Inklusion am Gymnasium: Mutig neue Wege gehen
Das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Pulheim im Porträt
Inklusion ist eine Aufgabe, die mehr als eine Schulform betrifft: Wie das gemeinsame Lernen von Regelkindern und Kindern mit einem speziellen Förderbedarf zum Beispiel am Gymnasium aussehen kann, macht das Geschwister-Scholl-Gymnasium (GSG) in Pulheim bei Köln vor. Dort wird in jedem Jahrgang eine Inklusionsklasse gebildet.n
Ganz bewusst öffnet das GSG als „Schule der Vielfalt“ seine Türen für inklusives Lernen und nimmt nach intensiven Vorarbeiten seit dem Schuljahr 2013 / 2014 Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf. Seitdem gibt es pro Jahrgang eine Klasse des Gemeinsamen Lernens. Derzeit besuchen rund 1.500 Schüler*innen von der fünften bis zur zwölften Klasse das GSG, darunter 35 Schüler*innen mit unterschiedlichen Förderbedarfen.
Lehrerin Jeanette Mayer-Lazarek gehört zum Inklusionsteam der Schule. Seit fast drei Jahren leitet sie gemeinsam mit ihrem Kollegen David Reifenrath eine Inklusionsklasse. „Bei uns führen wir alle Klassen zu zweit – egal, ob es sich dabei um eine Inklusions- oder Regelklasse handelt. Das ist eine Besonderheit, die uns von vielen Schulen unterscheidet“, erklärt die Lehrerin, die seit Mai 2013 am GSG Englisch und Pädagogik unterrichtet. „Gegen Ende des Schuljahrs 2015 / 2016 wurden wir gefragt, ob wir uns vorstellen können, eine Klasse zu übernehmen, in die auch Inklusionskinder gehen. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur Regelklassen geleitet, mein Kollege David Reifenrath hatte darüber hinaus schon Erfahrungen als Fachleher in den Klassen des Gemeinsamen Lernens gesammelt.“ Die beiden entschieden sich dafür – und wagten trotz erster Erfahrungen einen Sprung ins kalte Wasser: „Man weiß zwar vorher nicht, was im Detail auf einen zukommt, aber wenn man ehrlich ist, gibt es in jeder Klasse Kinder mit Defiziten, mit denen man umgehen muss.“
Eine Klasse mit vielen besonderen Kindern
Insgesamt 22 Schüler*innen besuchen die heutige Klasse 7 b. Sechs von ihnen haben einen besonderen Förderbedarf – vier mit einem Förderschwerpunkt Lernen (LE), zwei mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung. Für die beiden Klassenlehrer*innen sind diese Schüler*innen zwar mit einer offiziellen Diagnose „ausgestattet“, doch im schulischen Alltag spielt das eher eine untergeordnete Rolle: „Wir sehen unsere Klasse weniger als Inklusionsklasse, sondern vielmehr als eine Gruppe von 22 besonderen Kindern. Jedes von ihnen kommt morgens zur Schule und kann gewisse Dinge nicht, bringt seine eigenen Stärken und Schwächen mit. Und diese gilt es mit einer individuellen Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen.“
Ihrem Anspruch versuchen die beiden mit viel Engagement gerecht zu werden. Beim Blick in den Klassenraum stellt sich jedoch die Frage, wie gut das gelingt. Dort ist ganz schön was los: „Ja, bei uns ist immer mächtig was los: Die Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt emotionale-soziale Entwicklung kommen jeweils mit einer Schulbegleitung, außerdem werden viele Unterrichtsstunden von einer zweiten Lehrkraft unterstützt. Hinzu kommen an einigen Tagen noch Referendar*innen oder Praktikant*innen“, sagt Jeanette Mayer-Lazarek schmunzelnd. „Gleichzeitig achten wir aber darauf, dass die Kinder möglichst wenig Lehrer*innen haben. Wir als Klassenleitungen unterrichten jeweils zwei Fächer, hinzu kommen dann einige Fachlehrer*innen sowie die Sonderpädagog*innen. Gerade bei den Klasssen, in denen gemeinsam gelernt wird, ist es wichtig, dass kein ständiger Wechsel der Bezugspersonen stattfindet.“
Aber ist es nicht eine immense Herausforderung, mit so vielen Menschen den Unterricht gemeinsam zu gestalten? Jeanette Mayer-Lazarek sieht eher einen großen Vorteil darin: „Dass das gemeinsame Lernen klappt, liegt vor allem daran, dass wir als Team zusammenarbeiten. Für den regelmäßigen Austausch setzen wir uns einmal die Woche zusammen und sprechen über die Schüler*innen, über individuelle Förderpläne und über Ereignisse, die eventuell vorgefallen sind.“
Auch die Unterrichtsvorbereitung erfolgt in enger Abstimmung: „Ich plane zum Beispiel die Englischstunde und spreche mich dann mit der Fachlehrerin ab, die die Stunde mit mir halten wird. Sie reduziert das Material so, dass die Inklusionskinder gut folgen können. Dabei beginnt und endet jede Stunde mit einem gemeinsamen Einstieg beziehungsweise Ausstieg – schließlich sind wir eine Klasse und die Kinder sollen nicht einzeln ihr eigenes Material bearbeiten. Es gibt ja auch Regelkinder in der Klasse, die in dem einen Fach besser, in dem anderen schlechter sind, die brauchen auch auf ihren Leistungsstand abgestimmtes Material. Das Schöne daran: Fragt man die Kinder, wer in der Klasse einen Förderschwerpunkt hat, dann wissen die das gar nicht.“
Individuelles Lernen führt zu einem starken Miteinander
Individuelles Lernen wird also in der 7 b großgeschrieben. Deshalb gehören auch offene Türen zum Konzept: „Bei uns am GSG ist das nichts Besonderes. Nach dem gemeinsamen Einstieg können die Schüler*innen sich verteilen, draußen oder im Flur arbeiten. Wir bereiten die Unterrichtsmaterialien so vor, dass man damit auch auf dem Boden arbeiten kann. Zudem haben wir einen zweiten Klassenraum, sodass wir die Gruppe bei Bedarf teilen können. Unsere Schüler*innen sind freieres Lernen gewohnt und wissen, dass sie an ihren eigenen Baustellen arbeiten. Dabei ist ganz entscheidend, dass alle frühzeitig erfahren, dass sie für sich selbst und für niemand anderen lernen“, betont Jeanette Mayer-Lazarek.
Ein weiterer Baustein des Konzepts ist, dass die Schüler*innen viele Inhalte in Projekten erarbeiten. „Das hat den großen Vorteil, dass sie neben der reinen Stoffvermittlung ganz viel Teamgefühl erfahren und auch mal auf jemanden angewiesen sind, der vielleicht kognitiv nicht so weit ist wie sie, dafür aber eine andere Fähigkeit hat, die ihnen selbst fehlt.“ Ein Beispiel für solch ein gelungenes Projekt ist der Foodtruck, den die 7 b im vergangenen Jahr anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft (WM) gebaut hat: Eine Woche lang haben sich die Schüler*innen damit beschäftigt, welche WM-Länder es gibt und haben diese täglich in der Mensa vor der ganzen Schule präsentiert. Die LE-Schüler*innen bauten den Foodtruck im Werkunterricht. Jeden Tag wurde darin ländertypisch gekocht und verkauft. „Bei diesem Klassenprojekt fiel überhaupt nicht auf, ob jemand vielleicht nicht so gut schreiben oder recherchieren kann. Alle Schüler*innen konnten ihre Stärken mit einbringen.“
Schule ist für die 7 b ein Lebensund Erlebnisort
Auf diese Weise erfahren die Kinder der 7 b Schule mehr als Lebens- und Erlebnisort denn als Lerneinrichtung. „Unsere Schüler*innen kommen wirklich von Herzen gern hierher – am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien saßen alle schon überpünktlich auf ihren Plätzen. Die Kinder wissen einfach, dass wir etwas mit ihnen machen, das Spaß macht. Außerdem freuen sie sich auf die Gemeinschaft. Der Zusammenhalt ist sehr stark ausgeprägt. Das sieht man auch daran, dass die Klasse sich nicht 7 b nennt, sondern sich einen Teamnamen aus unseren Namenskürzeln überlegt hat – sie nennen sich ,Team Reiyer‘. Für uns ist dieses Gemeinschaftsgefühl ganz entscheidend, denn dadurch ist es auch für alle in Ordnung, wenn etwas mal länger dauert oder wenn es bei uns in der Klasse lauter wird.“
Der Klassenraum unterstützt das Lernkonzept
Zu diesem Wohlgefühl trägt sicherlich auch der knallbunte Klassenraum bei, den die Schüler*innen selbst gestaltet haben. „Das hat für uns gar nicht so viel mit dem Thema Inklusion zu tun, sondern mehr mit dem Verständnis, dass Kinder einen schönen Lernraum brauchen, wo sie angenehm arbeiten und sitzen können. Wie an anderen Schulen auch, sind viele Klassenräume am GSG funktional eingerichtet. Das wollten wir ändern.“ Mit Erfolg: Das Klassenzimmer ist ein fröhlich-bunter Ort, es gibt eine Menge Entwicklungsmaterial, das in der freien Lernzeit, die zwei Mal pro Woche stattfindet, genutzt werden kann. Ein Beispiel dafür sind die Legosteine: Steckt man diese zusammen, ergeben sie die unregelmäßigen englischen Verben. Dass die Kinder daran mehr Spaß haben als an einer stupiden Leseliste, liegt auf der Hand. „Ein weiterer Baustein war, dass wir mit Unterstützung des Hausmeisters die Tafel an die breite Wandseite des Raums montiert haben und daraufhin durch eine neue Sitzordnung die Distanz zur Tafel verringern konnten. Wir setzen zudem verstärkt auf neue Medien wie das Whiteboard, damit erreichen wir die Kinder gut. Außerdem haben wir die „Sonnenblume“ angeschafft: Dabei handelt es sich um 13 kleine, sehr leichte Lederhocker, die zusammenstellt eine Sonnenblume ergeben. Die Schüler*innen können diese mit auf den Flur oder in den zweiten Klassenraum nehmen und sich dort eine flexible Lernecke einrichten. Und natürlich gibt es auch einige reizarme Bereiche im Klassenraum, in die sich Schüler*innen zurückziehen können, wenn es ihnen zu viel wird. Bei allem zählt: Man muss sich einfach trauen und auch Wege beschreiten, die man noch nicht kennt.“
Bindung zu den Kindern steht für die Lehrkräfte an erster Stelle
Das Beispiel der 7 b zeigt, wie Gemeinsames Lernen gelingen kann. Doch natürlich gibt es auch Dinge, die mal nicht so laufen: „Es gibt Unterrichtsstunden, in denen einfach gar nichts geht – beispielsweise, wenn es einen großen Konflikt gibt. Bevor es dann weitergehen kann, müssen wir das erst mal klären.“ Für Jeanette Mayer-Lazarek und David Reifenrath liegt die größte Herausforderung jedoch in der engen Bindung zu den Kindern: „Wir investieren viel und da ist die menschliche Bindung, die weit über das Lernen hinausgeht, nicht zu unterschätzen. Wir sind einfach sehr nah dran. Bei den Inklusionskindern sind wir in ständigem Kontakt zu den Eltern. Das macht es nicht immer einfach, um 16 Uhr nach Hause zu gehen und in den eigenen Alltag zu switchen. Es kann auch mal sein, dass man nach Konfliktsituationen abends die Eltern noch anruft und nachfragt, ob alles in Ordnung ist.“ Für beide ist es deshalb unvorstellbar, die Klassenleitung allein zu führen: „Wir telefonieren oft nach Unterrichtsschluss, sprechen über Situationen oder bereiten eben zusammen vor. Keiner kennt die Klasse so gut wie wir, deshalb ist dieser Austausch unglaublich wertvoll und unerlässlich für uns. Auch die Unterstützung durch die Sonderpädagog*innen ist wichtig für uns, wir haben ja ,nur‘ auf Gymnasiallehramt studiert und keine sonderpädagogische Ausbildung. Zudem gibt es an der Schule auch ein Beratungsteam aus Sonder- und Sozialpädagog*innen, die man beispielsweise auch für Elterngespräche heranziehen kann.“
Mut und neue Wege führen am GSG zu gelingender Inklusion
Auf die Frage, was das entscheidende Kriterium für gelingende Inklusion ist, antwortet Jeanette Mayer-Lazarek: „Dass sich die Lehrer*innen trauen, auch ungewöhnliche und noch nicht betretene Wege zu gehen – das ist in meinen Augen der Schlüssel. Außerdem ist es entscheidend, im Team zusammenzuarbeiten. Ich habe oft Stunden, die nicht funktionieren, dann muss ich es eben nächstes Mal anders machen. Wichtig ist es, die Kinder als Kinder zu betrachten, dann kann man mit Mut und viel Einsatz ganz viel erreichen.“
Denise Heidenreich
freie Journalistin
Fotos: A. Etges
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