Kinderarmut bekämpfen: Für gleiche Chancen von Anfang an

Essen: Kinderarmut in Kita und OGS

Kinderarmut ist in Essen ein bekanntes Thema: Die Stadt hat mit 32,7 Prozent nach Gelsenkirchen den höchsten Prozentsatz an armen Kindern in NRW. Anlässlich der kürzlich vom GEW-Stadtverband Essen initiierten Informations- und Diskussionsveranstaltung „Kinderarmut– Herausforderungen für Frühe Hilfen in Kindertageseinrichtung, Schule und OGS“ werfen wir einen Blick in zwei Einrichtungen der Ruhrgebietsstadt: Wie zeigt sich Kinderarmut im Alltag einer Kita und einer Offenen Ganztagsschule (OGS)?

„Jedes dritte Kind wächst in Essen in einer Hartz-IV-Familie auf und ist sozial benachteiligt. Das ist eine Situation, die wir engagiert angehen müssen“, sagt Barbara Sendlak-Brandt vom GEW-Stadtverband Essen. Die pensionierte Lehrerin hat sich des Themas angenommen und die Veranstaltung im Juni 2017 organisiert. „Für viele pädagogische Fachkräfte ist Kinderarmut ein drängendes Problem. Sie erleben täglich, welche Auswirkungen die Armut auf das Kinderleben hat.“ Ziel der Veranstaltung war es daher, ihnen ein Forum zu bieten, um über den Teufelskreis von Armut, sozialer, gesundheitlicher und bildungsbezogener Benachteiligung sowie die lokale Bildungsarbeit zu informieren und über geeignete Maßnahmen zur konkreten Hilfe zu diskutieren. Ingrid Krüger, Projektbeauftragte vom Jugendamt Essen, informierte über das Handlungsprogramm der Stadt Essen „Kinderarmut bekämpfen – Teilhabe ermöglichen“. Hiltrud Kleine-Eggebrecht, ärztliche Leitung des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes, berichtete zu den gesundheitlichen Aspekten von Kinderarmut. Doch wie sieht der Alltag in Einrichtungen eigentlich aus, in denen ein Großteil der Kinder unterhalb der Armutsgrenze lebt?

OGS Bodelschwinghschule: Helfen mit kleinen und großen Dingen

Eine der Erzieherinnen, die darüber berichtete, ist Andrea Rehm. Sie arbeitet in der OGS der Bodelschwinghschule in Essen-Altendorf – dort werden 227 Kinder aus 47 Nationen in acht Klassen unterrichtet. „Viele Kinder stammen aus armen Verhältnissen. Die Anzeichen sind für mich deutlich erkennbar: Sie kommen ohne Frühstück zur Schule oder tragen eine Schlafanzughose unter der Jeans. So etwas zeigt, dass die Kinder sich allein fertigmachen, während die Eltern noch schlafen – und es in den Familien nicht nur an Geld mangelt, sondern auch emotional-soziale Armut herrscht.“ Andrea Rehm und ihre Kolleg*innen versuchen dort zu unterstützen, wo es nötig ist: „Wir weisen auf finanzielle Hilfe durch das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) hin, füllen gemeinsam Formulare aus. Viele der Familien erhalten das BuT – leider werden trotzdem oft Zahlungen wie das Essensgeld nicht pünktlich geleistet“, erklärt sie. „Denn kommt noch ein Ausflug hinzu, wird es eng: Wie in dem Fall, als sich eine Familie entscheiden musste, ob ihr Kind am Klassen- oder am OGS-Ausflug teilnimmt. In solch einer Situation versuchen wir, eine Lösung zu finden.“ Darüber hinaus gibt es in der OGS viele kleine und große Dinge, die den Kindern helfen sollen: Den Kleiderfundus, in dem sich die Schüler*innen notfalls Mützen oder Wechselsachen nehmen können. Die Stoppersocken, die die Kinder für die Sport-AG ausleihen können. Das frische Obst, das im Rahmen des Schulobstprojekts zweimal wöchentlich geliefert und in der Pause und am Nachmittag angeboten wird.
Auf die Frage, was sich in ihren Augen verbessern müsste, antwortet Andrea Rehm: „Um individueller auf Probleme eingehen zu können, brauchen wir einen besseren Personalschüssel und mehr Budget, um Material zu kaufen. Ich wünsche mir, dass ich unsere Schüler*innen – die trotz allem fröhlich, offen und hilfsbereit sind – noch intensiver betreuen kann, damit sich die vorhandenen Ressourcen der Kinder positiv entfalten können.“

Kita St. Marien und Familienzentrum Leuchtturm: das Plus an Unterstützung

Ein wichtiger Baustein der Essener Handlungsstrategie gegen die Folgen von Kinderarmut – über den auch bei der GEW-Veranstaltung berichtet wurde – ist die „plusKita – der Essener Weg“. „Es herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass eine gute frühkindliche Bildung der Schlüssel für Bildungserfolg und Teilhabe ist. Genau an diesem Punkt setzt das Konzept an: plusKitas erhalten ein Förderpaket in Höhe von 25.000 ,- Euro für zusätzlichen Personaleinsatz“, erklärt Barbara Sendlak-Brandt.
Die Katholische Kindertageseinrichtung St. Marien im Essener Nordviertel ist eine dieser plusKitas: 44 Kita-Kinder aus 23 Nationen kommen hier täglich zusammen, 31 davon leben in einer Hartz-IV-Familie, sieben weitere stehen mit ihrer Familie an der Armutsgrenze. Auch hier steht keinem Kind die Armut ins Gesicht geschrieben. „Meist sind es kleine Anzeichen, wie zu kleine oder zu große Schuhe oder ein Winterpullover im Sommer. Wir erkennen es auch an der Ernährung oder an fehlenden sozialen Kontakten der Kinder. Oft ist die Armut aber erst durch viele vertrauensvolle Gespräche zu erkennen, da Kinder und Eltern vieles vertuschen“, berichtet Brigitte Mey, Leiterin der Kita. „Hinzu kommt, dass wir viele unterschiedliche Nationalitäten haben, mit denen wir uns – gerade in Erziehungsfragen – auseinandersetzen müssen. Das bringt uns teilweise schon an unsere Grenzen, lohnt sich aber im Nachhinein für alle Beteiligten.“
In seiner wertvollen Arbeit wird das Team seit 2013 durch eine kitaPlus-Fachkraft unterstützt. 19,5 Stunden wöchentlich arbeitet diese in den Bereichen Sprache und Bewegung – zusammenhängende Module, die als Einheit für die Kinder von großen Nutzen sind. „Wir haben den Fokus unserer Arbeit in Abstimmung mit Eltern, Kindern und Erzieherinnen auf die Bereiche Sprache, Bewegung und Ernährung gerichtet“, erklärt Brigitte Mey. „Gerade die gesunde Ernährung spielt eine entscheidende Rolle. Deshalb haben wir in unserem Garten viel Obst und Gemüse angebaut – um den Kindern zu zeigen, wie etwas wächst, aber auch was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Bewegung ist vor allem bei Kindern mit Migrationshintergrund wichtig, da sie aufgrund ihrer häuslichen Gegebenheiten ihren natürlichen Bewegungsdrang selten ausreichend befriedigen können. Und Sprache steht bei uns ganz oben an, denn die Kinder, die in unsere Kita kommen, sprechen kein Deutsch und ihre Eltern können ihnen auch nicht helfen.“
Wie in der OGS der Bodelschwinghschule spielt auch in der Kita St. Marien die Elternarbeit eine wichtige Rolle, erzählt die Kitaleiterin: „Alles, was wir mit den Kindern erarbeiten, wird auch mit den Eltern bearbeitet. So bieten wir zum Beispiel niederschwellige Deutschkurse an. Wichtig sind auch unsere Elternnachmittage, wo sich Eltern treffen und gegenseitig bestärken können.“
Für Brigitte Mey ist die Situation oft schwierig: „Hinter jeder Armut steckt ein großes menschliches Schicksal, das belastet mich oft sehr. Meistens ist es aber Wut, die ich fühle. Die bürokratischen Hürden bremsen mich oft in meiner Arbeit.“ Auf die Frage, was sie sich für „ihre“ Kinder und deren Familien wünscht, antwortet Brigitte Mey deshalb: „Vor allem weniger Bürokratie und ein Sozialticket auch für Schulkinder.“

Mit den richtigen Maßnahmen gegen Kinderarmut vorgehen

Das in den Praxisbeispielen beschriebene Bild spiegelte sich auch so in der GEW-Veranstaltung wieder: „Es gab viele positive und konstruktive Diskussionsbeiträge und auch große Bestätigung darin, dass wir als GEW-Stadtverband dieses Thema aufgegriffen haben“, zieht Barbara Sendlak-Brandt das Resümee. „Die Ergebnisse sind eindeutig: Erstens können wir die Folgen von Armut nur nachhaltig bekämpfen, wenn die Eltern kooperieren – es braucht ein Konzept, das sich an beide richtet: Kinder und ihre Eltern. Zweitens muss der Kita-Bereich stärker in den Fokus genommen und umfassend gefördert werden, wie es bei den plusKitas der Fall ist. Und drittens brauchen wir einen Sozialindex für Kita und OGS, damit dort Beschäftigte die Kinder und Jugendlichen besser erreichen können.“ Die GEW in Essen will sich  des Themas weiter annehmen. Angedacht ist unter anderem eine Folgeveranstaltung und die Gründung einer Fachgruppe Sozialpädagogik.


Denise Heidenreich
freie Journalistin

Fotos: REHvolution.de, luxuz::. / photocase.de

 

Kommentar

Einer der reichsten Staaten der Erde
darf sich keine Kinderarmut leisten!

Immer mehr Kinder in Deutschland sind arm oder von Armut bedroht. Während die Einnahmen des Staates seit Jahren kontinuierlich um zig Milliarden wachsen, müssen Familien mit Kindern gleichzeitig für jede zusätzliche Leistung komplizierte Anträge nach dem Bildungs- und Teilhabepaket stellen – um am Ende den Kindern doch nicht das geben zu können, was diese für ihre Entwicklung und Bildung brauchen. Das muss sich ändern!
Es ist ein Skandal: Um die Insolvenz der Fluggesellschaft Air Berlin zu verzögern, kann der Staat über Nacht 150 Millionen Euro lockermachen – für die Unterstützung von Kindern ist nie genug Geld da. Das können wir uns nicht länger leisten: Die Kinder von heute werden in Zukunft auch unsere Renten erwirtschaften. Für ein Leben mit allen Möglichkeiten müssen wir ihnen die besten Startmöglichkeiten geben.
Alle Kinder brauchen gebührenfreie Plätze in der Kita und in der Offenen Ganztagsschule (OGS). Die Qualität der Einrichtungen muss durch veränderte Rahmenbedingungen gesteigert werden, in erster Linie durch einen deutlich verbesserten Personalschlüssel. Alle Kinder brauchen in den Einrichtungen kostenfreie Mahlzeiten. Allen Kinder steht eine ausreichende staatliche Förderung zu, um ohne Einschränkungen an Bildungs- und Teilhabeangeboten teilnehmen zu können. Die Hürden müssen nicht nur abgebaut, sondern Angebote auch offensiv beworben werden.
Überall, wo Familien Unterstützung bei der Erziehung und der Bildung ihrer Kinder benötigen, muss die Gesellschaft diese bereitstellen. Der Staat hat die Mittel, dies durch entsprechendes Kindergeld oder ein ausreichendes Mindesteinkommen für Familien zu bezahlen. Jährlich wachsendes Vermögen der reichsten Bürger*innen und ein jährlich höheres Steueraufkommen der öffentlichen Hand entlarven jeden Einwand der fehlenden Finanzierbarkeit als Verweigerung, allen Kindern gleiche Startchancen in ihr Leben zu bieten. Die mangelhafte Investition in die Zukunft unserer Kinder ist das größte wirtschaftliche Risiko unseres Staates – übrigens auch das größte gesellschaftliche Risiko, denn die Hauptursache für Unruhen und Gewalt ist die Armut.

Lothar Freerksema
Mitglied im Leitungsteam des Referats Jugendhilfe der GEW NRW

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