Selbst kennenlernen, was junge MuslimInnen prägt

Im Gespräch mit Dr. Klaus Spenlen

Der Islam gehört zu unserer Gesellschaft – und selbstverständlich begegnet
er PädagogInnen in Schule, Aus- und Weiterbildung täglich. Wie können sie zu Gleichstellung und Integration beitragen und junge MuslimInnen gegen die Einflüsse von Fundamentalismus, Terrorismus und religiös begründeter Gewalt stärken? Die nds sprach mit Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Dr. Klaus Spenlen über den Umgang mit Islam und Islamismus im Bildungssektor.

nds: Warum sind Schule, Aus- und Weiterbildung so wichtige Orte für die Integration?
Klaus Spenlen: In NRW gibt es ungefähr 230 Religionsgemeinschaften und die letzte Schulstatistik weist 191 Staatsangehörigkeiten auf. Dadurch allein wird schon deutlich, dass Schule, Aus- und Weiterbildung die zentralen Integrationsorte sind, zumal die zwei wichtigen anderen – der Arbeitsmarkt und der Sozialraum –
in dieser Funktion weitgehend weggebrochen sind. Hinzu kommt, dass sich in einigen Milieus in Deutschland ein Abschmelzen konfessioneller Bindungen abzeichnet, das in vielen Familien zu einem Verzicht auf religiöse Sozialisation führt. Damit verbunden ist eine Verringerung religiöser Prägekraft für Lebensstile. Die Folge ist, dass sich zunehmend mehr Kinder ihre Religiosität außerhalb der Schule selbst „konstruieren“. Dass dies problematisch sein kann, zeigen Jugendstudien. Sozialisation scheint in muslimischen Familien anders zu verlaufen: Religiöse Eltern geben ihr tradiertes Wissen und ihre religiösen Prinzipien an ihre Kinder weiter. Solche unterschiedlichen Erfahrungen zu synthetisieren, ist Aufgabe der Bildungseinrichtungen.


Welche Einflüsse haben Fundamentalismus, Terrorismus und religiös begründete Gewalt auf junge MuslimInnen?
Die Landesregierung beziffert die Zahl der Neo-SalafistInnen in NRW auf über 2.500, mehr als 500 gelten als gewaltbereit. Neo-SalafistInnen sind hier wie bundesweit die am schnellsten wachsende extremistische Bewegung. Hochburgen in NRW sind Aachen, Bonn, Düsseldorf, das Bergische Land und das Ruhrgebiet. Die Motive für die Sympathie mancher junger Menschen mit dem Islamismus sind vielfältig: Einige erfahren durch Neo-SalafistInnen Hilfe in persönlichen Krisen, andere wollen Diskriminierungs- und Versagenserfahrungen überwinden oder einen Beitrag für eine gerechtere Welt leisten. Wieder andere haben religiöse Motive: Sie wollen Gottes Prüfung durch Leid ertragen und überwinden, sich Wissen über den Islam aneignen oder sie erliegen Jenseitsversprechungen. Von einigen ist bekannt, dass islamistische da'wa-AktivistInnen – hier handelt es sich um MissionarInnen – die Wünsche junger Menschen nach Orientierung in einer pluralen Gesellschaft sowie nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen bei ihrer Sinnsuche erfüllen und ihnen ein widerspruchsfreies Werte- und Weltbild vermitteln. Hier erleben die Jugendlichen vielleicht zum ersten Mal eine Hierarchie und damit verbunden ihre individuelle Entlastung. Junge Männer können an einer Männlichkeitskultur teilhaben und wieder andere mögen es genießen, Teil einer Subkultur mit Bedrohungspotenzial zu sein oder sich als Opfer im Integrationsprozess oder im Bedrohensdiskurs zu fühlen.
Da diese Motive den Neo-SalafistInnen bekannt sind, verfolgen sie entsprechende Strategien in Jugendtreffs, in Moscheen, auf Straßen und Schulhöfen, denen manche Schüler und zunehmend auch Schülerinnen erliegen. Zudem verstärken sie pseudoreligiös motiviertes Mobbing und organisieren salafistische Gebetsflashmobs. SchülerInnen, die sich scheuen dabei mitzumachen, werden drangsaliert. HandlangerInnen und UnterstützerInnen sind dabei willfährige MitschülerInnen. Ziele sind ohne Ausnahme alle Schulformen.


Sind PädagogInnen ausreichend auf den Umgang mit Islam und Islamismus in Deutschland vorbereitet?
Wer sich für die letzten Jahre – zum Teil schulformabhängig – Aufgaben ansieht, die Resultat aktueller gesellschaftlicher Diskussionen sind, weiß, dass viele PädagogInnen von Alltagsarbeit „aufgefressen“ werden. Da bleibt oftmals keine Zeit, sich in ein neues Thema einzuarbeiten, so brennend dies auch sein mag. Und die Stichwörter, nach denen Sie fragen, bedürfen einer sehr gründlichen und grundsätzlichen Erarbeitung. Der Fortbildungsdruck dafür variiert zudem von Schule zu Schule. In wessen schulischem Umfeld Jugendliche zum Beispiel in den Dschihad gezogen sind, ist für diese Themen sensibilisiert und motiviert. Allein die Unterscheidung von Islam und Islamismus – geschweige denn deren je spezifische Ausprägungen – sind nicht mal eben an einem Nachmittag nachzulesen.
In Deutschland werden derzeit etwa 850.000 MuslimInnen in Schulen unterrichtet, in NRW etwa 370.000. In diese Zahlen sind die Geflüchteten nicht eingerechnet, von denen 34 Prozent bis 17 Jahre und weitere 25 Prozent bis 24 Jahre alt sind. Ein Gros dieser jungen, meist muslimischen Menschen wird in unseren Schulen, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen anlanden. Das ist gut, weil sie dort diejenigen Strukturen und
Werte des Zusammenlebens sowie gesellschaftliche Anforderungen erfahren, die eine Integration erleichtern. Gleichzeitig ist von PädagogInnen eine intensive Auseinandersetzung mit dem gefordert, was junge MuslimInnen prägt. Denn gerade in der Diaspora ist Religion ein identitätsstiftendes Moment; mithin besitzt der Glaube in der Fremde oft größere Bedeutung als im Herkunftsland. Wenn anfängliches gegenseitiges Fremdeln überwunden werden und in stabile Informationen übereinander einmünden soll, muss Lehrkräften die Möglichkeit systematischer Fort- und Weiterbildung eingeräumt und
dazu externe Expertise eingeholt werden. Ich persönlich erhalte im Jahr zig Anfragen nach Vorträgen und Workshops rund um die Themen  Islam und Migration, die ich nicht alle erfüllen kann. Es zeigt aber, dass PädagogInnen für sich Bedarf sehen.


Wie sehen pädagogische Aufgaben im täglichen Umgang mit MuslimInnen aus?
MuslimInnen gehören – wie Angehörige anderer Religionsgemeinschaften auch – den unterschiedlichsten religiösen Richtungen an, sprechen verschiedene Sprachen, haben unterschiedliche Bildungsniveaus, gehören unterschiedlichen sozialen Schichten an. Sie zeichnen sich wie alle Menschen durch multiple Existenzen aus. Sie sind Individuen, die nicht, gemäßigt oder streng religiös leben, die keine singulären Identitäten sind und die sich als Projektion für gesellschaftliche Zuordnungen oder die Konstruktion eines gesellschaftsfähigen, berechenbaren Subjekts nicht eignen. Mithin verkürzen Religionsmerkmale wie „Muslim“ die Vielfalt der Menschen islamischen Glaubens in unzulässiger Weise. Zudem gewinnt mit Angriffen auf einen Teil ihrer Identität – in diesem Fall auf den religiösen – dieser Teil eine übermächtige Bedeutung und kann für manche MuslimInnen, selbst für liberale, so wichtig werden, dass er unter allen Umständen verteidigt werden muss. Auch die durch Lebenswelten, Wertorientierung und sozialeLage geprägten Lebensauffassungen von MuslimInnen in Deutschland sind nicht eindimensional auf das Religionsmerkmal zurückzuführen, sie sind also auch unter diesen Aspekten nicht als homogene Gruppe zu begreifen. Religion, Herkunft und Zuwanderungsgeschichte beeinflussen zwar ihren Alltag, sind aber letztlich nicht als solitäre identitätsprägende Faktoren zu verstehen, deren Bedeutung allein Integration unterstützt oder verhindert.  
Gleichwohl können mangelhafter sprachlich-sozialer Austausch mit anderen Milieus – etwa mit nicht muslimischen und deutschsprachigen – oder ein überwiegend nicht deutscher Medienkonsum dazu führen, dass „das Eigene“ zunehmend in Abgrenzung zum „Fremden“ gerät und Gemeinsamkeiten eher ausgeblendet werden. Mit dieser Kurzbeschreibung sind die wichtigsten Aufgaben von Schulen im täglichen Leben mit MuslimInnen bereits benannt: Sie müssen eindimensionale Wahrnehmungen aufbrechen und den Austausch unterstützen.  


Haben Schule, Aus- und Weiterbildung überhaupt Möglichkeiten, präventiv gegen Radikalisierung zu wirken?  
Pädagogischen Absichten müssen erfolgreiche Strategien folgen und diese sollten zwischen PädagogInnen kommuniziert werden. Aus anderen Erfahrungsbereichen wissen wir: Eine Methode, um junge Menschen etwa vor Suchtgefährdung oder Missbrauch zu schützen, ist, sie stark zu machen: sich zu verweigern, widersprüchliche Wahrnehmungen auszuhalten, eigene Entscheidungen zu treffen und für sich das Recht in Anspruch zu nehmen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich nicht verführen zu lassen.
Das zeigt: Bewahrungspädagogik ist als Strategie gegen islamistische VerführerInnen ungeeignet. Erfolgreich erscheint vielmehr, Risikokompetenz als Schlüssel für gelingende Lebensführung zu vermitteln. Was Jugendliche brauchen, ist die Fähigkeit, Risiken oder Gefahren als solche zu erkennen und abzuwägen, ob sie es wert sind, sich darauf einzulassen, und sie schließlich zu bewältigen. Es empfiehlt sich, dass PädagogInnen die Medienpräsenz von Neo-SalafistInnen selbst kennenlernen, dass sie Medien von und über Neo-SalafistInnen selbst analysieren. Sie sollten sich zum Beispiel selbst einmal bei YouTube umschauen. Daraus folgt als pädagogische Aufgabe, Jugendliche in Medienanalyse, Medienkonsum und Medienverantwortung zu qualifizieren und ihnen immer wieder den Unterschied zwischen realer und virtueller Welt vor Augen zu führen, kurz: ihre Medienkompetenz in Inhalts- und Moralfragen zu stärken. Außerdem müssen die pseudo-religiösen Behauptungen von Neo-SalafistInnen hinterfragt werden, etwa ihr Gewalt- und
Geschlechterverständnis.


Neuerdings sorgt die Burka auch im Bildungssektor für Zündstoff: Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat kürzlich entschieden, dass eine muslimische Frau nicht mit Gesichtsschleier am Unterricht eines Abendgymnasiums teilnehmen darf. Wie beurteilen Sie die Entscheidung?
Diese Frage spiegelt eher Wahlkampf als Unterrichtsalltag wider. Dennoch gilt auch  unabhängig von diesem Urteil: Burka und Niqab verhindern offene Kommunikation, die im Bildungsbereich unverzichtbar ist. Sie stehen deshalb im Widerspruch zu Bildungszielen. Für ein Verbot spricht auch die Wahrscheinlichkeit von „Burka-bashing“ auf allen Ebenen, das sich der Intervention von PädagogInnen weitgehend entzieht. Sollten Bildungseinrichtungen für eine vollverschleierte Schülerin die einzige Bildungsoption sein, sollten die Schülerin, gegebenenfalls auch ihre Eltern, die Schule sowie ein Imam, der gegenseitiges Vertrauen besitzt, eine Lösung im Sinne praktischer Konkordanz suchen.

Die Fragen stellte Anja Heifel.

Foto: Mila Supynska / fotolia.com

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