Der weite Weg zur inklusiven Schule


Bochumer Memorandum 2011 bis 2017: Inklusion

Bereits 2011 unterstrich das Bochumer Memorandums das Ziel, in den nächsten zehn Jahren 85 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf integrativ zu beschulen und die Inklusionsquote jährlich um sieben Prozent zu steigern. Davon ist NRW bis heute weit entfernt. Und das obwohl mittlerweile sehr viele SchülerInnen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf an sehr vielen Schulen und damit auch von sehr vielen Lehrkräften mit großer Selbstverständlichkeit gemeinsam unterrichtet werden.

Von den insgesamt 133.581 SchülerInnen mit einem anerkannten Förderbedarf in zumindest einem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt (SFP) besuchten im Schuljahr 2015 / 2016 in Nordrhein-Westfalen 82.312 eine Förderschule. Ausweislich des „Statistik-TELEGRAMMs 2015/16“ des Schulministeriums besuchten 51.296 SchülerInnen mit SFP eine Schule des Gemeinsamen Lernens. Dies sind 38,4 Prozent dieser SchülerInnengruppe und ihr Anteil ist gegenüber dem Vorjahr um 3,8 Prozent gestiegen.

Auffälligkeiten und Unterschiede

Allerdings sind die Werte in den verschiedenen Schulstufen und auch in den verschiedenen Schularten sehr unterschiedlich. Im Grundschulbereich sind es 41,3 Prozent, in der Sekundarstufe I 36 Prozent und in der Sekundarstufe II 43,5 Prozent der SchülerInnen mit SFP, die eine Schule außerhalb des Förderschulsystems besuchen. Der isolierte Blick auf diese Werte verdeckt jedoch die sehr unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Schulstufen.
So hat sich die Zahl der GrundschülerInnen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf seit 2006 etwa verdoppelt, während sie im gleichen Zeitraum in der Sekundarstufe I um gut das sechsfache und in der Sekundarstufe II um das 1,5-fache gestiegen ist. Insbesondere in den Schulen der Sekundarstufe I ist also die Zahl der SchülerInnen mit SFP deutlich überproportional gestiegen. Hier lässt sich bei aller Vorsicht der Interpretation feststellen, dass der berüchtigte Trichtereffekt des Übergangs zwar immer noch vorhanden ist, dass er sich aber vor allem zwischen der Grundschule und der Sekundarstufe I abschwächt. Damit lässt sich unterstellen, dass die Zahl der SchülerInnen, die innerhalb inklusiver Settings den Wechsel der Schulstufen absolvieren, deutlich angestiegen ist. Diese Entwicklung kommt dem Leistungsziel näher, das das Bochumer Memorandum 2011 als „vorläufig wichtigstes“ formulierte, nämlich „dass alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eine Grundschule besuchen, auch in der Sekundarstufe ihre Schullaufbahn integrativ – das heißt auf der allgemeinen Schule –
weiterführen können“.
Der Anteil der SchülerInnen mit SFP differiert allerdings nicht nur zwischen den einzelnen Schulstufen, sondern auch in den verschiedenen Schulformen. Nach wie vor eröffnen neben den Grundschulen vor allem die Haupt-, Gesamt- und Sekundarschulen SchülerInnen mit SFP die Möglichkeit des Gemeinsamen Lernens und insbesondere an Haupt- und Sekundarschulen werden überproportional viele SchülerInnen mit SFP unterrichtet. So hatten im Schuljahr 2015 / 2016 etwa 3 Prozent aller GrundschülerInnen einen SFP. In der Sekundarsufe I sinkt dieser Anteil auf etwa 2,5 Prozent. Allerdings sind die Unterschiede bei den Schulformen beträchtlich: Er liegt zwischen etwa 8 Prozent an den Hauptschulen, 7 Prozent an den Sekundarschulen und 3,5 Prozent an den Gesamtschulen. In den Realschulen liegt dieser Anteil bei 1,65 Prozent und bei 0,33 Prozent an den Gymnasien. 4.192 SchülerInnen mit SFP besuchen in der Sekundarstufe II Schulen außerhalb des Förderschulsystems. Von diesen besuchen allerdings nur 291 die gymnasialen Oberstufen.

Widersprüchliche Zielsetzungen

Auch wenn festzuhalten bleibt, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allen Schulstufen und Schulformen deutlich gestiegen ist, entsprechen diese Zahlen bei weitem noch nicht den Forderungen des Bochumer Memorandums. Zugleich werden widersprüchliche Entwicklungen deutlich, die das Ziel eines inklusiven Schulsystems fraglich erscheinen lassen.
So zeigt der sehr unterschiedliche Anteil von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den verschiedenen Schulformen auch, dass die Bereitschaft, sich dem Gemeinsamen Lernen zu öffnen, in starkem Maße schulform-abhängig ist. In Verbindung mit der Entwicklung hin zu einem zweigliedrigen Schulsystem kann damit festgestellt werden: In NRW entwickelt sich auf der einen Seite ein inklusives Schulsystem, dem ein tendenziell exklusives System von Gymnasien (und Förderschulen) entgegensteht.
Hinzu kommt, dass der statistische Durchschnittswert die beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen und Regionen verdeckt. Die Statistik bildet nicht ab, in welchem Umfang festgestellte Förderbedarfe während der Schulzeit wieder aufgehoben werden. Insbesondere vor dem Wechsel der Schulstufen oder vor der Abschlussvergabe geschieht dies erfahrungsgemäß in größerem Umfang insbesondere bei zieldifferent unterrichteten SchülerInnen, um ihnen die Chance auf qualifizierte Abschlüsse zu ermöglichen. In der gymnasialen Oberstufe ist außerdem die Bedeutung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs oft nicht recht ersichtlich.

Qualität bleibt auf der Strecke

Vor allem verliert aber das Kriterium des festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarfs in zunehmendem Maße seine Aussagekraft. Bedingt durch die Änderungen der entsprechenden Vorschriften zur Feststellung, sowie durch den veränderten Stellenwert der individuellen Förderung und der Gewährung von Nachteilsausgleichen ist es in zunehmendem Maße – im Bereich der Schulen des Gemeinsamen Lernens – von sehr vielfältigen Faktoren abhängig, ob ein Förderbedarf überhaupt festgestellt wird oder nicht. Diese Entwicklung ist einerseits gewünscht und wird unterstützt, indem beispielsweise im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen mit der Feststellung des Förderbedarfs keine Ressourcenzuweisung erfolgen soll. In diese Richtung geht auch die deutliche Stärkung des Elternwillens.
Allerdings sind die entsprechenden Entwicklungen widersprüchlich, da nach wie vor der gemäß AO-SF bestätigte Förderbedarf für die SchülerInnenaufnahme und für die Zuweisung von Ressourcen das entscheidende Kriterium darstellt. Das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma bleibt bestehen. Insgesamt ist die Entwicklung für die Schulen derzeit mit einem beträchtlichen Anwachsen von Bürokratie verbunden. Hinzu kommt die offenkundig sehr ungleichmäßige und zum Teil auch schwer nachvollziehbare Zuweisung von LehrerInnen für Sonderpädagogik. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage nach der eigentlichen Aufgabe dieser Lehrkräfte, die in der Diskussion oft verzerrt dargestellt wird. Ähnlich unklar ist die Frage nach den Aufgaben der vielen SchulbegleiterInnen, die eine unzureichende Unterrichtsversorgung, aber auch Probleme der Unterrichtsgestaltung ausgleichen sollen.
Zudem gibt es viele Schulen, die Inklusion notgedrungen für sich jeweils neu erfinden müssen, weil die Erfahrungen fehlen, weil die Zuweisung der Lehrkräfte unangemessen ist und weil Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten offenkundig nicht so greifen, wie es gewünscht ist.  
Inklusion ist nicht nur eine Zahlenfrage
Grundsätzlich lässt sich die Frage nach der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems nur bedingt quantitativ abbilden. Ein inklusives Bildungssystem lässt sich nicht auf Fragen der Platzierung von SchülerInnen reduzieren, denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugewiesen wurde. Vielmehr muss sich dieses System an der Fähigkeit messen lassen, Lernende mit generell unterschiedlichen Vorerfahrungen angemessen aufzunehmen. So ist auch die Zuweisung und Aufnahme von neu zugewanderten und schutz-
suchenden Kindern als Aufgabe inklusiver Bildung zu betrachten, ohne dass dies in der bisherigen Diskussion und auch in der bisherigen Fassung des Bochumer Memorandums angemessen berücksichtigt wird.
 Bewegungen in Richtung der 2011 formulierten Forderungen für ein inklusives Bildungssystem sind erkennbar, auch wenn diese in Zahlen weit hinter den damals formulierten Zielen zurückbleiben. Eine genauere Betrachtung der Zahlen zeigt aber auch, dass nicht nur insgesamt mehr SchülerInnen mit einem SFP allgemeine Schulen besuchen sollten, sondern dass es beispielsweise auch darum gehen muss, sie verstärkt an der Vielfalt des Bildungssystems und an der Vergabe höherer Bildungsabschlüsse partizipieren zu lassen. Insbesondere die stark unterschiedlichen Zahlen der SchülerInnen mit SFP an verschiedenen Schulformen zeigen deutlich, dass nicht von der Entwicklung des gesamten Bildungssystems in Richtung Inklusion gesprochen werden kann.
Speziell in Bezug auf das Bochumer Memorandum muss festgestellt werden, dass sich die inklusive Schule nicht nur durch die Zahl der SchülerInnen mit SFP auszeichnet, sondern dass diese Entwicklungen dringend mit den Fragen nach einer Bildungsbeteiligung in Abhängigkeit von sozialer Herkunft, der Zugänglichkeit von Bildungseinrichtungen für geflüchtete und schutzsuchende Lernende und der Alternativen zum „Sitzenbleiben“ verzahnt werden müssen. Es bedarf insofern nicht nur ansteigender Zahlen.

Dr. Michael Schwager, Abteilungsleiter an der Gesamtschule Köln-Holweide

Prof. Dr. Andrea Platte, Studiengangsleiterin B.A. Pädagogik der Kindheit und Familienbildung an der Technischen Hochschule Köln

Foto: bit.it / photocase.de

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