Sexualisierte Gewalt: Lehrerinnen schützen!

Gemeinsam handeln gegen Übergriffe von Schüler*innen

Sexualisierte Gewalt und Grenzverletzungen von Schüler*innen gegenüber Lehrpersonen sind ein Tabuthema, das bislang auch wissenschaftlich erst ansatzweise erforscht wurde. Im geschützten Raum von Fortbildung und Supervision berichten Lehrkräfte jedoch immer wieder von sexualisierter Gewalt durch Schüler*innen: von Übergriffen, Abwertungen und Diskriminierungen, die sie allein aufgrund ihres Geschlechts erfahren.

Die Angriffe richten sich gegen Frauen, aber auch gegen Lehrkräfte, die eine von der vermeintlichen Norm abweichende geschlechtliche oder sexuelle Identität haben (LSBTIQ*) oder denen dies unterstellt wird. Sexualisierte Gewalt gegen Lehrerinnen kann direkt und offen auftreten, wenn Kolleginnen etwa mit sexistischen Schimpfwörtern belegt werden, ihre Körperlichkeit taxiert und in sexistischer Weise kommentiert wird oder sie gar körperlich angegriffen werden. Oftmals äußern sich Angriffe gegen Lehrerinnen jedoch viel subtiler: Sie können sich zum Beispiel darin zeigen, dass Jungen und männliche Jugendliche die Autorität weiblicher Lehrpersonen nicht anerkennen oder sie von oben herab auf ihren Status als Frau zu verweisen suchen. So konfrontierte beispielsweise ein Achtklässler eine Kollegin mitten im Unterricht mit der laut gestellten Frage: „Frau X, gehen Sie heute Abend mit mir aus?“

Kämpfe nicht allein austragen!

Solche Situationen treffen Lehrerinnen in der Regel völlig unvorbereitet. Da das Thema äußerst tabuisiert ist, werden sie in ihrer Ausbildung nicht darauf vorbereitet und haben keinen theoretischen Hintergrund erlernt, um solche Übergriffe einordnen, reflektieren und angemessene Reaktionen entwickeln zu können. Darüber hinaus ist das Thema schambesetzt und Lehrerinnen sind sich oftmals nicht sicher, ob sie Unterstützung erfahren werden, wenn sie über Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Schule berichten. Sie müssen vielmehr häufig zu Recht fürchten, erneut in ihrer persönlichen Integrität verletzt zu werden oder sich Zweifeln an ihrer professionellen Kompetenz auszusetzen, wenn sie Übergriffe von Schüler*innen offenlegen.
Vor diesem Hintergrund bleiben sie mit ihren Erfahrungen meist allein und entwickeln spontan aus ihren Alltagserfahrungen heraus individuelle Reaktionsweisen. Sie zeigen zum Beispiel Stärke, steigen in Machtkämpfe oder eine Gegenabwertung ein, demonstrieren Schlagfertigkeit und Coolness, lassen den Übergriff abprallen oder ignorieren ihn. Diese Strategien kosten zum einen viel Kraft und können die betroffene Kollegin sehr belasten. Zum anderen lernen alle Schüler*innen am Vorbild der Lehrerin – ob sie nun selbst übergriffig sind oder nur zuschauen. Wird sexualisierte Gewalt etwa ignoriert, bestätigt dies in den Augen der Schüler*innen ihre Rechtmäßigkeit. Es ist daher unabdingbar, dass Schulen Bedingungen schaffen, die es Lehrerinnen ermöglichen, sexualisierte Gewalt gegen ihre eigene Person in ihren vielfältigen Formen zu analysieren, ihre Funktion zu durchschauen und professionelle Handlungsstrategien dagegen zu entwickeln.

Macht erlangen – die Funktion sexualisierter Gewalt

Wer professionell mit sexualisierter Gewalt umgehen will, muss sie zunächst überhaupt als solche wahrnehmen und identifizieren sowie ihre Funktion verstehen. Sexualisierte Gewalt zielt darauf ab, die Hierarchie unserer heteronormativen Geschlechterordnung herzustellen beziehungsweise zu sichern und wird insbesondere dann eingesetzt, wenn die Machtverhältnisse zu kippen drohen. Die Tatsache, dass die Lehrerin als Frau in der schulischen Statushierarchie eine obere Position besetzt, kollidiert für Jungen und männliche Jugendliche mit der herrschenden Geschlechterhierarchie. Als Lernender ist der Schüler der Lehrerin untergeordnet. Als angehender Mann steht er unter dem Druck, eine der Frau übergeordnete Position einzunehmen. Grenzüberschreitungen wie die eingangs
zitierte Frage des Achtklässlers haben das Ziel, diesem Hierarchiedilemma zu entkommen. Der übergriffige Schüler versucht dabei, die in der Geschlechterhierarchie untergeordnete Rolle als Lernender zu verlassen, die Lehrerin auf ihre Rolle als Frau zu verweisen und als männliches Wesen eine Position zu erlangen, die hierarchisch übergeordnet ist.

Richtig reagieren – Empfehlungen für betroffene Lehrerinnen

Damit Lehrerinnen eine professionelle Reaktion auf den Übergriff eines Schülers entwickeln  können, sind drei Faktoren handlungsleitend: Die Reaktion sollte erstens für die Kollegin möglichst kraftsparend sein und eine nachhaltige Wirkung haben, zweitens den heimlichen Lehrplan des Ungleichgewichts der Geschlechter nicht weiter fortschreiben und drittens zu einer von Wertschätzung getragenen Beziehung zwischen Lehrerin und Schüler beitragen. Dies wird idealerweise durch eine Reaktion erreicht, die

  • die Angriffe gegen die Integrität der Lehrerin klar zurückweist und gegebenenfalls sanktioniert,
  • auf der Anerkennung der Beziehung von Lehrerin und Schüler als Lehr-Lern-Verhältnis besteht,
  • den Zwang zur Überlegenheit, dem Jungen in unserer Kultur ausgesetzt sind, abschwächt und nicht verstärkt und
  • Schüler in ihrer persönlichen Integrität nicht abwertet.

Gemeinsam handeln – Rückendeckung von Kollegium und Schulleitung

Wenn Kolleginnen auf sich allein gestellt sind, ist es für sie extrem schwierig, Reaktionen zu entwickeln, die diese Kriterien erfüllen. Es wäre deshalb äußerst hilfreich, wenn Lehrerinnen stärker durch qualifizierte Fortbildungen und Supervisionen unterstützt würden, in denen sie sich in einem geschützten Rahmen austauschen und ihre individuellen Kompetenzen stärken können. Das allein reicht jedoch nicht, denn letztlich ist es für eine einzelne Lehrkraft in vielen Fällen unmöglich, Angriffe auf ihre Integrität zurückzuweisen, solange das Kollegium und die Schulleitung sie nicht unterstützen. Gemeinsames Handeln setzt jedoch voraus, dass im Kollegium überhaupt über sexualisierte Gewalt gesprochen werden kann und der ernsthafte Wille besteht, etwas dagegen zu tun. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit! Alle Verhaltensweisen, die aus der Erforschung sozialer Probleme als Neutralisierungsstrategien bekannt sind, können jede Thematisierung sexistischer Gewalt schon im Keim ersticken:

  • Negieren durch Übergehen und Schweigen
  • Bagatellisieren: „Wir haben wichtigere Probleme.“
  • Schuldzuweisung an die Opfer: „Wie kann sie sich das gefallen lassen?“
  • Normalisieren: „Dieses Verhalten gehört zu diesem Alter.“
  • Abwertung und Isolation derer, die Gewalt benennen: „Kollegin X regt sich aber auch schnell auf.“

Der erste Schritt auf dem Weg zu gemeinsamem Handeln liegt darin, diesen Neutralisierungsstrategien ihre Wirksamkeit zu nehmen. Das schafft die Basis für die Entwicklung eines schulischen Konzepts im Umgang mit jeder Form sexualisierter Gewalt in der Schule – sei sie gegen Lehrkräfte oder gegen Schüler*innen gerichtet.
Ein solches Konzept beinhaltet klare Absprachen und Richtlinien für den Umgang mit Vorfällen, die Benennung von Ansprechpartner*innen, die Klärung von Zuständigkeiten, Aufgaben und Kompetenzen sowie Leitlinien für den Einbezug externer Beschwerdestellen. Darüber hinaus geht es um die Entwicklung präventiver Maßnahmen, die darauf abzielen, die Gleichberechtigung aller Geschlechter zu vermitteln und ein Klima der Achtsamkeit zu schaffen, in dem alle unabhängig von ihrem Geschlecht Respekt und Achtung erfahren und in ihrer persönlichen Integrität geschützt sind.


Dr. Birgit Palzkill
Diplom-Supervisorin, Fortbildnerin, Schulberaterin und Lehrerin

Fotos: MPower., Marcos Ferreiro / photocase.de

1 Comment
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Kommentare (1)

  • Beseler Heidrun Der Artikel hat mir sehr gut gefallen. Machen Sie auch Weiterbildungen für Lehrkräfte an der Schule.
    Mit freundlichen Grüßen Heidi Beseler
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