Die frühe Kindheit braucht Spielwiesen!
Sie strapaziert sie auch als nicht zu versäumende Entwicklungsphase, in der pädagogisches Handeln nicht allein das Wohl der pädagogisch Behandelten fokussiert, sondern vielmehr deren ökonomischen Nutzen und lebenslange Verwertbarkeit. Bildung beginnt mit der Geburt – eine Erkenntnis, mit der um die Jahrtausendwende die „Entdeckung der frühen Jahre“ einsetzte. Sie wertet die frühe Kindheit nicht nur sozial- und bildungswissenschaftlich auf.
Institutionalisierung der frühen Kindheit
Aufgefordert, sich als Kindheitspädagogik zu „disziplinieren“ und zu akademisieren, entstanden seit 2004 bundesweit über 100 neue Studiengänge, deren Absolvent*innen inzwischen in 13 Bundesländern staatlich anerkannte Kindheitspädagog*innen sind. Die zunehmende Multiprofessionalität erweitert Perspektiven und Expertisen, fordert die Kollegialität aber auch heraus: Die Anerkennung für die eingebrachte Arbeitskraft, die pädagogische Kompetenz und Engagiertheit drückt sich nach wie vor nicht in der Entlohnung aus – und das für Bachelor-Absolvent*innen und Erzieher*innen im Gruppendienst gleichermaßen. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bedarf steigert sich die Würdigung pädagogischer „Fach-Kraft“ mit dem Lebensalter ihrer Zielgruppe und divergiert zudem zwischen formalen und non-formalen Bildungssettings.
Dem Ruf nach umfassenderer und früher einsetzender Betreuung folgend wurde die Pädagogik der frühen Kindheit ausgebaut und die der mittleren Kindheit durch non-formale Bildung ergänzt. Dadurch hat sich die institutionelle Verantwortung ausgedehnt, haben sich die informellen, dem (kindlichen) Belieben überlassenen Spielräume zurückgebildet und haben sich pädagogische Professionen multipliziert. Seitdem sind Erzieher*innen, Kindheitspädagog*innen und Sozialarbeiter*innen oft diejenigen, denen die Zuständigkeit für genuin pädagogische Fragen übertragen wird: für Fragen der Übergänge, der Konflikte, des Sozialverhaltens, der Elternberatung, der Mehrsprachigkeit, der Inklusion ...
Zwischen Anerkennung und Vereinnahmung
Als erste institutionalisierte und fremdbetreute Station in der Bildungsbiografie setzen Kitas oft den Startpunkt sozialer Orientierungen und damit erste Erwartungen bezüglich individueller Leistungsentwicklungen, Neigungen und Förderbedarfe. Gesellschaftlich relevante Themen wie Inklusion, Migration, Armut und soziale Unterschiede spielen sich in ihnen ab und sie übernehmen dort Verantwortung, wo sie zum Beispiel als Familienzentren explizit sozialräumlich eingebunden sind, auch über das pädagogische Handeln hinaus. Interventionen werden von ihnen ebenso erwartet wie die angemessene Vorbereitung auf eine wünschenswerte Schullaufbahn.
Als Kita gilt es dabei, sich zu positionieren: zwischen dem Vermögen, einerseits die einst wild gewachsenen Felder frühkindlicher Entdeckungsreisen zu erhalten und nur mit größter Zurückhaltung zu institutionalisieren, und der Erwartung, andererseits keine Lernzeit zu versäumen und die sich öffnenden Fenster kindlicher Entwicklung effizient zu nutzen. Tatsächlich liegen Kraft und Alleinstellungsmerkmal der Kindheitspädagogik in deren pädagogischem (Selbst-)Verständnis und der weitgehenden Unabhängigkeit vom formalen Bildungssystem, das sie weder zu Platzierungen und Zuweisungen von Kindern verpflichtet, noch an Bildungspläne und Entwicklungsvorstellungen zwingend bindet. Es ist ihr zu wünschen, dass sie sich erlaubt, auf Spielwiesen (sich) selbst gestalten zu dürfen und Kindern Freiräume zu erhalten. Vielleicht liegt der Kern pädagogischen Handelns weniger in der Beobachtung der „zu erziehenden“ Kinder als in der wachsamen Beobachtung bildungspolitischer Entwicklungen mit ihren Verpflichtungen und Vereinnahmungen.
Prof. Dr. Andrea Platte
Professorin für Bildungs-didaktik an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln
REHvolution.de / photocase.de
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