, die sich nicht an die Regeln hielten, Beschwerden von Reinigungskräften und vom Hausmeister. Ungerechtigkeiten nicht zu akzeptieren, ist auch Josi (Klasse 8) ganz wichtig: „Im Klassenrat habe ich gelernt, meine Meinung zu sagen, wenn mir etwas nicht passt“, sagt sie. Unterstützung bekommen die Schüler*innen von Sozialpädagogin Silke Wende. Die Vermittlung von Methoden zur Streitschlichtung ist ein wichtiges Element zur Stärkung der Selbstregulierung bei Konflikten. 

Vollversammlung einmal im Monat  

Ein weiterer Baustein im Schulkonzept Demokratieerziehung ist die Jahrgangsvollversammlung. Das Gründungsteam hat eine „assembly“ nach angelsächsischem Vorbild eingeführt, die in jedem Jahrgang einmal im Monat stattfindet:
Für den Ablauf der Vollversammlung sind die Schüler*innen verantwortlich. Die Sitzung wird rollierend im Wechsel von den Klassen des Jahrgangs moderiert.
Die Abteilungsleitung gibt wichtige Informationen bekannt. Herausragende Leistungen sowie besonderes Engagement werden gewürdigt. Zu den Halbjahreszeugnissen werden Auszeichnungsurkunden verliehen. Die Missachtung der Schulordnung wird getadelt.
Die Lobkultur spielt eine wichtige Rolle und gefällt Marie (Klasse 10) besonders gut an der Vollversammlung: „Es ist schön, das Gefühl zu haben, etwas besonders gut gemacht zu haben“, sagt sie. So loben nicht nur die Lehrer*innen die Kinder, sondern auch andersherum.
Sogenannte Mutkarten sollen Kinder ermutigen, sich etwas zu trauen und zu besonderen Leistungen anspornen.
Regelmäßig werden „Menschen mit einer Botschaft“ eingeladen, die den Schüler*innen etwas Besonderes mitzuteilen haben. Es waren viele bei uns zu Gast: der Straßenkinderzirkus ZipZap aus Kapstadt, der Weggefährte Nelson Mandelas Dennis Goldberg aus Südafrika und Sally Perel, der berichtete, wie er als Hitlerjunge den Holocaust überlebte.

Möglichkeiten der Teilhabe in Schule

Demokratieerziehung findet an der Gesamtschule Essen-Holsterhausen wie an allen anderen Schulen nach Lehrplan im Geschichts- und Politik-unterricht statt. Es gibt viele Möglichkeiten, Institutionen und Spielregeln der Demokratie konkret erfahrbar zu machen: Wir besuchten zum Beispiel das Kinder-Teenie-Forum im Rathaus in Essen. Im Rahmen eines Planspiels leiteten die Schüler*innen dort eine Ratssitzung und reichten einen Antrag für eine Hundewiese ein.
Ein anderes Mal besuchten die Schüler*innen in einer umfangreichen Gruppenarbeit Jugendfreizeitheime und befragten Kinder und Jugendliche nach ihren Wünschen zur Verbesserung des Freizeitangebots. Die Berichte, die sie darüber verfassten, schickten die Schüler*innen als Anträge an die Bezirksvertretung. Diese hielt daraufhin eine Sitzung in der Schule ab und beschäftigte sich mit den Anträgen. Vor den Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen besuchten Vertreter*innen der Parteien SPD, CDU, FDP und GRÜNE den Unterricht und berichteten von ihren Plänen und Ideen. Außerdem besuchten die Schüler*innen den Landtag und machten ein Planspiel zum Gesetzentwurf „Zukunftsperspektiven für junge Menschen schaffen – Wahlrecht ab Geburt“.
Die zehnten Klassen nahmen an einem besonderen Angebot des Instituts für internationale Bildung teil. Sie setzten sich im Workshop unter dem Titel „Europa.Kultur_Integration_Migration“ anhand von Filmen mit konkreten Problemen von fünf jungen Menschen in Europa auseinander und erarbeiteten Lösungen.
Einmal im Jahr findet in der Schule eine Klimakonferenz statt, an der drei bis fünf Schüler*innen aus den Klassen 5 bis 10 teilnehmen. Die Jugendlichen können dabei in Workshops zu nachhaltigem Handeln wie „Klimafreundliches Kochen“ und „Fair Trade – was ist das?“ mitarbeiten. Die Organisation, Gestaltung und Moderation übernimmt der Klimarat. Dafür treffen sich engagierte Schüler*innen aller Jahrgangsstufen jeden Dienstagnachmittag in ihrer Freizeit. Ihr Anliegen ist es, bei den Mitschüler*innen ein Bewusstsein für nachhaltiges Handeln zu schaffen.
Seit 2004 nimmt die Gesamtschule Essen-Holsterhausen regelmäßig am bundesweiten Projekt „Jugend debattiert“ teil. Es steht unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten und gibt Jugendlichen der Sekundarstufen I und II die Möglichkeit, zu aktuellen Streitfragen zu debattieren. Klara Boek, Gewinnerin des Schulwettbewerbes 2008, sagte über „Jugend debattiert“: „Ein Ereignis, welches Sprache, Freundschaft und Konkurrenz verbindet!“ Larissa Schombert, Teilnehmerin des Wettbewerbs und ehemalige Schülerin der Gesamtschule Holsterhausen, erklärt: „Jugend debattiert war eine spannende Zeit, in der ich viele nette Menschen kennenlernte und meine Wortwahl und Sprache präzisierte.“

Demokratieerziehung als Schulkonzept

In der Publikation „Schulkonzept – Demokratie leben und lernen“ heißt es: „Demokratie ist das Ergebnis menschlichen Handelns und menschlicher Erziehung. Sie muss aktiv gestaltet und gelernt werden. Dafür ist jeder einzelne verantwortlich, denn es ist nicht selbstverständlich in einer Demokratie zu leben.“ Die Öffnung der Schule hin zur Kommune und die Pflege von Partnerschaften zu außerschulischen, auch zivilgesellschaftlichen Akteur*innen bilde dafür eine wichtige Bedingung. Demokratie bedeute darüber hinaus, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte konstruktiv zu bewältigen. Denn nur so kann Demokratie funktionieren, sowohl im Kleinen in der Schule als auch im Großen in der gesamten Gesellschaft.


Barbara Sendlak-Brandt
bis 2012 Lehrerin an der Gesamtschule in Essen-Holsterhausen und Mitglied des Gründungsteams

Fotos: luxuz::., christophe papke / photocase.de

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