Der Unmut wächst

Lehrkräftebedarf, Abordnungen und Versetzungen im Gemeinsamen Lernen

Das Land NRW hält für die Förderung der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zwei parallel bestehende Fördersysteme vor: das Gemeinsame Lernen und die Förderschulen. Die verfügbaren Stellen reichen jedoch nicht aus, um den Lehrerbedarf in beiden Systemen zu decken. Abordnungen und Versetzungen gehen vor allem zulasten der Förderschulen.

Während in den Förderschulen der Personalbedarf nach einer LehrerInnen-SchülerInnen-Relation festgelegt wird, wendet das Land im Gemeinsamen Lernen zwei Berechnungsarten an:
Für die drei Förderschwerpunkte Lernen, Emotionale-soziale Entwicklung und Sprache gibt es das Stellenbudget für Lern- und Entwicklungsstörungen (LES). Die Personalzuweisung an die Einzelschule erfolgt also nicht mehr nach einer LehrerInnen-SchülerInnen-Relation, sondern wird ersetzt durch eine dauerhaft  bereitgestellte Unterstützung durch Lehrkräfte für Sonderpädagogik. Gedacht ist hier an eine verlässliche, systemische Ressource für eine lernprozessbezogene Diagnostik, für Förderplanung und für Förderung. Die Schulämter erhalten ein Stellenbudget für die sonderpädagogische  Förderung in den Grundschulen, in der Sekundarstufe I und in den Förderschulen Lernen, Emotionale-soziale Entwicklung und Sprache. Nachdem die Förderschulen aus diesem Budget nach der LehrerInnen-SchülerInnen-Relation versorgt sind, sollen die verbleibenden Stellen des Budgets hälftig den Grundschulen und der Sekundarstufe I zugewiesen werden, wobei die Grundschulen mindestens eine halbe Stelle pro Zug, die Sekundarstufenschulen mindestens eine Stelle pro Zug erhalten sollen.
Für die Förderschwerpunkte Sehen, Hören, Körperlich-motorische Entwicklung und Geistige Entwicklung erfolgt die Zuweisung  von Lehrkräften für Sonderpädagogik auch im Gemeinsamen Lernen nach der entsprechenden LehrerInnen-SchülerInnen-Relation der Förderschule.

Stellenbudget LES ist unzureichend und nicht bedarfsgerecht

Das Stellenbudget LES ist auf der Grundlage des sonderpädagogischen Personalbedarfs des Schuljahres 2012 / 2013 festgeschrieben. Es beinhaltet deutlich zu wenig Stellen, um die Doppelstruktur aus Förderschule und Gemeinsamem Lernen in NRW ausreichend mit Lehrkräften zu versorgen und eine verlässliche sonderpädagogische Grundausstattung für den Förderbereich LES zu gewährleisten. Auch die erlassmäßig vorgegebenen Maßstäbe der Verteilung können nicht eingehalten werden. Stattdessen wird die Personalzuweisung im Gemeinsamen Lernen in Regionalkonferenzen der Schulaufsicht mit den Schulen ausgehandelt.
Bildungsforscher Prof. Dr. Klaus Klemm hat frühzeitig darauf hingewiesen, dass die Doppelstruktur zusätzliche Personalkosten verursacht und nicht allein mit dem Personalbedarf der Förderschulen aus dem Schuljahr 2012 / 2013 finanziert werden kann. Die GEW NRW fordert 7.000 zusätzliche Stellen für das Gemeinsame Lernen.
Das Stellenbudget LES geht in seiner Berechnungsgrundlage von einer konstanten beziehungsweise abnehmenden Förderquote aus. Entgegen dieser Annahme steigt die Förderquote in NRW jedoch und damit auch der tatsächliche Bedarf an Lehrkräften für sonderpädagogische Förderung. Die Schulen des Gemeinsamen Lernens erhalten so trotz wachsender Bedarfe weniger Mittel – das auch, weil die Förderschulen gemäß den Vorgaben des Stellenbudgets LES primär versorgt werden.

Steigerung der Inklusionsquote wird zum Qualitätsproblem

Die gegenwärtige Steuerung der Inklusion hat primär die Steigerung der Inklusionsquote in NRW zum Ziel. Jede Verbesserung der Quote führt jedoch zu einem zusätzlichen Lehrerbedarf im Gemeinsamen Lernen, der nur gewährt werden kann, wenn an anderer Stelle abgegeben wird. Rückmeldungen von Lehrkräften machen deutlich, dass unter dieser Zielsetzung das Gemeinsame Lernen nicht adäquat qualitativ umgesetzt werden kann. Lehrkräfte der allgemeinen Schule müssen oft ohne sonderpädagogische Unterstützung zurechtkommen. Lehrkräfte für Sonderpädagogik können die mangelhafte Förderung nicht mehr verantworten und möchten deswegen nicht weiter im Gemeinsamen Lernen arbeiten. Eine zunehmende Anzahl von Eltern bricht die Förderung ihrer Kinder im Gemeinsamen Lernen ab.
Im Haushalt des Landes NRW werden aktuell vermehrt Stellen bereitgestellt. Sie können jedoch wegen des systemischen Lehrkräftemangels nicht durch ausgebildete LehrerInnen für Sonderpädagogik besetzt werden. Gegenwärtig sind an den Förderschulen die besetzten Stellen zu 87 Prozent mit sonderpädagogisch ausgebildetem Personal besetzt, im Gemeinsamen Lernen in den Grundschulen  zu 79 Prozent, in der Sekundarstufe I zu 91 Prozent. Von einer Besetzung der Stellen für Sonderpädagogik nach Fachlichkeit in Bezug auf die Förderbereiche der SchülerInnen hat sich das Land im Gemeinsamen Lernen weitgehend verabschiedet. Es wird erwartet, dass die Lehrkräfte in allen Förderbereichen fachlich qualifiziert unterrichten – auch dann, wenn sie nicht dafür ausgebildet sind.

Abordnungen und Versetzungen gehen zulasten der Förderschulen

Bereits die Online-Umfrage der GEW NRW in 2015 hat ergeben, dass aus annähernd 90 Prozent der befragten Förderschulen Lehrkräfte in das Gemeinsame Lernen abgeordnet oder versetzt worden sind. Im Mittel sind in den Förderschulen im Bereich LES vier Lehrkräfte von Abordnungen betroffen. In den Schulen der anderen Förderbereiche ist im Durchschnitt mindestens eine Lehrkraft abgeordnet. Annähernd
50 Prozent der Förderschulen geben an, dass Abordnungen und Versetzungen zulasten der Lehrerversorgung an den Schulen gehen. Annähernd 80 Prozent dieser Schulen geben an, dass sie ihr Förderangebot verändern mussten. 45 Prozent mussten die Klassen vergrößern.
Hier wird deutlich: Die Förderschulen werden als ein „Reservoir“ genutzt, um die Lehrer-bedarfe im Gemeinsamen Lernen abzudecken. Die Förderschulen sind nicht mehr bereit, wegen einer extensiven Abordnungspraxis die eigenen Förderbedingungen zu verschlechtern. Es wird der Ruf laut: „Wer sichert die Qualität der Förderung in den Förderschulen?“
Selbst Förderschulen, die unterbesetzt sind, sollen noch Lehrkräfte in das Gemeinsame Lernen abordnen. In einzelnen Regierungsbezirken haben sich deswegen die Personalräte darauf verständigt, dass nur dann Abordnungen und Versetzungen eingeleitet werden, wenn die Schulen vollständig besetzt sind. Es sind auch Regelungen getroffen worden, wann bei einer bezirksweiten Unterbesetzung in den Förderschulen noch abgeordnet oder versetzt werden kann. Indem man die Bedarfe in den Förderschulen und im Gemeinsamen Lernen in Bezug setzt zu der leistbaren Bedarfserfüllung, wird ein Prozentsatz ermittelt. Nach diesem Wert werden dann beide Orte der sonderpädagogischen Förderung gleich besetzt. Der Lehrermangel wird hier quasi „gerecht“ verteilt.
Die Schulen mit den Förderschwerpunkten Sehen, Hören, Körperlich-motorische Entwicklung und Geistige Entwicklung ordnen zur Förderung der SchülerInnen mit diesen Förderschwerpunkten Lehrkräfte in das Gemeinsame Lernen ab. Es ist jedoch festzustellen, dass mit zunehmender Tendenz Lehrkräfte dieser Schulen auch zur Erfüllung des Stellenbudgets LES abgeordnet werden. Das führt regelmäßig zu einer Arbeitsverdichtung an den betroffenen Förderschulen. Diese Praxis muss beendet und für eine ausreichende Versorgung des Stellenbudgets LES gesorgt werden!
Die Anwendung der einheitlichen LehrerInnen-SchülerInnen-Relation für LES in Höhe von 1:9,92 auch in den Schulen für Emotionale-soziale Entwicklung macht eine Veränderung des Förderangebotes und eine Vergrößerung der Klassen notwendig. Die Schulen stellen dar, dass die neue Berechnungsgrundlage zu einer Reduzierung des Unterstützungsangebotes von mindestens 20 Prozent führt. Das führt dann auch zu einer Arbeitsverdichtung von ebenfalls 20 Prozent für die Lehrkräfte, die unter den alten Bedingungen schon häufig an der Grenze ihrer Belastbarkeit gearbeitet haben. Außerdem beklagen die Lehrkräfte, dass die Schülerschaft in ihren Förderschulen insgesamt schwieriger wird, da die „leichteren“ Fälle im Gemeinsamen Lernen beschult werden. Bei den verbleibenden SchülerInnen handelt es sich größtenteils um intensivpädagogisch zu fördernde Kinder und Jugendliche. In diesen Schulen geht es vorwiegend darum, trotz der verschlechterten Rahmenbedingungen das hoch spezialisierte Unterstützungsangebot für die SchülerInnen und salutogene Arbeitsbedingungen für die Lehrkräfte zu sichern.  

Qualität sonderpädagogischer Förderung entwickeln und sichern

Das Stellenbudget LES ist nicht ausreichend bemessen, um dem tatsächlichen Bedarf an Lehrkräften für Sonderpädagogik gerecht werden zu können. Zudem stehen auch nicht genügend ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung.
In der Mülheimer Erklärung fordert die GEW NRW zusammen mit anderen Verbänden die Entwicklung und Sicherung der Qualität sonderpädagogischer Förderung in Schulen des Gemeinsamen Lernens und eine deutlich verbesserte Steuerung. „Um qualitativ gutes gemeinsames Lernen auch weiterhin zu ermöglichen, benötigen die Schulen des gemeinsamen Lernens deutlich mehr Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung, kleine Klassen, ein erweitertes Angebot an Fortbildungen für die Lehrkräfte, eine dem Bedarf angepasste räumliche und materielle Ausstattung und mehr Zeitressourcen für Absprachen und Vorbereitung.“ 

Gerd Weidemann, Leitungsteam der Kommission Inklusion der GEW NRW

Ulrich Benus, Leitungsteam der FachgruppeSonderpädagogische Berufeder GEW NRW

Foto: eatcute / fotolia.com

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