Wie geht‘s, Sekundarschule?

Sechs Jahre Sekundarschule in NRW

116 Schüler*innen stellen sich zum letzten gemeinsamen Foto auf. Es ist der Tag der Zeugnisvergabe an meiner Schule. Sechs Jahre zuvor waren landesweit die ersten Sekundarschulen gegründet worden – auch meine. Ich gehörte selbst zum Gründungskollegium, habe als Gewerkschafter und Personalrat auch andere Sekundarschulen erlebt. Wie geht es der noch jungen integrierten Schulform heute?

Zu Beginn des Schuljahres 2017/2018 gab es in Nordrhein-Westfalen 113 Sekundarschulen, an denen 57.877 Schüler*innen – davon 4.232 mit sonderpädagogischem Förderbedarf – von 5.288 Kolleg*innen unterrichtet wurden. Die Sekundarschule wurde mit dem Ziel gegründet, das Angebot der Sekundarstufe I als integrierte Schulform zu ergänzen. Das stellte die Schullandschaft in NRW ziemlich auf den Kopf und rief bei allen Beteiligten eine Menge Fragezeichen hervor. In vielen Orten wurde das dreigliedrige System der Sekundarstufe I – bestehend aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium – nicht aufrechterhalten. Hier ergänzt die Sekundarschule nicht ein bestehendes System, sondern ist häufig die letzte verbliebene Schule (ohne Oberstufe) am Ort. Haupt- und Realschulen wurden geschlossen und Sekundarschulen entstanden.

Kampf gegen sinkende Anmeldezahlen und Lehrkräftemangel

Die Schulform soll ein attraktives, umfassendes und wohnortnahes Angebot gewährleisten, mindestens dreizügig sein und ist als Ganztagsschule angelegt. Die Wohnortnähe wird dann problematisch, wenn die Anmeldezahlen zu niedrig sind – bei vielen Sekundarschulen sind sie leider rückläufig. Schon seit einiger Zeit beschäftigt sich die Politik mit diesem Thema. Ihre Lösung: Sekundarschulen dürfen inzwischen auch zweizügig fortgeführt werden. Eltern, Lehrer*innen und Gemeinden im ländlichen Raum soll dadurch Planungssicherheit gegeben werden.
Eine weitere Maßnahme, um sinkenden Schüler*innenzahlen vor Ort zu begegnen, sind Teilstandorte: 20 Prozent der Sekundarschulen werden derzeit mit mehreren Teilstandorten geführt und weitere Zusammenlegungen sind geplant. Teilstandorte führen leider zu erheblichem Mehraufwand bei allen Beteiligten. Trotzdem wurde § 83 Schulgesetz bislang nicht geändert: „Durch die Bildung von Teilstandorten darf kein zusätzlicher Lehrerstellenbedarf entstehen.“ Angesichts der nachweislichen Mehrbelastung ist das blanker Hohn für die betroffenen Kollegien.
Auch die Aufrechterhaltung des Ganztags stellt einige Schulen in Zeiten des Lehrkräfte-mangels vor große Probleme. Mehrarbeit für die Kolleg*innen, Zusammenlegung von Lerngruppen oder andere „kreative Lösungen“ sind die Folge. Unterrichtsausfall soll in jedem Fall vermieden werden.

Abenteuerlicher Neuanfang – auch für erfahrene Lehrer*innen

Sekundarschulen waren in integrierter, teilintegrierter oder kooperativer Form mit mindestens zwei Bildungsgängen geplant. Die kooperative Form gibt es kaum, bevorzugt wurden im Schuljahr 2016 / 2017 die integrierte Form mit 20,5 Prozent und mit 78,5 Prozent die teilintegrierte Variante, die mit ihrer äußeren Differenzierung der Gesamtschule am nächsten kommt. Aber auch hier gibt es teilweise höchst abenteuerliche Modelle, die dem Personalmangel in einigen Fächern und den komplexen Anforderungen  der Stundenplangestaltung geschuldet sind.
Die Stundenplangestaltung an einer teilintegrierten Sekundarschule mit mehreren Standorten ist für viele Schulleitungen eine Herkulesaufgabe, da die meisten von ihnen aus kleineren, nicht integrativen Systemen kommen und nur selten über Gesamtschulerfahrung verfügen. Das trifft ebenfalls auf den Großteil der Kolleg*innen zu: Auch für erfahrene Lehrer*innen ist die Sekundarschule oftmals eine Art Neuanfang, der mit vielen Ängsten und Verunsicherung verbunden sein kann.

Schüler*innen und ihre Anschlussperspektiven stehen im Mittelpunkt

Integrative Schulformen verstehen sich als Schulen für alle Schüler*innen. Sie tragen den unterschiedlichsten Lebens- und Berufsperspektiven Rechnung und bereiten ihre Schüler*innen sowohl auf eine berufliche Ausbildung als auch auf die Hochschulreife vor. Die geforderten gymnasialen Standards sind im Unterricht häufig nur für einen sehr kleinen Teil der Lerngruppen anwendbar. Der Unterricht an Sekundarschulen muss sehr stark differenziert sein, um den Anforderungen in der heterogenen Lerngruppe gerecht zu werden. Das erfordert von allen Kolleg*innen einen großen Einsatz in der Unterrichtsvorbereitung und -durchführung. Viele Lehrkräfte stoßen dabei an ihre Grenzen und haben das Gefühl, nicht allen Lernenden gerecht zu werden. Unzureichende personelle Ausstattung, fehlende sächliche Mittel und immer heterogenere Klassen lassen viele Kolleg*innen verzweifeln.
Dennoch gelingt oftmals eine extrem schüler*innenorientierte Arbeit und so schaffen viele Schüler*innen einen Abschluss, die woanders vielleicht keinen Platz fänden. Und auch für gute Wege nach dem Abschluss ist gesorgt: Lokale Betriebe arbeiten insbesondere in der Berufsorientierung eng mit den Schulen zusammen. Alle Sekundarschulen bieten mit ihren Kooperationsschulen einen geregelten Weg bis zum Abitur an, jedoch bevorzugen Eltern und Schüler*innen nicht selten andere Schulen.

Was ist geblieben vom anfänglichen Enthusiasmus?

Als die ersten Sekundarschulen 2012 gegründet wurden, starteten Lehrer*innen mit großem Enthusiasmus an ihren neuen Schulen. Ein niedrigeres Stundendeputat von 25,5 Stunden und die gute Relation von 16,27 Schüler*innen je Stelle waren vielversprechende Rahmenbedinungen. Ein junges Kollegium, keine festgefahrenen Hierarchien und viele neue Beförderungsmöglichkeiten – als Lehre-r*innen konnten wir Vorstellungen umsetzen und stießen Projekte an, die wir an anderen Schulen vielleicht nicht durchgeführt hätten. In den noch kleinen Kollegien herrschte regelrechte Aufbruchstimmung.
Leider ließ sich diese positive Grundstimmung nur selten aufrechterhalten, denn es gab zu keinem Zeitpunkt eine Ermäßigung für die Aufbauarbeit, die Schulleitungen und Kolleg*innen bis heute leisten und die auch nach Erreichen des zehnten Jahrgangs noch lange nicht abgeschlossen ist. Sie findet sehr häufig nach Unterrichtsende statt. Die neuen Schulen stehen unter enormem Wettbewerbsdruck und so reicht es nicht, dass eingeführte Projekte fortgeführt und nachhaltig etabliert werden – es muss immer wieder etwas Neues initiiert werden.

Wie attraktiv ist der Arbeitsplatz Sekundarschule?

Inklusion wurde an den neu gegründeten Schulen vom ersten Tag als Bestandteil der täglichen Arbeit verstanden, nur waren die Bedingungen leider zu keiner Zeit optimal. Die GEW fordert seit Jahren Nachbesserungen in allen Schulformen. Inklusion ist eine gemeinsame Aufgabe aller Schulformen. Trotzdem rücken politische Debatten verstärkt die integrativen Schulformen in den Fokus – übrigens auch, wenn es um die Beschulung geflüchteter Kinder und Jugendlicher geht. So bündeln sich an der Sekundarschule die Herausforderungen. Gepaart mit dem derzeitigen Lehrkräftemangel führt das dazu, dass Sekundarschulen bei der Jobsuche selten die erste Wahl sind. Viele ausgeschriebene Stellen können nicht besetzt werden.
Gerade in den Gründungsjahren wurden sehr viele Stellen mit Berufseinsteiger*innen besetzt, die ihre Probezeit ableisten. Weil Kolleg*innen in der Probezeit sich häufig nicht trauen, Probleme an ihrer Schule offensiv anzusprechen, herrscht in manchen Kollegien eine geringere Diskussionsbereitschaft. Umso wichtiger ist die Lehrerkonferenz! Sie bietet allen Kolleg*innen einen geschützten Raum, um Missstände anzusprechen, den Leidensdruck zu verringern und Versetzungsanträgen vorzubeugen.

Besseres Lernen und Arbeiten: Imagewechsel für die Sekundarschule

Nach sechs Jahren Sekundarschule herrscht in vielen Kommunen Ernüchterung. 15 Sekundarschulen haben zum Schuljahr 2017 / 2018 die Anmeldezahlen für eine Dreizügigkeit nicht erreicht und der Schulform haftet seit ihrem Start ein Imageproblem an: Im ländlichen Raum wird sie häufig als Restschule neben dem Gymnasium wahrgenommen. In der Stadt als Auffangbecken für die Übriggebliebenen, wenn Real- oder Gesamtschulen als Konkurrenz in der Nähe sind. „Sekundarschulen am Abgrund“, titelte der WDR im März 2018. Positive Außendarstellung sieht wahrlich anders aus.
Wie wird es weitergehen mit den Sekundarschulen? Umwandlungen in Gesamtschulen sind für einige eine drastische Möglichkeit, ihr Image mit einer Oberstufe aufzupolieren – sie beeinflusst die Schulwahl maßgeblich. Aber gerade die kleineren Schulen erfüllen selten die Mindestgröße für diesen Schritt.
Damit Eltern, Schüler*innen und Lehrkräfte sich für die Sekundarschule als Lern- und Arbeitsort entscheiden, müssen die Bedingungen an den Schulen verbessert und ein gesundes Arbeitsklima geschaffen werden. Die GEW NRW fordert deshalb unter anderem, dass die Belas-tung durch die Aufbauarbeit durch eine bessere Personalausstattung ausgeglichen wird, dass Kollegien an Teilstandorten stärker entlastet werden, dass die Lerngruppen verkleinert werden und das Personal zugleich aufgestockt wird. Die engagierten Kolleg*innen vor Ort bilden das Grundgerüst für eine funktionierende Schule. Sie geben alles, um ihre Schüler*innen zu den bestmöglichen Abschlüssen zu führen. Sie brauchen Unterstützung und verdienen es, dass ihre Anliegen ernst genommen werden. Wenn es uns gelingt, die Lern- und Arbeitsbedingungen an unseren Sekundarschulen zu verbessern, besteht Hoffnung. Dann können sich noch viele weitere erfolgreiche Abschlussjahrgänge an ihren Sekundarschulen zum letzten gemeinsamen Foto aufstellen.


Stephan Kosmahl
Lehrer an der Sekundarschule Anröchte / Erwitte, Mitglied im Leitungsteam der Fachgruppe Sekundarschule der GEW NRW

Fotos: iStock.com / Pakorn_Khantiyaporn, Tryaging

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