Die neue Formel zum inklusiven Schulglück?

Eckpunkte zur Inklusion in der Schule

Kurz vor der Sommerpause legte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer die „Eckpunkte zur Neuausrichtung der Inklusion in der Schule“ vor. Dieses Papier soll den Grundstein für eine spürbare Verbesserung der inklusiven Angebote an allgemeinbildenden Schulen legen. So formulierten es FDP und CDU in ihrem Koalitionsvertrag als Anspruch an sich selbst.

In erster Linie soll die schulische Inklusion spürbar verbessert werden durch eine Bündelung der Ressourcen und eine geänderte Schüler*innenzuweisung an die weiterführenden Schulen: Die Schulaufsicht legt mit dem Schulträger gemeinsam fest, welche Haupt-, Real-, Gesamt-, Gemeinschafts-, Sekundar- und Primusschulen Schwerpunktschulen für Gemeinsames Lernen werden sollen. Gymnasien sind zukünftig von der zieldifferenten Beschulung von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausgenommen, sie müssen nur noch zielgleich unterrichten.
An den Schwerpunktschulen sollen jährlich pro Eingangsklasse durchschnittlich drei Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgenommen werden. Für jede Eingangsklasse ist mittelfristig eine halbe zusätzliche Stelle geplant, im Idealfall für eine Lehrer*in für sonderpädagogische Förderung, aber auch für Lehrkräfte mit einem anderen Lehramt. Die Klassengröße an den Schulen des Gemeinsamen Lernens wird schrittweise auf 25 Schüler*innen abgesenkt mit der Formel 25 – 3 – 1,5: 25 Schüler*innen, davon 3 Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf mit 1,5 Lehrer*innenstellen pro Klasse.
Eine qualitative Verbesserung der inklusiven Angebote an den Schwerpunktschulen soll durch erfüllte Qualitätsstandards gewährleistet sein:

  • Schwerpunktschulen müssen ein pädagogisches Konzept zur inklusiven Bildung haben oder entwickeln.
  • Sonderpädagog*innen müssen an den Schwerpunktschulen unterrichten.
  • Kollegien der Schwerpunktschulen sollen systemisch fortgebildet sein oder werden.
  • Geeignete Räumlichkeiten muss es an den Schulen geben, die Gemeinsames Lernen ermöglichen.

Um den Eltern von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ein wohnortnahes Förderschulangebot anbieten zu können, hat Schulministerin Yvonne Gebauer die Mindestgröße für Förderschulen gesenkt, sodass mehr Förderschulen erhalten bleiben. Erstmals soll es auch Förderschulgruppen an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen geben, in denen Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf getrennt unterrichtet werden.

Bessere Unterstützung der Schulen?

Ab dem Schuljahr 2019 / 2020 dürfen von der fünften Klasse an nur noch Schwerpunktschulen inklusiven Unterricht anbieten. Im Durchschnitt sollen je drei Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf pro Eingangsklasse aufgenommen werden. Eine Erhebung des Schulministeriums zeigt, dass 1.024 weiterführende Schulen zuletzt weniger Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgenommen hatten. Nach den neuen Regeln fallen sie damit aus dem System. Das heißt aber nicht, dass sie mit im Durchschnitt weniger Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf pro Klasse nicht auch Gemeinsames Lernen betreiben und weiterhin entsprechende Unterstützung bekommen müssen. Die Schüler*innen mit Förderbedarf an Nicht-Schwerpunktschulen dürfen auch in Zukunft an ihren alten Schulen bleiben. Wie ihre Förderung und die Unterstützung der Schulen ablaufen sollen, ist bisher vollkommen unklar. Hier muss es schnell eindeutige Regelungen geben.
Das kommende Schuljahr 2018 / 2019 soll ein Übergangsschuljahr werden. Dennoch findet bereits jetzt die Schüler*innenzuweisung nach den neuen Regeln statt. Die zukünftigen Schwerpunktschulen nehmen bereits Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf auf, die Personalausstattung wird aber erst ab dem Schuljahr 2019 / 2020 angepasst. Das Übergangsjahr soll dazu dienen, die Neuausrichtung der Inklusion im Dialog mit allen Beteiligten sorgfältig vorzubereiten. Wie soll sorgfältig vorbereitet werden, was schon an den Schulen stattfindet und praktiziert wird? Wie werden die Schwerpunktschulen im nächsten Schuljahr unterstützt? Dazu findet sich in den Eckpunkten keine Antwort. Die Schulen werden mit ihrer Aufgabe allein gelassen.
Eine echte Unterstützung der Schulen bei der qualitativen Verbesserung ihrer inklusiven Angebote ist über die Ressourcenbündelung hinaus nicht erkennbar. In Bezug auf die pädagogische Qualität hält das Schulministerium sich zurück: Weder wird deutlich, wie die Schwerpunktschulen bei der Erarbeitung eines pädagogischen Konzepts zur inklusiven Bildung unterstützt werden, noch sind in den Eckpunkten Aussagen darüber getroffen, welche Möglichkeiten zur systemischen Fortbildung über das bisherige Angebot hinaus an die Kollegien herangetragen werden sollen. Gerade das Fortbildungsangebot wurde in der Vergangenheit von Kolleg*innen immer wieder stark kritisiert, auch die Zeitressourcen für Fortbildungen fehlen bislang.

Weiterentwicklung des Gemeinsamen Lernens in NRW durch die Eckpunkte

Die Eckpunkte zur Neuausrichtung der Inklusion machen deutlich, dass der politische Wille zur Weiterentwicklung des Gemeinsamen Lernens fehlt. Das zeigt sich in vielen Facetten des vorgelegten Papiers: Das Schulministerium setzt vor allem auf die Bündelung von Ressourcen und Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an einigen Schulen. Dieses Vorgehen hatte schon der Fachbeirat für schulische Inklusion empfohlen, um dadurch eine größere Verlässlichkeit bei der personellen und sächlichen Ausstattung zu erreichen. Die Bündelung von Ressourcen und Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf an einigen wenigen Schulen kann allerdings nur eine Übergangslösung auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem sein. Eine Perspektive, wie es in Zukunft mit der schulischen Inklusion in NRW weitergehen soll, ist in den Eckpunkten nicht formuliert.
Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert von den politisch Verantwortlichen, ein im umfassenden Sinne inklusives Bildungssystem zu schaffen. Diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe geht alle Schulstufen und -formen an. Mehr als 40 Prozent der Schüler*innen in NRW wechseln nach der Grundschule auf das Gymnasium. Gymnasien müssen gleichberechtigt zielgleich und zieldifferent zu fördernde Kinder aufnehmen. Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht nur von den integrierten Schulformen und den Haupt- und Realschulen getragen werden kann. Die Entscheidung, kleine Förderschulen mit dem Argument des wohnortnahen Förderangebots am Leben zu erhalten, ist zugleich eine Entscheidung zu Ungunsten der Inklusion.
Mit dem Absenken der Mindestgröße von Förderschulen werden Sonderpädagog*innen dort gebunden, die im Gemeinsamen Lernen fehlen. Ein inklusives Schulsystem von hoher pädagogischer Qualität kann auf Grundlage der vorgelegten Eckpunkte nicht aufgebaut werden.


Frauke Rütter
Referentin für Bildungspolitik der GEW NRW

Fotos: go2 / photocase.de

 

Ressourcensteuerung

Wieviel darf Inklusion kosten?

Die „Eckpunkte zur Neuausrichtung der Inklusion in der Schule“, die das Ministeriums für Schule und Bildung (MSB) vor Kurzem veröffentlicht hat, geben Einblick in die Ressourcensteuerung: Wie kann qualitativ hochwertige Inklusion an den Schulen gesichert werden?
Das Versprechen von NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer im Oktober 2017 war vollmundig: „Künftig werden wir statt des Tempos die Qualität in den Mittelpunkt rücken und uns am individuellen Bedarf orientieren. (…) Wir werden jetzt den gesamten Prozess mit dem Ziel umsteuern, qualitativ hochwertige schulische Inklusion zu gewährleisten.“ Doch wie genau soll das funktionieren?
Für die Grundschulen verweist das MSB ausschließlich darauf, dass die Zahl der Stellen für sozialpädagogische Fachkräfte in der Schuleingangsphase mit dem Haushalt 2018 von derzeit 593 auf 1.193 erhöht wurde. Diese Stellen sollen ausdrücklich nicht die Stellen für grundständig ausgebildete Lehrkräfte ersetzen, sondern sind zusätzliche Stellen, mit denen die Arbeit in den Grundschulen unterstützt wird.
Über den Stellenbedarf nach der Schüler*innen-Lehrer*innen-Relation der Sekundarstufe I hinaus veranschlagt das Schulministerium in einer Modellrechnung, die seiner Haushaltsanmeldung für 2019 zugrunde liegt, im Endausbau zum Schuljahr 2024 / 2025 einen Stellenbedarf von 9.133 Stellen jährlich zur Unterstützung des Gemeinsamen Lernens in den weiterführenden Schulen.
Um einen gezielteren Einsatz der personellen Ressourcen zu erreichen, soll die Vorgabe gelten, dass eine weiterführende Schule, an der Gemeinsames Lernen zum Schuljahr 2019 / 2020 praktiziert wird, jährlich in der Regel im Durchschnitt ihrer Eingangsklassen drei Schüler*innen mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung aufnimmt. Das wird zu einer Reduzierung der Standorte führen, an denen Gemeinsames Lernen stattfindet. Mit den Haushaltsbeschlüssen der kommenden Jahre soll die Unterstützung für Schulen des Gemeinsamen Lernens in der Sekundarstufe l zu einem neuen Konzept entwickelt werden, bei dem das Ausmaß der personellen Unterstützung für die Beteiligten nachvollziehbar an die Aufnahmekapazitäten der Schulen in ihren Eingangsklassen gekoppelt ist. Mittelfristiges Ziel ist dabei, dass Schulen, die im Durchschnitt drei Schüler*innen mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in ihren Eingangsklassen aufnehmen, rechnerisch für jede dieser Klassen eine halbe zusätzliche Stelle erhalten – vornehmlich aus dem Bereich der Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung, aber auch Lehrer*innenstellen anderer Lehrämter sowie Stellen für multiprofessionelle Teams.
Zudem soll der Klassenfrequenzrichtwert an Schulen, an denen ab dem Schuljahr 2019 / 2020 Gemeinsames Lernen eingerichtet wird, schrittweise auf 25 Schüler*innen abgesenkt und somit die Schüler*innen-Lehrer*innen-Relation verbessert werden. Es gilt folglich die Formel 25 – 3 – 1,5.

Michael Schulte
Geschäftsführer der GEW NRW

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