Unterricht im Sinne des Wohlbefindens

Multiprofessionelle Teams in Finnland

Multiprofessionelle Teams und ein umfassendes Fördersystem gehören seit der Einführung der Gemeinschaftsschule ebenso zum finnischen Bildungsalltag wie das Ziel der stetigen Steigerung und Verbesserung hinsichtlich Wohlergehen, Gesundheit und Sicherheit aller Lernenden. Die Basis dafür bildet eine enge Kooperation zwischen Schule und Zuhause, um Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen und frühzeitig Unterstützung zu gewährleisten.

Das Kernstück finnischer Bildung stellt die Gemeinschaftsschule mit der neunjährigen Lernpflicht dar, die für SchülerInnen im Alter von sieben Jahren im internationalen Vergleich recht spät beginnt. Die Grundprinzipien der finnischen Gemeinschaftsschule spiegeln gleichzeitig ihre Bildungserfolge wider:

  • Wohlergehen und Gleichwertigkeit als obers-tes Bildungsziel
  • Vertrauenskultur basierend auf Respekt und Wertschätzung
  • gemeinsamer Lernweg von Klasse 1 bis 9
  • Wertschätzung des Lehrberufes
  • interne und externe Evaluation
  • schulinterne und -externe multiprofessionelle Netzwerke
  • individuelle Lernprozesse und Förderung im Fokus
  • Lehrmittelfreiheit

Multiprofessionelle Lernbetreuung

Eine gute materielle Ausstattung und generell mit einem Master qualifizierte Lehrkräfte schaffen in der Gemeinschaftsschule gute Rahmenbedingungen für schulische Lernprozesse. Zentrales Element bei der Umsetzung der bildungspolitischen Ziele sind jedoch die multiprofessionellen Netzwerke der LernerInnen-/Lernbetreuung, die laut OECD zu den finnischen Lernerfolgen beitragen. Multiprofessionelle Fachkräfte wie SonderpädagogInnen, die in den Kollegien der Gemeinschaftsschulen einen Anteil von etwa 13 Prozent ausmachen, gehören für alle LernerInnen ab der ersten Klasse immer dazu.  Ab Klasse 7 gibt es eine Lehrperson, die als OPO bezeichnet wird – ein Akronym für opinto-ohjaaja, was übersetzt Schullaufbahn- oder SchullernberaterIn bedeutet. Sie ist für die individuelle Beratung der schulischen Laufbahn wie Lernberatung zuständig. Unterstützend und je nach Bedarf werden LehrerInnen außerdem SchulbetreuerInnen zur Seite gestellt. Ihre Anzahl regelt sich nach den Ressourcen der Kommune und Einrichtung.
Um das physische, psychische wie soziale Wohlergehen kümmern sich neben dem Lehrpersonal Fachkräfte wie SchulgesundheitspflegerInnen, SchulsozialarbeiterInnen und SchulpsychologInnen. Gemeinsam mit der Schulleitung und gegebenenfalls mit anderen Personen sind sie für die LernerInnen- /Lernbetreuung verantwortlich, die vier Ebenen umfasst:

  • Nationale Ebene: Am 1. August 2014 trat ein neues Gesetz in Kraft, das die LernerInnen- /Lernbetreuung regelt und in die neuen Rahmenlehrpläne ab 1. August 2016 einging.
  • Kommunale Ebene: Ein Lenkungsausschuss plant, entwickelt und evaluiert die Strategien sämtlicher Dienstleistungen, die für die LernerInnen- /Lernbetreuung erforderlich sind.
  • Schulische Ebene: Ein schulinternes Team –
  • das LB-Team – sorgt für die Entwicklung, die Bereitstellung und die Evaluation eines schulinternen Handlungsplans für die LernerInnen-/Lernbetreuung hinsichtlich Gesundheit, Wohlergehen und Sicherheit.
  • Individuelle Ebene: Ein von jeder und jedem einzelnen Lernenden nach eigenen Wünschen zusammengesetztes LB-Team erstellt einen individuellen Plan, um Wohlergehen, Gesundheit und Sicherheit des jeweiligen Lernenden bereitzustellen und zu sichern.

Abbildung 1 zeigt eine von vielen möglichen Varianten eines schulinternen gemeinschaftlichen LB-Teams, das sich regelmäßig trifft. Teamsitzungen werden protokolliert und online veröffentlicht. Nicht einzelne Lernende stehen hier auf der Agenda, sondern Themen: Wie kann Mobbing und Gewalt vorgebeugt werden? Wie kann Gesundheit im Lernumfeld gefördert werden? Wie gelingt die Kooperation mit außerschulischen Akteuren, zum Beispiel mit der Kirche oder der Polizei? Wie kann ein reibungsloser Übergang von einer Bildungsstufe zur anderen gewährleistet werden?

Ein Recht auf Wohlergehen

Das Wohlergehen der Lernenden ist dabei stets die übergeordnete Zielsetzung in der finnischen Gemeinschaftsschule. Es ist zentrale Aufgabe aller und bedarf einer gemeinsamen Handlungskultur. Sobald das Wohl einer oder eines Lernenden gefährdet ist, entwickelt ein multiprofessionelles Fachteam – das MAR-OHR-Team (finnisch, abgekürzt) – individuelle Beratungswege. Vertraulichkeit und Geheimhaltung sind dabei ebenso unverzichtbar wie sofortiges Eingreifen. Laut Gesetz muss innerhalb von sieben Tagen – gegebenenfalls auch sofort – die Umsetzung der Maßnahmen erfolgen. Die Lernenden müssen allen Schritten schriftlich zustimmen und entscheiden ferner darüber, ob ihre Erziehungsberechtigten informiert werden sollen. Sie können jedoch ihre Zustimmung nicht verweigern. Die Maßnahmen sind von Fall zu Fall, auch unter Berücksichtigung der rechtlichen Situation, unterschiedlich und werden vollständig dokumentiert.

Förderung und Ressourcenorientierung

Während die LernerInnen-/Lernbetreuung auf Wohlergehen, Sicherheit und Gesundheit der Lernenden fokussiert ist, unterstützt das finnische Fördersystem – eine tragende Säule des holistischen Bildungsansatzes – das gesamte Potenzial der Lernenden hinsichtlich ihrer Lernprozesse.
Mit Gründung der Gemeinschaftsschule zwischen 1972 und 1977 hat in Finnland die Entwicklung von schulischer Integration zur Inklusion begonnen. Doch obwohl viele Sonderschulen geschlossen wurden, liegt bis heute ein sonderpädagogisches Kombinationssystem vor: Es beinhaltet differenzierte Förderunterrichtsformen in den regulären Gemeinschaftsschulen und lässt gleichzeitig die Existenz spezieller Schulen zum Beispiel für Sehbehinderte oder LernerInnen mit neurologischen Behinderungen zu.
Die unvermeidliche Heterogenität der Lerngruppen in der Gemeinschaftsschule, die keine Leistungsdifferenzierung vorsieht, und die Reformen des Förderunterrichts ab Ende der 1980er Jahre haben dazu geführt, dass LehrerInnen in Finnland ihre pädagogische Haltung verändern mussten. Der bis dahin negativ konnotierte Begriff Sonderpädagogik wurde neu definiert. Nicht die Schwierigkeiten und Defizite der Lernenden sollten betont werden, sondern vielmehr ihre Fähigkeiten und individuellen Bedürfnisse – eine Entwicklung weg von der Defizitorientierung, hin zu einer Ressourcenorientierung mit Fokus auf individuelle Lernprozesse. Diese pädagogische Haltung hat sich inzwischen durchgesetzt.
Typisch für den holistischen Bildungsansatz ist, dass sich die LernerInnen-/Lernbetreuung und das Fördersystem wie ein roter Faden von der frühkindlichen Erziehung über den Vorschulunterricht und die Gemeinschaftsschule bis hin zum Abschluss der gymnasialen oder beruflichen Oberstufe ziehen. Das dreistufige Fördersystem bildet dabei die Basis (vgl. Abbildung 2). Es beginnt bei der allgemeinen Förderung, die auf einer pädagogischen Einschätzung beruht. Allgemeine Förderung fordert verstärkt alle Lehrkräfte auf, die Lernenden zu beobachten, Förderbedarf zu erkennen und notwendige pädagogische Maßnahmen zunächst selbst zu entwickeln – zum Beispiel differenzierte Aufgaben, Nachhilfe, anderes Lehrmaterial oder mehr Zeit . Zeitweilig können auch SchulbetreuerInnen oder SonderpädagogInnen inner- und außerhalb des Unterrichts mitarbeiten.
Sofern die erste Stufe der Förderung nicht greift, folgt – ebenfalls auf Basis einer pädagogischen Einschätzung – die intensivierte Förderung, bei der die Zusammenarbeit zwischen LernerIn, Lehrperson und Förderlehrpersonen verstärkt wird. Gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten wird ein individueller Lernplan für ein Fach oder mehrere Fächer erstellt, der sich am Rahmenlehrplan orientiert. Je nach Bedarf nehmen die Lernenden am normalen Unterricht teil oder werden zeitweilig in einer Kleingruppe von SonderpädagogInnen unterrichtet.
Erst wenn intensivierte Förderung erfolglos bleibt, setzt die spezielle Förderung ein. Ihr müssen multiprofessionelle, pädagogische Klärungen und administrative Beschlüsse vorausgehen. SonderpädagogIn und LehrerIn erstellen in Kooperation mit den Erziehungsberechtigten einen individuellen, an den allgemeinen Rahmenlehrplänen orientierten Lernplan – kurz:  HOJKS (finnisch) –,
 der regelmäßig überprüft werden muss. Wie auch in den beiden anderen Förderstufen muss der gesamte Prozess schriftlich dokumentiert werden und Lernende sowie Erziehungsberechtigte sind immer involviert. Grundsätzlich bezieht sich Förderung in Finnland auf leistungsschwache wie auch leistungsstarke LernerInnen – künftig jedoch wird in erster Linie die Förderung begabter LernerInnen die finnische Herausforderung sein.

Dr. Petra Linderoos
Lektorin an der Universität Oulu/Finnland

Foto: REHvolution.de  / photocase.de

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