Zweiter Bildungsweg: Schulsozialarbeit fördert Inklusion
Was ist schon typisch?
Heterogener können Lerngruppen kaum sein: Studierende mit komplizierten (Bildungs-)Biografien, mit Zuwanderungsgeschichte, körperlichen Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen lernen im Zweiten Bildungsweg gemeinsam. Inklusion und Integration gehören hier deshalb schon lange zu den täglichen Herausforderungen. Jörg Kramp ist Schulsozialarbeiter am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe
in Gelsenkirchen. Im Gespräch mit der nds erzählt er, mit welchen Angeboten die Schulsozialarbeit Lehrer*innen und Studierende unterstützt.
nds: Welchen Begriff von Inklusion vertreten Sie? Was bedeutet „gelebte Inklusion“ für Sie?
Jörg Kramp: Für mich steht Inklusion dafür, alle Menschen einzugliedern und mitnehmen, für Gemeinsamkeit, Achtsamkeit, Empathie und Respekt. Inklusion richtet sich an alle Menschen,
die am Bildungsprozess teilhaben möchten und dies bislang nicht konnten oder ihre Ziele bislang nicht erreicht haben – aus welchen Gründen auch immer.
Als Schulsozialarbeiter hole ich Menschen da ab, wo sie stehen. Ich arbeite mit dem, was mein Gegenüber mitbringt. Dabei ist es nicht von Belang, ob eine körperliche oder psychische Beeinträchtigung vorliegt, ob es sprachliche Barrieren gibt oder ob mein*e Interaktions-
partner*in Defizite in sozialen Kompetenzen aufweist. Für mich bedeutet das, alle, die es möchten, in die Schulgemeinschaft oder auch in die Lebenswelt außerhalb der Schule zu integrieren, auf ihre Eigenheiten einzugehen und zu unterstützen, wo ich kann. Dabei muss die Unterstützung an den Möglichkeiten und Bedürfnissen des einzelnen Menschen ausgerichtet sein, ganz individuell.
Welche Rolle spielt Inklusion grundsätzlich in der Erwachsenenbildung?
Die Erwachsenenbildung beziehungsweise der Zweite Bildungsweg trägt schon lange dazu bei, dass Studierende ihren gewünschten Schulabschluss nachholen können, wenn sie das auf dem Ersten Bildungsweg aufgrund von allerlei Problemen, Schwierigkeiten oder Hindernissen nicht geschafft haben. In den letzten Jahren waren es zunehmend Studierende mit psychischen Problemen, die auf dem Ersten
Bildungsweg gescheitert sind, aber in der Erwachsenenbildung mit ihren speziellen Förderstrukturen die Möglichkeit bekommen, den gewünschten Abschluss doch noch zu erreichen.
Wie wird Inklusion am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe konkret gelebt?
Wie schon eingangs erwähnt, holen wir jeden da ab, wo er oder sie steht und unterstützen durch individuelle Beratung und Förderung. Natürlich gibt es bestimmte Voraussetzungen, die zunächst erfüllt sein müssen: In Fällen körperlich behinderter Menschen muss man zum Beispiel im Einzelfall sehen, wie passende Rahmenbedingungen geschaffen werden können, damit einer Aufnahme nichts mehr im Wege steht.Unsere Schule kann aktuell nicht damit rechnen, vollständig behindertengerecht umgebaut zu werden. Selbst kleinere Maßnahmen in dieser Hinsicht sind zurzeit nicht realisierbar. Deshalb sorgen wir dafür, dass eine im Rollstuhl sitzende Studierende nur Unterricht in barrierefreien Räumen hat oder in Räumen, die mit einer Rampe zu erreichen sind. Diese Bedingung für einen gelingenden Schulbesuch muss natürlich bei der Stundenplanerstellung berücksichtigt werden, stellt aber ein zu lösendes Problem dar.
Bei Studierenden mit psychischen Erkrankungen werden in Absprache mit den Betroffenen auch schon mal die Klasse und das Kollegium über das Krankheitsbild und die damit verbundenen Symptome informiert. Das sensibilisiert Mitstudierende und Lehrer*innen und beugt Missverständnissen vor.
Einen wichtigen Beitrag zu Inklusion und Integration leistet außerdem das Blended Learning als Lern- und Unterrichtsform. Zum einen ist es fester Bestandteil des Bildungsgangs abitur-online.nrw. Zum anderen hilft es Studierenden dabei, versäumten Unterrichtsstoff selbstständig nachzuarbeiten, indem die Informationen und Unterrichtsinhalte jederzeit online zur Verfügung stehen. So können Studierende, die beispielsweise wegen einer depressiven Phase ausfallen, den Unterrichtsstoff selbstständig nacharbeiten und somit das Lernziel weiterhin erreichen. Auch das trägt zu gelingender Integration in den Schulalltag bei.
Welche Maßnahmen und Konzepte gibt es?
An unserer Schule gibt es ein Förder- und Integrationskonzept, das zum Beispiel mit Lernwerkstätten zielgenau und wirksam die individuellen Förderbedarfe unserer Studierenden aufgreift und sie im Schullalltag unterstützt. Außerdem bieten wir Türkisch als zweite Fremdsprache an und setzen damit ein deutliches Zeichen für die Förderung und Inklusion von Menschen aus sogenannten bildungsfernen türkischstämmigen Schichten. Darüber hinaus bringen wir durch individuelle Förderung und Blended Learning unsere sehr heterogenen Lerngruppen auf ein gemeinsames Niveau.
Zusätzlich gibt es bei uns ein Beratungskonzept. Es enthält neben der Einstufungs- und Laufbahnberatung, die von der Schulleitung durchgeführt wird, die pädagogische und systemische Fallberatung sowie die sozialpädagogische Beratung. Für unsere Studien- und Berufsberatung kooperieren wir mit diversen Hochschulen, aber auch mit Arbeitgeber*innen und der Bundesagentur für Arbeit. Wir unterstützen Studierende so dabei, sich für bestimmte Zukunftswege zu entscheiden und führen zum Beispiel auch im bildungsfernen Milieu aufgewachsene Studierende an ein Studium heran – ein Thema, mit dem viele von ihnen sich sonst vielleicht nie beschäftigen würden.
Wie kann Schulsozialarbeit Inklusion fördern und unterstützen?
Persönliche und familiäre Krisensituationen, Delinquenz, Krankheit, Sucht oder Verschuldung verhindern oft den Erfolg im Ersten Bildungsweg. Wenn Menschen mit solchen persönlichen Hintergründen einen Neustart anstreben, kommt die Schulsozialarbeit ins Spiel: Sie hilft umfassend in allen sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen, denn diese sind ja nicht plötzlich verschwunden. Sie bietet die Möglichkeit der Beratung und der gemeinsamen Lösungssuche, vermittelt bei Bedarf an weitere professionelle Beteiligte oder Institutionen. Noten und Leistungsdruck spielen für die Schulsozialarbeit keine Rolle. Es gilt, eine Problemlage zu erkennen und den Studierenden zu helfen, das Problem zu benennen und zu bearbeiten, das vielleicht ihren Schulerfolg gefährdet, damit sie sich besser auf den Schulbesuch konzentrieren können.
Die Schulsozialarbeit vermittelt darüber hinaus zwischen Lehrenden und Lernenden: Wenn etwa Lehrer*innen bestimmte Verhaltensweisen von Studierenden nicht verstehen können und sie als Desinteresse oder Unlust beurteilen, spricht die Schulsozialarbeit den individuellen Förderbedarf mit den Lehrer*innen ab. Das erleichtert den Schulalltag für alle.
Weil Schulsozialarbeiter*innen der Schweigepflicht unterliegen, können Studierende bei ihnen Themen ansprechen, ohne sofort Konsequenzen befürchten zu müssen. Die Möglichkeit, mit einer neutralen, nicht wertenden Person zu sprechen, kann helfen, Probleme und Schwierigkeiten zu verringern oder zu lösen.Schulsozialarbeiter*innen am Weiterbildungskolleg leisten Hilfe zur Selbsthilfe, das heißt: Sie ermutigen und unterstützen die Studierenden, selbstständig Ziele zu formulieren und diese schrittweise ohne fremde Hilfe zu erreichen.Insbesondere die Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden wird in den Blick genommen. Mit den Methoden lebensweltorientierter sozialer Arbeit werden die Studierenden ganzheitlich gefördert. Für einen erfolgreichen Übergang von der Schule in den Beruf und die weitere Lebensplanung werden die Studierenden bestärkt, realistische Perspektiven zu erarbeiten.
Welches sind typische Fälle, die vom inklusiven Ansatz des Weiterbildungskollegs Emscher-Lippe profitieren?
Was ist schon typisch? Seit einigen Jahren gibt es bei uns immer mehr Studierende mit diagnostizierten psychischen Erkrankungen, die häufig dem Schulerfolg im Ersten Bildungsweg im Wege standen. Dazu gehören zum Beispiel Depressionen, Sozialphobien, Dissoziationen, Essstörungen, Autismus oder Schizophrenien. Diese Studierenden profitieren doppelt von der Schulsozialarbeit: Mit Gesprächen und Netzwerkarbeit können wir gute Hilfestellung geben und gemeinsam Lösungen für persönliche Problemlagen erarbeiten. Gleichzeitig halten wir im Schulalltag die nötige Unterstützung für erfolgreiches Lernen bereit, etwa durch Blended Learning.
Auch Studierende mit körperlichen Beeinträchtigungen können bei uns mit einer auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Planung rechnen, etwa bei der Vergabe der Unterrichtsräume oder der Nutzung der Behindertentoilette.
Wie verändert Schulsozialarbeit die Arbeit der Lehrer*innen?
Durch die enge Vernetzung mit externen Institutionen und Behörden bietet die Schulsozialarbeit Studierenden und Lehrkräften dauerhaft und verbindlich eine professionelle Begleitung im Hilfeprozess. Die Schulsozialarbeit ergänzt und bereichert mit sozialpädagogischen Angeboten die Arbeit der Lehrkräfte und ist bei Bedarf unterstützende Ansprechpartnerin in Problemsituationen. Hier hilft es, dass Schulsozial-arbeiter*innen häufig die Hintergründe von Fehlzeiten und Verhalten kennen.
Lehrkräfte können Beratungssituationen mit der Schulsozialarbeit absprechen und vorbereiten, die Beratung gemeinsam mit ihr durchführen oder ganz an die Schulsozialarbeit übergeben, um sich selbst wieder voll auf das Unterrichten zu konzentrieren. Die Beratungstätigkeit der Lehrer*innen wird damit aber nicht obsolet: Sie bleiben weiterhin Ansprechpartner*innen für Studierende. Was sich ändert, ist die professionelle Hilfe im Hintergrund.
Die Fragen für die nds stellte Florian Beer.
Fotos: iStock.com / yipengge; privat; Funkenschlag, pixelklex / photocase.de
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