Gerechtigkeit: Der Totschlagbegriff

Wer für Gerechtigkeit ist, steht ohne Zweifel auf der richtigen Seite. Oder? Dass der Begriff gleichermaßen vom Parteiprogramm der AfD und in den Reden von „Gottkanzler“ Martin Schulz vereinnahmt wird, sollte zumindest stutzig machen. Was bedeutet Gerechtigkeit? Und warum liegt sie so im Trend?
Ein Diskussionsbeitrag von Alexander Grau. 

Gerechtigkeit findet jede*r gut. Für Gerechtigkeit sind alle. Deshalb ist Gerechtigkeit ein rhetorischer Totschlagbegriff. Man kann in unserer Gesellschaft schlecht gegen Gerechtigkeit sein. Gerechtigkeit ist selbstbegründend. Wer sie als Wert oder Ziel in Zweifel zieht, betreibt Häresie. Denn Gerechtigkeit ist der Götze unserer Wohlstandsgesellschaft. Sie ist der Fetisch, an den all jene glauben, die ansonsten an nichts mehr glauben. Dass kaum einer sagen kann, was Gerechtigkeit eigentlich ist und worin sie besteht, tut der Sache keinen Abbruch, im Gegenteil.

Selbstverwirklichung als Sozialprogramm

Für Aristoteles, den bedeutendsten Philosophen des Abendlandes, bestand Gerechtigkeit darin, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Für die Gläubigen des postindustriellen Gerechtigkeitskultes ist eine solche Definition ein Skandal. Für westliche Wohlstandbürger*innen besteht Gerechtigkeit in der absoluten Inklusion: Alle sollen gleichbehandelt werden, auch wenn sie noch so ungleich sind. Das ist zumindest das erträumte Ideal.
Es ist die Ideologie einer auf absolute Selbstverwirklichung ausgerichteten Konsumgesellschaft. Denn sich selbst zu verwirklichen, bedeutet im Zeitalter des Massenhedonismus vor allem: grenzenlose Partizipation an den Konsummöglichkeiten der Überflussökonomie. Hieran nicht vollständig oder nur sehr eingegrenzt teilhaben zu können, ist das größte denkbare Übel des sich qua Konsum verwirklichenden Individuums.
Entsprechend deklariert der Sozialstaat, nach der Überwindung der Not der Industrialisierung, den Anspruch auf Existenzsicherung zum Grundrecht auf Teilhabe am Massenkonsum um. Und es ist nur konsequent, dass dieser Anspruch mit dem Attribut „sozial“ versehen wird. Denn wenn Gerechtigkeit der Fetisch moderner Wohlstandsgesellschaften ist, dann ist das Attribut „sozial“ ihr Halleluja. Es dient nicht nur der Verklärung ganz prosaischer Anliegen, vielmehr bündeln sich in ihm die quasireligiösen Versprechungen der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Konsequenterweise wird alles sozial umgedeutet: Aus Politik wird Sozialpolitik, aus dem Rechtsstaat der Sozialstaat, aus der Marktwirtschaft die soziale Marktwirtschaft und aus dem Lernen das soziale Lernen.

Wohlstand als Allheilmittel

Im Klartext geht es dabei immer um Kontingenzkompensation, also um den Ausgleich der Zufälligkeiten des Lebens mit sozialstaatlichen Mitteln. Dabei liegt es in der Logik der Sache, dass dieses Ausgleichsprogramm immer expansiver wird: Stand am Anfang noch der ökonomische Ausgleich, so geht man seit einigen Jahrzehnten dazu über, soziale Unterschiede kompensieren zu wollen. Was kommt danach?
So befreit sich das moderne Selbstverwirklichungsindividuum unter Inanspruchnahme der Gemeinschaft von allen Schranken, die das Leben so bereithält. Dass dieses im Grunde vollkommen narzisstische Programm als „gerecht“ und „sozial“ daherkommt, macht seine eigentliche Pointe aus.
Dabei spricht nichts gegen Gerechtigkeit. Doch Gerechtigkeit besteht in dem gerechten Abwägen verschiedener Werte. Sie selbst ist kein Wert. Wer sie aber, und sei es in bester Absicht, zu einem Wert stilisiert, instrumentalisiert dieses hohe Gut zur billigen Ideologie einer kapitalistischen Massenkonsumgesellschaft.
Man kann das gut finden. Wir alle wollen Wohlstand. Ihn aber angesichts des Elends dieser Welt zur „sozialen Gerechtigkeit“ zu sakralisieren, ist zumindest gedankenlos.

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist unter anderem für Cicero-online.


Foto: go2 / photocase.de

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Kommentare (1)

  • MacSail Haben die Verantwortlichen der NDS den Artikel gelesen? Fanden sie ihn vielleicht interessant, wegen der Anlehnung an Aristoteles?
    Im Sinne von Aristoteles würde ich aber annehmen, das die Ungleichheit von Behinderten und Nichtbehinderten im deutschen Schulwesen erkannt und entsprechend spezifische Förderungen erfolgen müssten, die im normalen Klassenverband einfach nicht zu leisten sind. Thema Inklusion! Ist es nicht die GEW, die diesem Thema eine besondere Bedeutung beimisst, die bestehende Inklusion verteidigt und nicht laut genug die Missstände aufzeigt?
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